Mit seinem „Appell für Europa“ in der SZ vom Wochenende (Paywall) setzt Jürgen Habermas die Reihe seiner spätestens seit dem Ukrainekrieg eher durchwachsenen politisch-zeitgeschichtlichen Einlassungen fort. Der gute und richtige Gedanke in seinem Text ist, dass Europa spätestens nach der offensichtlichen Spaltung des Westens durch den Trumpismus geopolitisch auf sich alleine gestellt ist und deshalb bei Strafe seiner Marginalisierung politisch und auch militärisch einig und stark reagieren muss.
Dieser richtige Gedanke ist bei Habermas allerdings in einen ziemlichen Impressionismus von Gegenwartsbeschreibungen, zeitgeschichtlichen Rückblicken. und – ja auch – Verdrängungsversuchen von Zusammenhängen eingelassen. Er kritisiert Merkel und Schäuble auf Schärfste dafür, dass sie die europäische Einigung nicht stärker vorangetrieben haben, übersieht jedoch, dass es vor allem Habermas eigene SPD war, die mit Schröder die deutsche Europa-Ignoranz einleitete und sie dann mit Kanzler Scholz fortführte. Es war deshalb auch nicht „die Ampel“, die hier auf der Bremse stand, sondern genau jene Scholz-SPD, die in den letzten 27 Jahren 23 Jahre mitregierte und mit Außenministern wie Steinmeier, Gabriel und Maas die großen Fehler der deutschen Außenpolitik maßgeblich mitverantwortet. Weil die Aufarbeitung dieser sozialdemokratischen Politik, die Habermas von der philosophischen Seitenlinie selbst weitgehend mitgetragen hat, weitgehend fehlt, auch darum ist sein Text so unentschieden und mäandernd.
Schließlich zeigt sich in diesem Text leider auch Habermas grundlegenderer Mangel am „Gusto“ für das Politische. Er hat zwar recht, dass es jetzt ganz zentral auch um Europa geht und nicht (bloß?) um die Ukraine. Aber er sieht nicht, dass die konkrete Gefahr, die mit dem Ukrainekrieg verbunden ist, die wichtige aktuelle Triebkraft für diesen Einigungsprozess ist. Große politische Schritte – zum Beispiel auch europäische Verfassungen – kommen eben nicht als Kopfgeburten zustande, sondern meist nur unter immensem Handlungsdruck. Aufgrund seiner ziemlich großen Ferne zur konkreten Politik bietet Habermas Text deshalb wenig Orientierung in dieser zugegebenermaßen ziemlich unübersichtlichen Zeit.
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