Oder das US-Oberkommando über die Kriegsführung der Ukraine – Eine in Wiesbaden gesponnene Tötungskette
„Wir sind Teil der Tötungskette“. So wurde die enge „Partnerschaft“ zwischen den USA, im weiteren Sinn der Nato und der Ukraine in der New York Times vom 29. März 2025 beschrieben. Der Artikel nimmt für sich in Anspruch, nunmehr die „wahre“ Geschichte der militärischen Beteiligung der USA am Ukraine-Krieg zu erzählen, lang und breit. Seine Überschrift lautet: „Die geheime Geschichte des Krieges in der Ukraine – Die Partnerschaft“ (Bezahlschranke). Ab Mitte April 2022 wurde diese „Partnerschaft” in Wiesbaden aus der Taufe gehoben. Ihr militärischer Name: Task-Force „Drache“. Sie sei eines der „bestgehüteten Geheimnisse“ dieses Kriegs gewesen, die „geheime Waffe“ gegen Russland.
Der Kerngedanke des Artikels ist kurz erzählt: Die USA (und alliierte Verbündete) gaben in diesem Krieg mit Ausnahme vom soldatischen Fussvolk alles dafür, damit die Ukraine militärisch gegen Russland gewinnt: Geld, Waffen und durch die Übernahme des Oberkommandos über die Kriegsführung. Dass der Krieg dennoch verloren ging, liegt allein an den Ukrainern. Hätten die mal alles so gemacht, wie die USA planten und sich nicht in internen Querelen verloren. Hätten die nur die ab 18 Jahren an die Front geschickt. Wären diese Ukrainer doch nicht so eigensinnig gewesen.
Laut New York Times lag das tatsächliche Kommando über die ukrainischen Streitkräfte, alle Planungen einschließlich der auszuwählenden Ziele in den Händen der USA. Die Ukrainer sollten alles so machen, wie im „Drachen“ ausbaldowert (was sie aber nicht immer taten). Das geht weit über den üblichen Charakter eines traditionellen Stellvertreterkriegs hinaus. Der „Drache“ als Partnerschaft und Team verbrämt, offenbart ein verdecktes militärisches Kräftemessen zwischen den USA und Russland. Früher galten derartige russische Vermutungen bzw. Anschuldigungen als Desinformation. Nun ist es doch keine. Das ist ein Mehrwert dieses Artikels.
Wieso sind die nicht an der Front?
Der zweite Mehrwert dieses Artikels liegt darin, dass er die kühle, regelrecht sadistische Logik kriegerischen Denkens offenlegt. Er ist gespickt mit Zitaten und Kommentaren, die allein von der Sorge getragen sind, dass die Kriegsmaschine mit menschlichem Leben, in dem Fall dem der Ukrainer, gefüttert werden muss, um rund zu laufen. Wieso sind die knapp über 20-jährigen nicht an der Front, fragte der US-Verteidigungsminister Austin, als er während einer Autofahrt durch Kiew noch junge Menschen ohne Uniform auf den Straßen sah. Die hohe Zahl der Kriegstoten und Verwundeten (über 1 Million) liest sich wie eine Erfolgsbilanz. Schließlich sind angeblich überwiegend Russen gestorben.
An Austins Bemerkung erkennt man, dass Russland – wie zu erwarten – klar übertrieb, wenn es den USA eine Schlacht „bis zum letzten Ukrainer“ unterstellte. Auf die kleinen Kinder hatte es Austin nicht abgesehen. Nur auf alle übrigen.
Die ganze lange Geschichte in der New York Times ist fast filmreif geschrieben. Sie wird von edlen, aufrechten Militärs bevölkert, die sich Treue und wechselseitiges Vertrauen schwören, um den Sieg nach Hause zu tragen. Hinzu kommen namenlose alliierte Verbündete: aus Polen, Großbritannien, Kanada. Und selbstverständlich die CIA. Deutsche scheinen im „Drachen“ nicht präsent gewesen zu sein, jedenfalls nicht handlungsentscheidend.
Weder der ukrainische Präsident noch die beiden Oberkommandierenden der ukrainischen Armee sind die Hauptprotagonisten im Skript. Die störten laut Artikel nur die Harmonie des „Drachen”. Der ukrainische Hauptheld heißt Mischa, eigentlich General Mychajlo Sabrodskyj. Als er Verbindungsmann im „Drachen“ wurde, hatte er keinerlei offizielle militärische Befugnis in der Ukraine. Dann wurde er Stellvertreter von Saluschnyj. Inzwischen ist er wieder ausrangiert. Man sieht Kit Klarenberg mit seinen traurigen Augen regelrecht vor sich, wie er in dessen Rolle schlüpft.
Auf der anderen, der US-Seite, tummelte sich alles, was Rang und Namen hat, von Austin, über Milley und Cavoli bis hin zu General Donahue. Allesamt haben nur gute Absichten. Sie sind voller Finesse und erfahren, wie man Terroristen tötet (General Donahue). Das männliche Who`s Who von Hollywood würde nach diesen Rollen lechzen.
Im Skript gibt es keine gegnerischen russischen Schurken. Die sind nur Statisten am Rand, und das wären sie auch geblieben, weil sie ja besiegt worden wären, hätten die Ukrainer nicht alles versaut. Das einzige Problem, das einer Hollywoodverfilmung entgegensteht, sind die Frauenrollen. Denn der „Drache“ ist rein männlich bestückt. Solange also nicht mindestens ein, zwei oder drei der US-Hauptprotagonisten entdecken, dass sie im falschen Körper stecken, wird es wohl beim langen Sermon der New York Times bleiben.
Das ist ausgesprochen schade, denn mich hätte schon interessiert, wie sich die völlig absurden Diskussionen im „Drachen“ auf der Leinwand ausgenommen hätten. Die US-Seite lieferte Zieldaten für ukrainische Angriffe, will sie aber so nicht nennen. Selbst im Geheimbund „Drache“ war das doch etwas zu viel an Wahrheit. Also wurde ein Code benutzt: Zieldaten mutierten zu „Punkten von Interesse“ bzw. im Luftraum zu „Spuren von Interesse“. Das klingt so viel harmloser, war, so die Schlauköpfe im „Drachen“, abstreitbar. Nein, Zieldaten wurden nie geliefert. Nie. Was ist das: Schizophrenie oder noch Schlimmeres? Wer derartige logische Glaubensknoten entwickeln kann, ist gewiss nicht gesund.
Und wenn die Ukrainer dann einen speziellen „Punkt von Interesse“, in einem Fall beispielsweise die „Moskwa“, plötzlich in die ewigen Jagdgründe verfrachtete, also im Schwarzen Meer versenkte, dann stand alles Kopf. So war das nicht gemeint. Oder doch?
Schritt für Schritt eskalierte der „Drache“, ganz wie Clausewitz die Kriegsnatur beschrieb. Da wurden sogenannte „Operations-Boxen“ aufgemacht, erst in der Ukraine, Angriffe auf die Krim und die Krimbrücke geplant, dann auch ein bisschen auf russisches Territorium und dann auf noch auf sehr viel mehr Ziele in Russland. Keiner der „Drachen“ wusste genau, ob das nun stracks in den offenen Krieg mit Russland führt bzw. direkt in einen nuklearen Schlagabtausch.
Sicherheitspolitisches va banque-Spiel erster Güte
Wie stellt man das filmisch dar, diese Mischung aus Arroganz, krimineller Energie und Risikobereitschaft, die an erweiterten Suizid grenzt? Oder würden alle am Set abwinken: So was glaubt uns doch keiner…
Im Mai 2024 wurden zwei russische Radaranlagen angegriffen und beschädigt, die Teil des nuklearen Frühwarnsystems sind. Das waren ganz sicher nur unschuldige „Punkte von Interesse“, die die heißblütigen Ukrainer mit Zieldaten verwechselten. Tatsächlich war es ein sicherheitspolitisches va banque-Spiel erster Güte.
Interessant an der Bildung des „Drachen“ ist der Zeitpunkt: Mitte April 2022. Damit suggeriert der Artikel zunächst, dass es zwischen 2014 und 2022 keine enge militärische Zusammenarbeit zwischen den USA und der Ukraine gab. Das Gegenteil ist richtig. Allein zwischen 2014 und 2019 hatten die USA bereits rund 1,5 Milliarden Dollar an militärischer Hilfe geleistet, auch ein Trainingszentrum aufgebaut. Laut General Ben Hodges (ehemals Nato-Oberbefehlshaber in Europa) hätten die USA viel von der Ukraine gelernt aufgrund der Kämpfe im Donbass und daraufhin ihr eigenes Training verändert. Bei NPR wurde ebenfalls ein Militäranalyst zitiert. Der betonte, wie sehr sich die ukrainische Armee nach 2014 verändert habe. Obwohl noch mit Schwächen behaftet, sei sie nun sehr viel besser vorbereitet, eine Aggression zu bekämpfen.
Menschenverursacht, menschengemacht
Das entspricht exakt der Begründung der deutschen Ex-Bundeskanzlerin Merkel, was das Ziel der Minsk-Abkommen war: Ein Zeitkauf, um die Ukraine fit zu machen für die als unabweisbar angesehene Aggression Russlands. Das ist die Parallele zu heute. Heute wird postuliert, dass eine neue Aggression Russlands ins Haus steht, so als wäre Krieg eine Art Hurrikan, der sich zusammenbraut und dann eine schwer zu kalkulierende Schneise realer Verwüstung zieht.
Aber Kriege sind politische Entscheidungen, menschenverursacht, menschengemacht. Wer heute „Kriegstüchtigkeit“ lernen soll, soll morgen mit Begeisterung sein Leben auf dem Schlachtfeld verlieren und nicht fragen, warum niemand den Krieg, und damit den eigenen Tod, verhinderte.
Aber warum formte sich der „Drache“ nicht bereits im Februar 2022, also unmittelbar nach dem Beginn der russischen Aggression? Laut Artikel „menschelte“ es zwischen den ukrainischen und US-Protagonisten. Insbesondere Mark Milley und Saluschnyj hätten keinen Draht zueinander gefunden. Beschrieben wird ein umständlicher und gleichzeitig sehr konspirativer Kommunikationsweg, um etwas so Simples wie ein Telefonat zwischen diesen beiden zustande zu bringen.
Glaubhafter ist eher, dass die Nato-Seite ursprünglich annahm, dass die Ukraine erledigt sei, wenn Russland angreifen sollte. So wurde das jedenfalls kommuniziert. Das war zwar schon wegen der geringen Truppenstärke, mit der Russland anfangs agierte, völlig unsinnig. Aber die USA gingen womöglich davon aus, dass Russland den Krieg so führen würde, wie sie selbst Krieg führen: Erst mal alles in Schutt und Asche legen, aus der Luft. Dann wird es schon werden.
Tatsächlich wurde Russland damals von westlichen militärischen Experten dafür kritisiert, dass es seine Überlegenheit in der Luft nicht konsequent genug gegen die Ukraine einsetzte.
Wer die eigene Kriegsführungsstrategie „Shock and awe“ für die einzig wahre hält, egal, wie oft sie bisher am Ende versagte (Vietnam, Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen), ist nicht flexibel im Denken. Wer Putins lange Vorträge zum Gemeinsamen in der russischen und der ukrainischen Geschichte allenfalls zum Beweis russischer Verachtung für alles Ukrainische nahm, wird sich nicht der Idee nähern, dass Russland Kiew nicht zerbomben kann. Die Kiewer Rus ist ein geschichtliches Herzstück, dass sich weder Russland, die Ukraine noch Belarus herausreißen können.
Aus heutiger Sicht spricht alles dafür, dass Russland zur völkerrechtswidrigen Aggression griff, um mit einem militärischen Paukenschlag die Verwirklichung seiner Sicherheitsinteressen zu erzwingen. Fast wäre dieses Kalkül auch aufgegangen, denn nach vier Tagen Krieg trafen sich beide Parteien bereits am Verhandlungstisch. Aber eben nur fast. Die strategische Fehleinschätzung Russlands lag darin, dass die Nato, allen voran die USA und Großbritannien, auf Kriegsverlängerung aus waren, um Russland zu schwächen. Um jeden Preis.
Im Westen wird behauptet, Russland habe an die schnelle Kapitulation der Ukraine geglaubt und sich militärisch überhoben. Doch warum liest man dann im New York Times-Artikel, dass die Ukrainer im April 2022 bei der Bildung des „Drachen“ dazu vergattert wurden, nun auf die Amis zu hören, sonst würden sie den Krieg verlieren? Warum las man zuvor in TIME (18. Januar 2025), Biden habe nie an einen militärischen Sieg der Ukraine über Russland geglaubt?
Es ist nicht ganz neu, wie seelenlos Kriegsführung ist. Auch in diesem Krieg ging es nie um hehre Werte oder gar um die Ukraine. Nicht aus US-Sicht. Es ging um Russland. Das musste niedergeschlagen werden. Russland sollte, so der damalige US-Verteidigungsminister Austin im April 2022, so geschwächt werden, dass es niemals wieder angriffsfähig sein würde. Das sei, so war in einem Artikel des US Army War College im Mai 2022 nachzulesen, die „einzige Strategie, die Russlands Fähigkeit, vitale US-Interessen zu bedrohen, zurückdrängen würde“. Da stand nichts von Freiheit, Demokratie oder Menschenrechten. Es ging um „vitale US-Interessen“.
Boris Johnson brachte es in Kiew auf der gemeinsamen Pressekonferenz am 9. April so auf den Punkt: Die Ukraine muss gewinnen, Putin verlieren. (Ab Min 8:18) Daher wurden die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im Frühling 2022 hintertrieben, die Strategie „Siegfrieden“ geboren und der „Drache“ geschaffen.
Die USA zogen das militärische Oberkommando in diesem Krieg an sich. Allein, die Ukrainer seien immer wieder und immer mehr aus der ihnen zugedachten Rolle getanzt, erwiesen sich als nicht „teamfähig“, enttäuschten das US-„Vertrauen“. Die Ukrainer hatten angeblich keine Geduld, waren immer auf der Suche nach dem schnellen, publikumswirksamen Sieg, während die USA-Militärs, so wird es jedenfalls beschrieben, ihre Mission darin sahen, der Ukraine zu helfen, zu gewinnen oder wenigstens nicht zu verlieren. So lange es eben geht. Notfalls mit allem, was die Ukraine an Mann und Maus hat. Solange keine US-Soldaten den Blutzoll zahlen, war das ein gutes Geschäft. Wenn man obendrauf noch die Naturreichtümer der Ukraine ergattern könnte, um so besser.
Es gehört zu den Eigenheiten besagten Artikels, dass der Verfasser, der bereits mit einem langen Pamphlet über die große Rolle der CIA in der Ukraine glänzte, garnicht bemerkt, dass er an einem Stück schrieb, das den Geist von „Dr. Seltsam“ atmet, nur ohne die Bissigkeit der damaligen Anti-Kriegssatire.
Der amerikanische Leithammel im „Drachen“, General Donahue hat die Statur eines Helden, wie sie, laut General Cavoli, in Comics vorkommen. Donahue geizte im April 2022 nicht mit Ermahnungen an die ukrainische Seite. „Ihr könnt soviel Slawa Ukraini mit anderen Menschen brüllen wie ihr wollt”, ist zu lesen. Und weiter: “Es interessiert mich nicht, wie mutig ihr seid. Schaut auf die Zahlen. Und dann präsentierte er einen Plan, um im Herbst auf dem Schlachtfeld einen Vorteil errungen zu haben, erinnerte sich General Sabrodskyi.“
(Im Original: Invoking their “Glory to Ukraine” battle cry, he laid down the challenge: “You can ‘Slava Ukraini’ all you want with other people. I don’t care how brave you are. Look at the numbers.” He then walked them through a plan to win a battlefield advantage by fall, General Zabrodskyi recalled.)
In Comics geht solches Gehabe gut. Da klappen alle Pläne. Im richtigen Leben, im richtigen Krieg, ist die Unterschätzung des Gegners fatal. Auch in diesem New York Times-Artikel ist nachzulesen, dass das russische Militär inkompetent ist, die russischen Geländegewinne in der Ukraine vor allem den Menschenmassen geschuldet seien, die Welle auf Welle den Ukrainern entgegenbrandeten. Daher kämen die hohen russischen Verluste, die die der Ukraine übersteigen. Kurzum, das russische Militär hatte außer der massenhaften Opferung eigener Soldaten nichts aufzubieten.
Einmal wird im Artikel der russische Befehlshaber General Surowikin erwähnt. Der soll angeblich zur Nutzung taktischer Atomwaffen geraten haben. Tatsächlich liegt sein Verdienst in etwas ganz anderem: Er setzte die russische Frontbegradigung im Herbst 2022 durch, er nannte das eine „schwierige Entscheidung“. Was als ukrainische Geländegewinne erschien, waren militärische Rückzüge der russischen Armee. Die waren politisch heikel, aber militärisch vernünftig.
Nicht von ungefähr plädierte Milley im Herbst 2022 in der New York Times dafür, das zum Ausgangspunkt von Verhandlungen zu nehmen. „Man solle den Moment nutzen“. Selbstverständlich wurde Milley zurückgepfiffen.
Parallel zum Rückzug baute das russische Militär Verteidigungsanlagen auf, die sogenannte „Surowikin-Linie“. An dieser Befestigungslinie biss sich der „Drache“, der laut Artikel immerhin bemerkte, dass sich die Russen „eingruben“, in der Gegenoffensive 2023 die Zähne aus. Wohlgemerkt, der „Drache“ kam niemals auf den Gedanken, den Aufbau dieser Linie auch nur zu stören. Oder es gab schon längst keine Mittel mehr dazu.
64 km weit eine erstklassige Zielscheibe
Einer der ersten großen propagandistischen, aber auch militärischen Fehlschlüsse in der Frühphase des Krieges betraf die sich aufstauende russische Fahrzeugkolonne im Kiewer Gebiet. Sie wurde länger und länger, reichte schließlich 64 km weit, aber plötzlich bewegte sie sich nicht mehr. Diese Kolonne war eine erstklassige Zielscheibe, Fahrzeug reihte sich an Fahrzeug. Und doch, sie wurde nicht massiv beschossen, sie löste sich auch nicht im Chaos auf. Ihr Abzug erfolgte geordnet, nach russischen Verlautbarungen als Teil einer „Vertrauensbildung“ im Zuge der Friedensverhandlungen in Istanbul. So wird es auch in einem ausführlichen BBC-Bericht vom 29. März 2022 dargestellt.
Der britische Geheimdienst glaubte, ihr Abzug erfolge, weil der Plan, Kiew einzukreisen, gescheitert sei. Es handele sich nur um eine Truppenumgruppierung. In den USA hieß es, Ankündigungen über einen Truppenrückzug seien gut und schön, man werde es aber erst glauben, wenn Taten folgten. Auch der deutsche Kanzler warnte, man dürfe nun nicht in der Wachsamkeit gegenüber Russland nachlassen. Die Gefahr für Kiew bestünde fort. Die russische Seite ließ wissen, dass eine gewisse Deeskalation noch kein Kriegsende sei. Einig waren sich die russische und die ukrainische Seite am 29. März 2022 darin, dass die Verhandlungen in Istanbul einen Hoffnungsschimmer bedeuteten.
BBC berichtete am 30. März 2022 über die Einschätzung des ukrainischen Botschafters Oleksandr Tschaly, der Teil der ukrainischen Verhandlungsdelegation war. Dieser sprach von der Chance, „die territoriale Integrität und Sicherheit der Ukraine durch diplomatische und politische Mittel wiederherzustellen.“
Um diese Fahrzeugkolonne rankten sich viele Spekulationen und Erklärungsversuche. Warum war sie entstanden? Warum bewegte sie sich nicht? Die BBC bot 2022 jede Menge Motive an – sie reichten von einem gigantischen „Verkehrsstau“ über veraltete russische Karten, massive logistische Probleme wie Treibstoff- und Nahrungsmittelversorgung, schlechte Kommunikation und mangelnde Vorbereitung auf sumpfiges Gelände bis hin zur Demoralisierung des russischen Militärs. Der angekündigter Abzug dieser Kolonne wiederum erfolgte so schnell, dass laut New York Times der „Drache“ überrascht war.
Offenbar war also noch genügend Treibstoff vorhanden, die Fahrzeuginsassen noch nicht verhungert. Auch an den ungenauen Karten kann es nicht gelegen haben. Der „Drache“ scheint nicht nachdenklich geworden zu sein. Russland erklärte nie, was es mit alledem bezweckte.
Man muss vermuten, dass sich Russland seit 2022 der ältesten und gleichzeitig effektivsten Kriegslist bedient: Es setzt darauf, dass es unterschätzt wird, und/oder auf die Arroganz der Gegenseite. Obwohl Russland auch in diesem Punkt nicht konsequent agiert. Am 7. Juli 2022 berichtete Reuters über eine Rede Putins in der Duma. Wenn uns die Nato auf dem Schlachtfeld schlagen will, dann soll sie es nur versuchen, erklärte dieser.
Das kann, ja muss man als eine äußerst selbstbewusste Ansage werten, bzw. als eine unverhohlene Warnung. Gehört wurde sie nicht. Genauso wenig wie gehört wurde, dass Putin damals auch die weitere Verhandlungsbereitschaft Russlands unterstrich. Laut Reuters lautete Putins Aussage wie folgt:
„Jeder sollte wissen, dass wir im Großen und Ganzen noch nicht ernsthaft begonnen haben (Anmerkung: gemeint war die russische Kriegsführung)…Gleichzeitig lehnen wir Friedensgespräche nicht ab. Aber diejenigen, die sie ablehnen, sollten wissen, dass es für sie umso schwieriger wird, mit uns zu verhandeln, je länger es (Anm.: der Krieg) sich hinzieht.”
(Original: “Everyone should know that, by and large, we haven’t started anything yet in earnest,” he added. “At the same time, we don’t reject peace talks. But those who reject them should know that the further it goes, the harder it will be for them to negotiate with us.“)
Darauf getrimmt, Russland nicht zuzuhören, an die KGB-Sozialisierung Putins zu glauben, beschwerte man sich nicht mit weiterem Nachdenken. Deshalb ist die New York Times heute damit beschäftigt, die Geschichte eines verlorenen Krieges so zu schreiben, dass wenigstens die USA gut dastehen.
Ein verlorener Krieg bedeutet kein Kriegsende. So war das auch nicht im Zweiten Weltkrieg. Während die USA aber offenbar den Verlust abschreiben wollen, sind es aktuell ihre europäischen Alliierten, die den „Drachen“ wiederbeleben wollen. (Laut New York Times wird er unter Trump gerade zur Ruhe gebettet.) Immer auf der Suche nach einer Position der „Stärke“ für die Ukraine, notfalls auch für sich selbst.
Das “Ukraine-Projekt”
In diesem Krieg stellte sich immer wieder die Frage, ob es noch einmal einen Stellvertreterkrieger wie die Ukraine geben würde, nach allem, was ihr geschah. So wenig man gutheißen kann, dass Russland zum Krieg griff, so richtig war doch, dass zunächst beide Seiten -aus welchen Motiven auch immer – wieder schnellen Frieden suchten. Würde sich also noch einmal ein Volk bzw. dessen Führung in einer vorgegaukelten Hoffnung auf Sieg zur Schlachtbank führen lassen, um gegen Russland zu kämpfen? Georgien hat sich dem verweigert.
Aber so, wie sich heute europäische Staats- und Regierungschefs gebärden, kann man nicht ausschließen, dass ihnen nicht bewusst ist, dass sie, wenn sie weiter dem „Ukraine-Projekt“ des Joe Biden nachjagen, die nächsten Stellvertreterkrieger sein werden. Denn das war der Sinn einer Antwort, die Biden bereits im Juni 2022 auf die Frage gab, ob Biden nicht wegen des Ukraine-Krieges ein Zerbröseln der Nato befürchte. Der antwortete: Er erwarte sich eine Art „Geduldsspiel“: Was Russland aushalten könne, und was die Europäer bereit wären, auszuhalten (ab Min 9:20).
Merkwürdigerweise sprach Biden nicht über die USA. Für ihn residierten die Opferlämmer allesamt in Europa. Es wäre ein großer Irrtum, das nur für eine Marotte von Biden zu halten.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.
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