Die schwarz-rote Koalition will Überwachung und Rückschritt.
Doch mit diesem grundrechtsfeindlichen Gruselprogramm und ihrer Einfallslosigkeit wird sie dem Rechtsruck nichts entgegensetzen. Die demokratische Zivilgesellschaft muss jetzt ihre politische Stärke ausspielen. Ein Kommentar.
Aus Perspektive von Grund- und Freiheitsrechten ist der schwarz-rote Koalitionsvertrag eine Katastrophe. Die neue Koalition will „Law & Order“ und deswegen die Vorratsdatenspeicherung einführen, der Bundespolizei den Staatstrojaner geben, Big-Data-Analyse à la Palantir bei der Polizei etablieren, dazu im Internet biometrisch fahndenlassen und dazu Videoüberwachung mit Gesichtserkennung ausbauen.
Und als reiche das nicht aus, soll die Geheimdienstkontrolle lascher werden, es gibt kein Bekenntnis zu Verschlüsselung und aus Datenschutz wird Datennutz. Die Grusel-Liste geht endlos weiter – wir haben sie eingehend analysiert.
In der Migrationspolitik fühlt sich Koalitionsvertrag so an, als säße die AfD schon in der Regierung. Beim Bürgergeld droht Armen noch mehr Gängelung und Kahlschlag. Mit den Schwächsten kann man es ja machen, während man essenzielle soziale Probleme wie hohe Mieten oder die ungerechte Vermögensverteilung links liegen lässt.
Union und SPD sitzen beide der falschen Hoffnung auf, dass sie die AfD klein kriegen, wenn sie deren menschenfeindliche Politik kopieren. Rechts gegen Rechts als Brandschutzkonzept. Man fragt sich schon, wie naiv man eigentlich sein kann, das ernsthaft zu glauben.
Denn die Rechtsradikalen können vor Selbstbewusstsein kaum noch laufen, weil sie Union und SPD so leicht unter Druck setzen können. Das gibt jeder Wählerin und jedem Wähler der Faschisten ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, von dem die Anhänger:innen der einstigen Volksparteien nur träumen können. Die jüngsten Wahlumfragen zeigen, wohin die braune Reise geht.
Brandgefährlich gegen die Zukunft
Vor diesem Hintergrund ist die grundrechtsfeindliche Politik der schwarz-roten Koalition brandgefährlich: Man baut einer zukünftigen möglichen AfD-geführten Regierung ein schlüsselfertiges Haus und gibt ihr repressive Instrumente in die Hand, die sie sonst gegen den Widerstand eines großen Teils der Bevölkerung erst einmal selbst einführen müsste. Man verschiebt aus der ehemaligen Mitte heraus die Grenzen des Machbaren schon heute stark nach Rechts und befeuert bei der AfD die Radikalisierung. Ein Teufelskreis, der Union und SPD immer weiter schwächen wird.
Wie kurzsichtig kann man sein, wenn man sich selbst eigentlich als demokratisch begreift. Vor allem, wenn man keine griffigen Konzepte gegen Rechtsextremismus oder ein Verbotsverfahren gegen die AfD in der Schublade hat. Außer der Gießkanne des Sondervermögens klafft nur sozial-, gesellschafts- und klimapolitische Ideenlosigkeit aus diesem Koalitionsvertrag. Aber Hoffnungslosigkeit und Resignation bringen uns nicht weiter.
Letzte Hoffnung Zivilgesellschaft
Wir haben etwas in der Hinterhand: die starke, bunte, wache, lebendige, demokratische, zukunftsgewandte, soziale und progressive Zivilgesellschaft, die vor den Wahlen zu Hunderttausenden gegen den Rechtsruck auf der Straße war. Es wird an ihr liegen, sowohl die rückschrittliche schwarz-rote Koalition außerparlamentarisch unter Druck zu setzen wie auch die Narrative und die Diskurshegemonie der AfD aktiv mit guten Ideen und Hoffnung zu bekämpfen.
Dafür braucht es jetzt neue Netzwerke und Mobilisierungen. Es braucht eine Kultur des Verbündens, der Vernetzung und der demokratischen Gemeinsamkeit. Es braucht dafür Nachsicht, Großmut und Entschlossenheit. Es braucht jetzt kluge, attraktive und lebenswerte Konzepte – und ein paar klare politische Forderungen. Dann kann die Zivilgesellschaft der grünen und linken Opposition Feuer unter dem Hintern machen und die rückschrittlichen Projekte von Schwarz-Rot im Parlament und mit intelligentem Protest aller Art in die Zange nehmen.
Kluge, attraktive und lebenswerte Konzepte
Wir müssen jetzt in die Pötte kommen, an die außerparlamentarische Stärke anschließen und uns der selbstvergewissernden Kraft demokratischer Widerstandsfähigkeit bewusst werden, die wir alle bei den Protesten zuletzt gespürt haben. Sonst werden wir weiter nur empört, entgeistert, schimpfend doomscrollen – und dann am Ende frustriert und machtlos an der Seitenlinie eines immer autoritäreren Spielfelds stehen.
Die Zivilgesellschaft in Deutschland ist stark, sie hat Drive, Kreativität und ist gut organisiert. Das hat sie gerade in den letzten beiden Jahren millionenfach bewiesen. Auf ihr liegt jetzt die Hoffnung, das weitere Abrutschen ins Autoritäre zu verhindern. Sie kann den echten Politikwechsel machen. Söder will Raumfahrt, wir nehmen uns die Räume.
Wir sehen uns auf der Straße!
Markus Reuter recherchiert und schreibt zu Digitalpolitik, Desinformation, Zensur und Moderation sowie Überwachungstechnologien. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit der Polizei, Grund- und Bürgerrechten sowie Protesten und sozialen Bewegungen. Für eine Recherchereihe zur Polizei auf Twitter erhielt er 2018 den Preis des Bayerischen Journalistenverbandes, für eine TikTok-Recherche 2020 den Journalismuspreis Informatik. Bei netzpolitik.org seit März 2016 als Redakteur dabei. Er ist erreichbar unter markus.reuter | ett | netzpolitik.org, sowie auf Mastodon und Bluesky. Kontakt: E-Mail (OpenPGP). Dieser Beitrag ist eine Übernahme von netzpolitik, gemäss Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.
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