Beueler-Extradienst

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Bedingungslose Kapitulation

Die “Tagesschau” gibt auf – wieder 15 Minuten täglich gespart

Seit Jahren halte ich Mediendiät, aus gesundheitlichen Gründen. Niemand hat etwas davon, wenn meine Stimmung versaut wird und ich morgens keine Lust mehr zum Aufstehen habe. Die verbleibende Lebenszeit möchte ich produktiv, gutgelaunt und mit freundlichen Freund*inn*en verbringen. Und sie und mich dabei nicht dümmer machen. Was ich so lese, bekommen Sie hier im Extradienst regelmässig mitgeteilt. Was ich so sehe, davon erfahren Sie nur das Beste.

Zum Lesen bin ich ständig mit einem Tablet bewaffnet. Das ist leichter als 30 Zeitungen, und auf Dauer betrachtet weit billiger. Zum Gucken habe ich einen Festplattenrecorder. Jeden Morgen wird er für den Folgetag programmiert mit allem, was ich verdächtige, keine Zeitverschwendung zu sein. Das glotze ich mit einem Tag bis einer Woche Rückstand dem linearen TV hinterher. Ich empfange nur 13 öffentlich-rechtliche Programme über DVB-T2 und muss gestehen: da kommt immer noch einiges zusammen.

Bleibende Werte sind selten: “Kottan”, “Schimanski”, “Die Anstalt”, “Neues aus Büttenwarder” und Spielberichte der Siege von Borussia Mönchengladbach. Von 1.600 Stunden Speicherkapazität auf der Festplatte sind noch 1.400 frei.

Es gab bislang nur zwei Anlässe, für die ich mein Hinterhergucken unterbrach, und das TV-Programm live und in Echtzeit glotzte: wenn Borussia gewinnt, die Sportschau, und täglich die Tagesschau. Mit Letzterem ist jetzt Schluss.

Es war schon schwer auszuhalten, aber aus Gründen der politischen Bildung habe ich es ertragen, die Kriegsertüchtigungspropaganda der Bundesregierung 1:1 über mich ergehen zu lassen. Ich will halt wissen, was die im Schilde führen, und die Tagesschau transportiert das originaler, als es mir lieb sein kann. Nachrichtenjournalismus ist kein leichtes Handwerk, mit viel Stress, politischem Druck und vorgesetzter Repression verbunden – auch in bürgerlichen Demokratien. Kritik ist nur durch subtile Untertöne möglich. In Bonner Hauptstadtstudiozeiten haben das Leute, wie Hansjürgen Rosenbauer, Edeltraud Remmel, Arnim Staudt oder Markus Schmidt noch beherrscht.

Doch all diesen Ärger hat die Tagesschau nun übertroffen. Sie sah aus, wie “Brisant” oder eine “WDR-Lokalzeit”. Volontär*inn*e*n, die das Mikrofonhalten bereits erlernt haben (aber oftmals nicht wissen, wo das Rathaus ist), gehen, um den Koalitionsvertrag zu “analysieren”, in Fussgängerzonen und suchen nach präsentablen Gesichtern, die nicht schnell genug weglaufen können. So will Deutschlands wichtigste Nachrichtensendung Volksnähe simulieren. Journalisten mit Ausbildung hätten dagegen gelernt, dass sich nichts einfacher manipulieren lässt, als ebensolche spottbilligen Beiträge. Die Leute am Schnittplatz wissen, was ich meine. Mann kann das alles machen und versenden, keine Frage – im Unterhaltungsprogramm. Mir das um 20 Uhr vorzusetzen ist die Unverschämtheit, mich als Zuschauer für komplett debil und bescheuert zu halten.

Gerhard Matzig/SZ (Paywall) formuliert es so: “Seit einiger Zeit kultivieren ARD und ZDF den Irrglauben, dass die vielen, vielen Menschen, die nach Tagen, in denen sie mit Trash und Unsinn aller Art auf X und Insta durchgespült worden sind, abends keine verlässlichen Einordnungen und Hintergründe genießen möchten. Sondern dass sie sich selbst dabei zusehen wollen, wie sie einem Straßenreporter nicht rechtzeitig ausgewichen sind: ‘Ja gut, ich sach mal, wohl ist mir beim Blick in die Zukunft nicht.’ […] Wenn man nun die Düngemittel und die Politik auf die eine Seite rechnet und Leute wie dich und mich auf die andere, dann haben auf diese Weise alle zu wenig Zeit, um etwas halbwegs Sinnstiftendes zu einem wahrlich komplexen Thema (Zukunft von Deutschland) zu sagen. Die Straßenumfrage ist die finale Schwundstufe des öffentlich-rechtlichen Auftrags, die vollkommene und vollkommen zynische Simulation von Authentizität.”

Die gute Nachricht in der FAZ und ohne Paywall: ‘Von eurer Generation hängt ab, was mit Amerika passiert’ – Der linke Senator kommt zu dem Musikevent in der kalifornischen Wüste – neben Green Day und Lady Gaga.”

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. michael

    Ich gucke die Tagesschau sowieso nur noch im Schaukelstuhl. Ich bin dann immer sehr bewegt.

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