In der wissenschaftlichen Kriminalpolitischen Zeitschrift  erschien gestern eine Stellungnahme von 68 Hochschullehrer*innen zur aktuellen Asyl- und Kriminalpolitik, die wir hier dokumentieren:

Stellungnahme: Für eine evidenzbasierte, rationale Kriminalpolitik

Die aktuelle gesellschaftliche Debatte über Taten wie die Tötung zweier Menschen und Verletzung zweier weiterer Menschen in Aschaffenburg ist verständlicherweise emotional aufgeladen. Jedes Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen ist nachvollziehbar und wird von uns geteilt.

Als Strafrechtswissenschaftler:innen sehen wir uns verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass die Debatte aber darüber hinaus von populistischen Instrumentalisierungen und verzerrten medialen Darstellungen geprägt ist. Statt evidenzbasierter Erkenntnisse dominieren derzeit emotionale Reaktionen und politische Reflexe. Ein sachlicher, wissenschaftlich fundierter Umgang mit Kriminalität ist jedoch essenziell, um wirksame, nachhaltige und verfassungskonforme Lösungen zu entwickeln.

Beispielsweise zeigt die Forschung, dass soziale Integration eine der wichtigsten Präventivmaßnahmen gegen Kriminalität ist. Dennoch wird als Reaktion auf die Tat in Aschaffenburg aktuell der Familiennachzug für Geflüchtete infrage gestellt, obwohl dies Vereinsamung und soziale Instabilität verstärken kann, was wiederum das Risiko von Kriminalität erhöhen könnte. Über Herausforderungen bei Integration und Kapazitäten muss im ausländerrechtlichen Kontext diskutiert werden, die wahren Probleme benannt und damit Lösungen erreichbar gemacht werden. Eine Verknüpfung mit Straftaten dagegen erschwert an dieser Stelle eine rationale Auseinandersetzung.

Als weiteres Beispiel für problematische Forderungen sei die genannt, Personen mit Aufenthaltsberechtigung nach der Begehung von zwei Straftaten abzuschieben – selbst wenn es sich dabei um Bagatelldelikte wie das Schwarzfahren nach § 265a StGB handelt. Nicht nur ist etwa die Strafwürdigkeit dieser und anderer vergleichbarer Delikte ohnehin bereits umstritten, eine derartige Form der Sanktionierung ist auch mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fragwürdig. Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass Kriminalstatistiken oft unsachgemäß genutzt werden. Ein häufiges Problem ist die Gleichsetzung registrierter Straftaten mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung.

Polizeiliche Kontrollmechanismen und veränderte Anzeigebereitschaft, aber auch andere Faktoren, beeinflussen die Zahlen oft stärker als eine reale Zunahme der Kriminalität oder eine subjektive Wahrnehmung von Kriminalität, gerade auch mit Blick auf die Medienberichterstattung und die Debatten in den sozialen Medien. Selektiv ist oft die Darstellung bestimmter Delikts- und Personengruppen, wie es sich in der derzeitigen Debatte spiegelt. Kriminalität ist aber keine Folge der Staatsangehörigkeit.

Eine sachgerechte Analyse muss kontextbezogen sein, und die Suche nach Lösungen bedarf auch immer einer evidenzbasierten Ursachenforschung. Wir fordern deshalb eine durch Rationalität und Evidenz geprägte Kriminalpolitik. Die Debatte sollte sich von populistischen Verzerrungen lösen und wissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen.

Dazu gehören:

  1. Eine rationale, empiriebasierte Analyse
  2. Ein sachlicher Umgang mit Kriminalstatistiken
  3. Die Berücksichtigung kriminologischer Erkenntnisse bei Gesetzesvorhaben
  4. Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit im Strafrecht
  5. Die Trennung von Straf- und Aufenthaltsrecht

Eine evidenzbasierte, verfassungskonforme Kriminalpolitik ist unabdingbar, um sowohl Sicherheit als auch Rechtsstaatlichkeit nachhaltig zu gewährleisten.

Prof.’in Dr. Susanne Beck, LL.M. Universität Hannover; Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier, Universität Hannover; Prof.’in Dr. Anna H. Albrecht, Universität Potsdam; Prof. Dr. Kai Ambos, Universität Göttingen; Ass. iur. Büşra Akay, Doktorandin, Universität zu Köln; Prof.‘in Dr. Stefanie Bock, Universität Marburg; Dr. Nicole Bögelein, Universität zu Köln; Prof. Dr. Dominik Brodowski, LL.M., Universität des Saarlands; Prof. Dr. Jens Bülte, Universität Mannheim; Prof. Dr. Jochen Bung, Universität Hamburg; Prof. Dr. Boris Burghardt, Universität Marburg; Prof. Dr. Mark Deiters, Universität Münster; Prof.’in Dr. Kirstin Drenkhahn, Freie Universität Berlin; Jun.-Prof. Dr. Aziz Epik, LL.M., Universität Hamburg; Prof. Dr. Bijan Fateh-Moghadam, Universität Basel; Prof.’in Dr. Julia Geneuss, LL.M., Universität Potsdam; Prof.’in Dr. Ingke Goeckenjan, Universität Bochum; Prof. Dr. Klaus Günther, Universität Frankfurt a.M.; Prof. Dr. Stefan Harrendorf, Universität Greifswald; Prof. Dr. Dr. h.c. Bernd Heinrich, Universität Tübingen; Prof.‘in Dr. Katrin Höffler, Humboldt Universität Berlin; Ass. iur. Sabine Horn, Universität zu Köln; Prof. Dr. Andreas Hoyer, Universität Kiel; PD‘in Dr. Victoria Ibold, Universität Halle-Wittenberg; Prof. Dr. Matthias Jahn, Universität Frankfurt a.M.; Prof. Dr. Florian Jeßberger, Humboldt Universität Berlin; Prof. Dr. Johannes Kaspar, Universität Augsburg; Prof. Dr. iur. Dipl.Psych. Stefanie Kemme, Universität Münster; Prof. Dr. Jörg Kinzig, Universität Tübingen; Prof. Dr. Florian Knauer, Universität Jena; Prof. Dr. Ralf Kölbel, Universität München; Prof. Dr. Dr. Milan Kuhli, Universität Hamburg; Ass. iur. Lubahn Greppler, Celina S., Doktorandin, Universität zu Köln; Prof.’in Dr. Grischa Merkel, Universität Greifswald; Prof. Dr. Carsten Momsen, Freie Universität Berlin; Prof.’in Dr. Christine Morgenstern, Universität Bochum; Prof. Dr. Henning Müller, Universität Regensburg; Hon.-Prof. Dr. Michael Nagel, Rechtsanwalt; Prof. Dr. Frank Neubacher, M.A., Universität zu Köln; Prof. ’in Dr. Laura Neumann, Universität Mannheim; Prof.’in Dr. Bettina Noltenius, Universität Passau; Dr. Maximilian Nussbaum, Universität Hannover; Prof. Dr. Erol Pohlreich, Universität Frankfurt a.d.O.; Prof. Dr. Dr. h.c. Cornelius Prittwitz, Universität Frankfurt a.M.; Prof. Dr. Jens Puschke, Universität Marburg; Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Universität Halle-Wittenberg; Dr. Yann Romund, Universität Hannover; Prof. Dr. Henning Rosenau, Universität Halle-Wittenberg; Prof.’in Dr. Anja Schiemann, Universität zu Köln; Prof.’in Dr. Charlotte Schmitt-Leonardy, Universität Bielefeld; Dr. Leonie Schmitz, Universität zu Köln; Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Universität Frankfurt a.M.; Jun.-Prof.’in Dr. Lucia Sommerer, Universität Halle; PD’in Dr. Georgia Stefanopoulou, Universitäten Hannover / Leipzig; Prof. Dr. Georg Steinberg, Universität Potsdam; Jun.-Prof.’in Dr. Leonie Steinl, LL.M., Universität Münster; Prof.’in Dr. Sabine Swoboda, Universität Bochum; Prof. Dr. Markus Wagner, Universität Bonn; Jun.-Prof. Dr. Kilian Wegner, Universität Frankfurt a.d.O.; Timotheus Winterstein, Doktorand, Universität zu Köln; Prof. Dr. Petra Wittig, Rechtsanwältin; Prof.’in Dr. Gina Rosa Wollinger, HSPV Nordrhein-Westfalen; Prof.’in Dr. Liane Wörner, LL.M. Universität Konstanz; Universitätslehrer Dr. Benno Zabel, Universität Frankfurt a.M.; Prof. Dr. Sascha Ziemann, Universität Hannover; Prof. Dr. Frank Zimmermann, Universität Freiburg; Prof. Dr. Till Zimmermann, Universität Düsseldorf

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