Von Engeln mit Migrationshintergrund im Vivantes Klinikum im Friedrichshain – In einem Berliner Krankenhaus wurde unserer Autorin bewusst: Dieses Land lebt längst von jenen, die es immer noch an den Rand drängt.
Ich fühlte mich wie ein Stück Fleisch, dort auf dem OP-Bett im Vivantes Klinikum im Friedrichshain, 7.45 Uhr morgens, quasi anonym, Bändchen um den Arm, allein mit meinen Todesängsten und meiner Machtlosigkeit.
Da liegt mein Körper – mein Kopf noch wach –, markiert am linken Ohrläppchen, zum vierten Mal in meinem Leben. Es ist der vierte Versuch, dieses Problem zu beheben, mein Trommelfell zu schließen, um besser zu hören. Ein lang überlegter, vierter Angriff – nach einer 14-jährigen Pause. Jetzt, wo ich auch Mutter bin, bin ich ängstlicher geworden.
Eine Krankenschwester legt den Zugang, eine andere stellt sich sehr freundlich vor. An ihrem Aussehen und Akzent erkenne ich (ja, ich scanne, du scannst, wir scannen), dass sie wahrscheinlich aus einem asiatischen Land stammt. Ich frage nicht, woher genau. Ich spüre ihre Freundlichkeit – sie beruhigt mich ein kleines bisschen, während ich weiter alles analysiere, schwitze und gleichzeitig friere.
Auch der Oberarzt hat einen Migrationshintergrund
Jemand kommt dazu, begrüßt mich. Ich beginne zu weinen. Er fragt nach meinem Namen und Geburtstag, und dann auch, woher ich stamme. An meinem Namen ist zu erkennen, dass auch ich eine Migrationsgeschichte habe – an meiner Hautfarbe hingegen nicht. Ich scherze noch darüber, halb weinend, aus meinem privilegierten Selbsturteil heraus: Ich bin ja so blond und blauäugig.
Er beruhigt mich mit weiteren Fragen zu meinem Geburtsort. „Rio soll eine besondere Stadt sein“, sagt er. „Ja“, sage ich, „aber auch intensiv.“ Ich frage ihn, ob er der Anästhesist sei. „Ja“, sagt er, „aber die anderen zwei gehören auch dazu – wir sind ein Team.“ Das gefällt mir.
Er meint, es sei eine sehr gute Entscheidung, sich von diesem Oberarzt operieren zu lassen – „er ist wirklich gut“. Auch der Oberarzt hat einen Migrationshintergrund, entnehme ich seinem Namen, und mische all meine Gedanken.
Tränen, Schweiß, Herzklopfen
Ich hoffe, ich sterbe nicht. Und dass das alles nicht umsonst ist. Ich denke daran, wie verrückt es ist, dass ich dem Oberarzt nicht im wachen Zustand begegne. Ich denke daran, wie schön und wie hässlich Rio ist – und was das mit mir macht. Ich vermisse meine Familie in Brasilien. Ich vermisse meine Familie in Berlin. Ich visualisiere meine Tochter und meinen Mann, versuche, ein Mantra zu erfinden.
Tränen, Schweiß, Herzklopfen. Dann leiten sie die Narkose ein. Ich bin fucking nervös. The fucking Zugang tut extrem weh, ich sage noch: „Aua, aua …“ Er antwortet: „Träum dir etwas Schönes. Bleib einfach in diesem Traum. Oder reise durchs Universum – wie du möchtest.“ Aua. Ich sehe noch die Maske. Dann: puff.
Ich wache auf. Sanfte Stimmen sprechen mit mir, sanfte Hände bewegen mein Krankenbett. Ich bin im Aufwachraum. Mehrere Personen – das Pflegepersonal – gehen hin und her. Die meisten von ihnen lese ich als Migrantinnen, ihren bunten Akzenten und Hautfarben nach. Eine spricht mich in meiner Muttersprache an: „Oi Anaís, está tudo bem, você está acordando.“ Ich liebe diesen Moment. Ich drehe mich nach rechts, sehe andere Menschen, die noch nicht wach sind. Ich freue mich so, am Leben zu sein. Ich fühle mich zu Hause. Wir sind in guten Händen.
Links ruft jemand in einem Bett liegend: „Hilfe, Hilfe!“ Wahrscheinlich hat er einen schlechten Trip beim Aufwachen. Das Personal beruhigt ihn.
Es ist Fremdscham
Die Frau, die Portugiesisch spricht, kommt noch einmal näher. Ich frage sie nach ihrem Namen. Sie nennt ihn mir. „Wie lange bist du schon hier?“, frage ich auf Portugiesisch. „Drei Jahre“, sagt sie. „Und du?“ „26“, antworte ich. „Und bist du mit dem Beruf gekommen?“ „Ja, über ein Rekrutierungsprogramm, das Pflegepersonal aus Lateinamerika, Asien und anderen Regionen herholt.“ „Und wie ist das für dich? Ich nehme an, es ist nicht einfach.“ „Leider oft … ein bisschen aggressiv.“ „Passiv-aggressiv – das ist hier oft die Art“, sage ich noch. Dann wird sie gerufen. Sie darf nicht lange sprechen. Sie entschuldigt sich und muss gehen. Ich bin berührt.
Und ich bin dankbar – für all diese Menschen mit so unterschiedlichen Herkunftsgeschichten, die sich während meines Krankenhausaufenthalts um meinen Körper (und meine Seele!) gekümmert haben. Menschen, die weite Wege gegangen sind, die Risiken auf sich genommen haben, um hier zu arbeiten. Dank dieser Menschen – viele von ihnen Frauen, Migrantinnen aus asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern, oder wie es zu meiner Zeit oft hieß: aus der „Dritten Welt“, so wie ich – dank ihrer bekomme ich hier im Krankenhaus mein Essen, ist mein Zimmer sauber, werde ich versorgt.
Sie kamen hin und wieder, um meinen Puls zu fühlen, um mich zu fragen, wie es mir geht. Ich bin sehr dankbar – und ich schäme mich für den deutschen politischen Diskurs der Gegenwart. Es ist Fremdscham. Wird es zu spät sein, wenn die Befürworter eines „Deutschland den Deutschen“ selbst im Krankenbett liegen – und dann sehen, wer sie pflegt? Oder wachen sie auf, wie ich, und erkennen, dass dieses Land ohne Migration gar nicht existieren kann?
Anaís Furtado ist im Jahr 2000 im Alter von 19 Jahren aus Brasilien nach Deutschland gekommen. Sie arbeitet heute als Kulturwissenschaftlerin, freischaffende Künstlerin und in der Stadtteilarbeit in Berlin. Sie lebt mit einer Hörbehinderung – Klang ist für sie nicht nur Ton, sondern Begegnung. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.
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