Zum Glück ist der Gedenkwochen-Marathon für dieses Jahr abgehakt.
Ein Gedenktag ist ein Kalenderdatum, an dem an ein historisches Ereignis erinnert wird. Ein offizieller Gedenk- und Feiertag ist ein Staatssymbol, durch das sich der Staat öffentlich darstellt. Er soll identitätsstiftend auf das Volk einwirken und, wenn man’s bösartig betrachtet, den „Heldentod“ glorifizieren. Durch das Gedenken an gemeinsame historische Erfahrungen ermöglichen Gedenktage aber auch Dialog, Verständigung, Konsensbildung und letztlich auch Frieden. Durch Gedenktage werden kollektiv erlebte geschichtliche Ereignisse für die Gegenwart relevant. Wann, wenn nicht an gemeinsamen Gedenktagen, wollen Politiker mit ihren „Feinden“ Probleme besprechen, Konflikte lösen, Spannungen ausräumen und über eine friedliche Zukunft reden? Wann? Warten sie auf ein himmlisches Zeichen?
Im Mai 1945 wurde der 2. Weltkrieg beendet. Die von der Nazi-Wehrmacht besetzten Länder wurden von barbarischer Fremdherrschaft gesäubert, Hunderttausende aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen Gefangene in den Zuchthäusern, Konzentrations- und Vernichtungslagern wurden befreit, mutige Menschen, die im Untergrund gegen die Nazi-Diktatur kämpften, konnten aufatmen und zu einem „normalen“ Leben zurückkehren, zahlreiche Soldaten überlebten und konnten sich mit ihrem Fahneneid den Hintern abwischen. Dies alles ist nun 80 Jahre her und Anlass zum Gedenken.
Bei der ganzen Gedenkerei erfahren wir nur sehr wenig über die internationale Gefühlsmelange, und wie die Nachbarn Deutschlands ihre Befreiung heute betrachten. Wie beurteilen die Durchschnittsbürger zwischen Norwegen und Griechenland, besonders die Älteren, ihre „Befreiung“ 1945? Was erzählen sich, wenn sie an ihren Stammtischen hocken, die Holländer oder die Dänen, und woran erinnern sich die Belgier oder die Tschechen? Geben sie an mit kolossalen Erfolgen im Widerstand? Berichten sie davon, wie glücklich sie „davongekommen“ sind? Fühlen sie sich immer noch befreit? Wahrscheinlich stellen sie sich ja auch die naheliegenden Frage: Wie ist es nur möglich, dass die Verlierer (Loser!) von damals heute in Europa den Ton angeben? Wie konnte das passieren? Da haben Gott und die Päpste ja wohl nicht aufgepasst … Bestimmt wird man in Altersheimen im ehemaligen Jugoslawien feststellen: „Statt anständig Wiedergutmachung zu leisten, haben die deutschen Schweine ihr ganzes Geld in ihre Automobilindustrie gesteckt“, und hinter vorgehaltener Hand kann man mit Sicherheit auch die Überlegung hören, dass es gar nicht so schlecht wäre, wenn der deutsche Fritz seinen nächsten Blitzkrieg nochmal gegen die Russen führen würde. Damit wäre doch wirklich allen gedient, oder?
Selbstverständlich erinnern sich Sieger und Besiegte immer unterschiedlich an Kriegsursache, Kriegsverlauf und Beendigung des Krieges. Unstrittig aber ist: 27 Millionen Kriegstoten der Sowjetunion stehen „nur“ eine Million Kriegstote der USA, Großbritanniens und Frankreichs gegenüber. Fakt ist auch, der Einsatz der Roten Armee brachte Europa am 8. Mai 45 das Ende des 2. Weltkriegs, aber nicht das Ende des Faschismus.
Anlässlich des 20. Jahrestages hat Bundeskanzler Ludwig Erhard eine Erklärung im Rundfunk und Fernsehen verlesen, in der er anlässlich des „Tags der deutschen Kapitulation“ betonte, dass dem „militärischen Zusammenbruch“ ein „geistiger und moralischer Verfall vorausgegangen“ sei. Nur „wenn mit der Niederwerfung Hitler-Deutschlands Unrecht und Tyrannei aus der Welt getilgt worden wären, dann allerdings hätte die ganze Menschheit Grund genug, den 8. Mai als einen Gedenktag der Befreiung zu feiern“. Aha – wenn’s nach dem dicken Ludwig ginge, könnten wie uns das ganze Gedenken sparen. Und der Historiker Hubertus Wilhelm Knabe, ehemals Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und sogenannter Stasi-Experte, vertritt den Standpunkt, bei der Anwendung des Begriffs „Tag der Befreiung“ müsse zwischen Ost- und Westdeutschland unterschieden werden, da die Ostdeutschen erst ab 1989 die Chance erhalten hätten, eine Demokratie aufzubauen. Ich hab’s geahnt: das Händeschütteln von Torgau hat in Wirklichkeit auf den Hamburger Elbbrücken stattgefunden.
Ob sie nun einer Kapitulation oder einer Befreiung gedenken – das, denke ich, ist vielen Deutschen völlig wumpe. Der 8. Mai, so scheint mir, ist nichts anderes als eine Chiffre, hinter der man alles ausblenden kann, was an Verdrängung, Lüge, Schönfärberei, Verharmlosung, Rechtfertigung, Antisemitismus und heimlicher Sympathie für eine hitlerische Staatsführung in einem steckt. Gefühlskastrierte und in rhetorischer Routine erstarrte Floskelautomaten, die sich am maschinellen Beficken alljährlich wiederkehrender Jubiläen erfreuen, klammern sich aus jeder historischen Aufklärung aus und vermeiden jede klare Stellungnahme zum aktuell in Erscheinung tretenden Faschismus, meinen aber, das Recht zu haben, sich als moralische Sieger und kompetente Führungspersönlichkeit präsentieren zu können, wenn sie nur laut genug von ihrer demokratische Einstellung salbadern und ihre Freundschaft mit den West-Alliierten beschwören. Man will eben gern, gerade wenn man zur jüngeren Generation gehört und die Gnade der späten Geburt für sich beansprucht, auf der moralisch privilegierten Seite der westlichen Sieger stehen. Da kann man am 8. Mai ganz locker „gedenken ohne erinnern“…
Mit der fadenscheinigen Begründung, dass russische und belorussische Vertreter gemeinsame Gedenkveranstaltungen „instrumentalisieren und mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine missbräuchlich in Verbindung bringen“ könnten, schloss man sie einfach aus. Es ist sehr zweifelhaft, ob die russische Propaganda durch eine Teilnahme des russischen Botschafters an einer Gedenkstunde des Bundestags gestärkt worden wäre, aber seine Ausladung, dieser Affront, hat die Kritik an fehlender westlicher Diplomatie verschärft und das Narrativ Moskaus, Russland müsse sich in der Ukraine gegen die aggressive Politik des Westens und die Nato – Osterweiterung wehren, bestärkt.
Natürlich hat der russische Präsident die Moskauer Siegesparade am 9. Mai auch für die Rechtfertigung seines Krieges gegen die Ukraine genutzt. In westlichen Medien wurde das mit „die russische Propaganda zieht eine künstliche Parallele zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Krieg gegen die Ukraine“ kommentiert: Immer noch gehe es um den Kampf gegen Nazis. „Die Parade auf dem Roten Platz soll dieses erdachte Narrativ weiter im Bewusstsein der eigenen Bevölkerung zementieren“. Tja, so ist das eben mit der Propaganda. Beide Seiten versuchen, mit Lügen ihre Glaubwürdigkeit zu stärken. Alles, was wir glauben zu wissen, ist uns durch Propaganda vermittelt worden, und es gibt nichts, was wir wirklich überprüfen können.
Und irgendwann werden deutsche Geschichtsstudenten fragen „war die deutsche Kapitulation 1945 überhaupt gültig?“ Oder „wer hat sich eigentlich diesen Hitler ausgedacht? Kafka? E.T.A.Hofmann?“ Und „waren die Russen 1945 wirklich echt in Berlin?“ Und irgendwann wird vielleicht auch eine ukrainische Dolchstoßlegende verbreitet, weil „Experten“ herausgefunden haben: „Die Ukraine im Felde unbesiegt! Nur durch Bedenkenträger und wirtschaftliche Rücksichtnahme des Westens um den Sieg betrogen!“
Doch nicht nur deutsche freiheitlich demokratische Überzeugungstäter blockieren einen gemeinsam begangenen Gedenktag. DPA meldete: Estland und Litauen haben ihren Luftraum für Staats- und Regierungschefs gesperrt, die zum Tag des Sieges am 9. Mai nach Moskau reisen wollen. Estland habe bereits kubanischen und brasilianischen Flugzeugen den Überflug verweigert. Auch der dritte baltische Staat, Lettland, hat Überflüge nach und von Russland untersagt. Na gut, Hauptsache, die SS-Veteranen der baltischen Länder können alljährlich in Uniform und mit Hakenkreuz auf dem rechten Kragenspiegel zum Freiheitsdenkmal in Riga marschieren, um der Schlacht gegen die Rote Armee zu gedenken und sich mit Ruhm zu bekleckern …
Die ehemalige Premierministerin der Republik Estland und heutige Außenbeauftragte der Europäischen Union, Kaja Kallas, erklärte, die EU werde eine Teilnahme EU-Bewerberstaaten an den Feierlichkeiten in Moskau „nicht auf die leichte Schulter nehmen“, die Teilnahme eines Kandidatenlandes wünsche sie nicht. Offenbar ist die junge Frau der Ansicht, 2025 sei so etwas Ähnliches wie 1939…
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.
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