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Situation in Nahost

Erklärung des Erhard-Eppler-Kreis zur Situation in Nahost

I.
Vom 2. März bis zum 19. Mai hat die israelische Regierung die Lieferung humanitärer Güter in den Gaza-Streifen vollständig verhindert: Keine Lebensmittel, kein Trinkwasser, keine Medikamente, kein Strom und kein Treibstoff. Am 19. Mai konnten zum ersten Mal seit mehr als zweieinhalb Monaten wenige Lkw für das Leben und Überleben der Bevölkerung in Gaza notwendige Güter nach Gaza bringen, die in keinem Verhältnis zu dem stehen, was dringend notwendig ist. Gleichzeitig bombardiert das israelische Militär weiter Gaza und vertreibt die Menschen. Nach Auffassung aller unabhängigen Beobachter ist die humanitäre Situation in Gaza katastrophal. Das Leben zehntausender Menschen ist durch fehlende Lebensmittel, durch die Zerstörung fast der gesamten Infrastruktur einschließlich des Gesundheitswesens akut bedroht.

Dieses Vorgehen der israelischen Regierung ist weder mit dem Recht auf Selbstverteidigung nach den Massakern, die die Terror-Organisation Hamas am 7. Oktober 2023 begangen hat, zu rechtfertigen noch vereinbar mit dem humanitären Völkerrecht. Trotzdem sieht die Welt zu, wie das Lebensrecht von zwei Millionen Menschen in Gaza und international geltendes Recht von der israelischen Regierung mit Füssen getreten wird. Lange Zeit wurde, besonders bei uns in Deutschland, alles Handeln der israelischen Regierung unter den Schutz des Rechts auf Selbstverteidigung gestellt. Jetzt nehmen Aufforderungen zur Mäßigung und zum Einhalten des humanitären Völkerrechts zu. Sie bleiben aber unglaubwürdig, solange die israelische Regierung davon ausgehen kann, dass noch so klare Aufforderungen an ihre Adresse folgenlos bleiben.

II.

Mitglieder der israelischen Regierung erklären seit Wochen und Monaten ihr Ziel, Gaza endgültig dem Erdboden gleich zu machen und die Palästinenser aus dem Gaza-Streifen zu vertreiben.

Verteidigungsminister Israel Katz hat sich am 19. März 2025 auf X wie folgt direkt an die Bewohner von Gaza gewandt: „Es handelt sich um die letzte Warnung. (…) Folgt dem Rat des Präsidenten der USA: Gebt die Geiseln raus und schmeißt die Hamas raus, dann werden sich euch neue Möglichkeiten eröffnen – einschließlich der Umsiedlung in andere Teilen der Welt für die, die sich dafür entscheiden. Die Alternative besteht in der totalen Zerstörung und Verwüstung.“

In die gleiche Richtung äußerte sich am 6. Mai 2025 der israelische Finanzminister Bezalel
Smotrich: „Innerhalb weniger Monate werden wir erklären können, dass wir gewonnen haben. Gaza wird vollständig zerstört sein. In weiteren sechs Monaten wird die Hamas nicht mehr als funktionierende Einheit existieren… Die Bevölkerung von Gaza wird südlich des Morag-Korridors konzentriert sein. Der Rest des Streifens wird leer sein… Die Bewohner von Gaza werden im Süden konzentriert. Sie werden vollkommen verzweifelt sein und verstehen, dass es in Gaza keine Hoffnung und keine Zukunft gibt, und werden
nach Umsiedlung suchen, um an anderen Orten ein neues Leben zu beginnen.“

Diese Ankündigungen systematischer Vertreibung sind im Ergebnis nichts anderes als Aktionen der „ethnischen Säuberung“, die in anderen Teilen der Welt zur einhelligen Verurteilung durch die Staatengemeinschaft geführt haben und auch in diesem Fall führen müssen.

III.

Die duldende Unterstützung und die unterstützende Duldung der Politik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern im Gaza-Streifen (und im Westjordanland) begründen bei uns in Deutschland viele mit der deutschen Verantwortung für die Ermordung der europäischen Juden. Daraus folge, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsraison sein müsse. Gegen diese einseitige Schlussfolgerung aus der Shoah wendet sich niemand
schärfer als Bürgerinnen und Bürger des Staates Israel und Juden weltweit.

Besonders deutlich formuliert hat das vor kurzem der frühere Präsident des israelischen Parlaments Avraham Burg: „Nichts, was Israel den Palästinensern im vergangenen Jahrhundert zugefügt hat, rechtfertigt die Gräueltaten der Hamas, und nichts, was die Hamas getan hat, rechtfertigt Israels anhaltende Verwüstung im Gazastreifen. Ein Verbrechen wiegt ein anderes nicht auf. Die schrecklichen Taten der Hamas waren kein
Holocaust. Und gerade, weil wir den Holocaust erfahren haben, müssen wir mehr als alle anderen die ethischen und rechtlichen Grenzen von Macht und Brutalität verstehen. Doch stattdessen nutzen zu viele Israelis den Holocaust, um diese Grenzen aufzuheben.“

Für uns Deutsche heißt das, dass wir gerade wegen unserer Geschichte, wegen der Verbrechen Nazi-Deutschlands, nicht nur eine besondere Verantwortung für Israel haben, sondern auch eine besondere Verantwortung für die Palästinenser und dafür, dass in Nahost Menschenwürde, Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht Geltung bekommen. Das ist die Lehre aus der Shoah. Das bedeutet im Jahr 2025 der Satz „Nie wieder ist jetzt.“

Avraham Burg hat diesen Zusammenhang zwischen geschichtlicher Verantwortung und praktischem Handeln heute so umfassend formuliert, wie sie gerade wir Deutsche verstehen sollten: „Das Argument, dass es die Einzigartigkeit des Holocausts schmälere, wenn seine Lehren verallgemeinert würden, ist eine gefährliche Täuschung. Die Besonderheit des Holocaust – des systematischen Völkermordes am jüdischen Volk – bleibt vollkommen unversehrt, wenn seine Lehren für Juden, Palästinenser und alle Menschen gleichermaßen
universell angewendet werden.“

IV.

Von dieser Einsicht muss sich endlich die Politik der Bundesregierung und der Europäischen Union leiten lassen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich aktiv für die Freilassung aller Geiseln einzusetzen, sich entschieden für einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand einzusetzen, zunächst für die Rückkehr zu der von Israel aufgekündigten Waffenruhevereinbarung für Gaza vom Januar 2025, sich aktiv gegen die Vertreibung der Menschen aus dem Gazastreifen und dessen totale Zerstörung zu wenden,

sich für Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern einzusetzen, bei denen die berechtigten Interessen beider Seiten gleichermaßen berücksichtigt werden,

alle Waffenlieferungen an Israel einzustellen, die gegen die Palästinenser in Gaza und im Westjordanland eingesetzt werden können, solange es keinen dauerhaften Waffenstillstand gibt und keine Verhandlungen stattfinden,

von der israelischen Regierung den ungehinderten Zugang von Hilfslieferungen nach Gaza zu verlangen und für den Fall der Weigerung bestehende Formen der Zusammenarbeit gezielt zu unterbrechen,

sich für die weitere Finanzierung und damit die Arbeitsfähigkeit der UN-Hilfsorganisation UNRWA einzusetzen, die das Rückgrat der humanitären Versorgung gebildet hat und durch keine andere Organisation ersetzt werden kann,

sich dafür einzusetzen, dass die völkerrechtswidrigen Siedlungen in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten beendet und keine neuen Siedlungen durch Vertreibung von Palästinensern errichtet werden,

dazu beizutragen, die Resolution der UN-Generalversammlung vom Mai 2024, der die Bundesrepublik Deutschland zugestimmt hat, durchzusetzen, die das Recht des palästinensischen Volks auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf einen Staat mit territorialer Integrität unterstützt,

sich dafür einzusetzen, dass das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel und damit verbundene Handelsvorteile ausgesetzt werden, wie das z.B. Spanien verlangt, und der Zugang Israels zu Förderprogrammen der Europäischen Union (besonders Horizon Europa) ausgesetzt wird, solange sich die israelische Regierung nicht an die Beschlüsse der Generalversammlungen der UNO hält und gegen humanitäres Völkerrecht verstößt.

Gemeinsam mit möglichst vielen anderen Mitgliedsstaaten der EU dem Beispiel von
Spanien, Irland und Norwegen und der Ankündigung Frankreichs folgend, Palästina als Staat
anzuerkennen.

V.

Wir sind davon überzeugt, dass Israel und Palästina nur gemeinsam Sicherheit und Frieden finden können. Dafür sind internationale Unterstützung für und internationaler Druck auf beide Seiten notwendig. Palästinenser haben das gleiche Recht auf Selbstbestimmung wie Israelis und das gleiche Recht auf Sicherheit vor Angriffen von außen.

Das kann nur gelingen, wenn es auch zu einem Ausgleich unterschiedlicher Interessen kommt. Aufgrund seiner historischen Verantwortung gegenüber Israel und den Palästinensern kann und hat Deutschland die Verpflichtung, einen besonderen Beitrag zur dringend notwendigen Verständigung leisten, ohne die es Sicherheit für niemanden geben kann.

Der Erhard-Eppler-Kreis “Frieden 2.0” ist ein politischer Arbeitskreis, den Erhard Eppler noch kurz vor seinem Tod ins Leben gerufen hat. Er entstand aus Sorge über die Gefahren, die durch die Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA im Jahr 2019 entstanden sind. Der Kreis führt das Erbe von Erhard Eppler fort, organisiert Veranstaltungen, arbeitet mit Institutionen zusammen und fördert den Dialog mit politischen Entscheidungsträgern mit dem Ziel, die Mechanismen des Friedens verständlich zu machen. Erhard Eppler (1926-2019) war ein deutscher SPD-Politiker, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1968-1974), Bundestagsabgeordneter (1961-1976), Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg (1976-1982), und eine bedeutende Persönlichkeit der Friedensbewegung der 1980er Jahre, zudem engagiert im Umfeld der evangelischen Kirche. Frieden 2.0 ½ Erhard-Eppler-Kreis: Vorsitzender Dr. h.c. Gernot Erler, Staatsminister a.D. und Dr. Ralf Stegner MdB; Koordination: Axel Fersen info@erhard-eppler-kreis.de www.erhard-eppler-kreis.de

Über Christoph Habermann:

Ein Kommentar

  1. Avatar-Foto
    rudolf schwinn

    Siehe da: Es gibt noch Sozialdemokraten in der SPD.
    Doch die sitzen weder am Kabinettstisch noch in Führung-Zirkeln.
    Starken Dank für die Dokumentation des Vernunft-Papiers des Eppler-Kreises.

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