Beueler-Extradienst

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Ideologische Verblendung?

Das “Friedensmanifest” der SPD haben honorige und kluge Leute verfasst, die damit einen Anstoss geben wollen, aus der herrschenden Denkspirale der Gegenwart auszubrechen und mit klarem Kopf und offenem Verstand die verfahrene Situation in Europa zu überdenken. Was sie bisher ernten, sind unqualifizierte Kommentare, persönliche Angriffe und Diffamierungen.

Enttäuschend bis zur Peinlichkeit der Kommentar der grünen Verteidigungsexpertin Agnieska Brugger, es handle sich nur um Leute, die nichts geworden seien – das mag für Hofreiter, Roth und Strack-Zimmermann zu Zeiten der Ampelkoalition zugetroffen haben – gegenüber Norbert-Walter Borjans, Christoph Habermann oder Wolfgang Lieb und Rolf Mützenich ist das einfach unter ihrem intellektuellen Niveau. Ins gleiche Horn tutete Robin Wagener und innerhalb der SPD meldeten sich vor allem diejenigen, die bereits in der Vergangenheit nur in einseitiger Rüstungsspirale gedacht haben und denken.

Politiksimulationen schießen sich auf SPD ein

ZDF-Simulator Markus Lanz redet über das Papier, ohne einen der Autoren oder Unterzeichner:innen. Jan van Aken (Linke) wider Willen  gegen drei wenig Kompetenz zeigende, aber nicht minder forsche “Expert:innen”. Da fordert Frank Sauer  eine halbe Million Bundeswehrsoldaten, bevor in Europa über Kooperation mit Russland nachgedacht wird. Da meint ein naßforscher Blogger namens Espenlaub, das Papier brauche niemand, es sei doch ganz selbstverständlich, dass wer auch immer irgendwann wieder mit Russland reden werde. Dazu Mariam Lau “Die Zeit”, die  Entspannungspolitik und “Wandel durch Annäherung” für “völlig überholt” hält. Argumente gegen den Inhalt des Papiers gab es nicht zu hören. Es ging allein darum, die schwer fassbare Mainstream-Argumentation “der Russe kommt, wenn wir nicht hochrüsten” gegen jede Kritik zu immunisieren. Ich kenne sowas von meinem Onkel, Oberstleutnant der Bundeswehr, Kriegsteilnehmer, er behauptete so etwa um 1965 herum, “ohne die Amerikaner steht der Russe in 48 Stunden am Atlantik!” Und unisono tun sie alle so, als wäre das nur eine innerparteiliche Diskussion der SPD und nicht ein Thema, das vielen früheren SPD- und Grünenwähler:innen auf der Seele liegt. So verhintert man eine breite gesellschaftliche Diskussion. Wohin das führt, haben wir während und nach der Corona-Krise hinlänglich zur Kenntnis nehmen müssen.

Die Legende vom Angriff Russlands 2029

Die mithilfe des alten Bundestags beschlossene Verschuldung von 500 Milliarden, darunter weitere 100 Milliarden für Aufrüstung allein in Deutschland ist gigantisch. 400 Milliarden Euro gibt Europa derzeit einschließlich Großbritannien für Rüstung aus, Russland 125 Milliarden. Die schwarz-rote Koalition hat darüber hinaus eine exorbitante Erhöhung  auf 3,5% des Bruttosozialprodukts vereinbart, Merz gar in Gesprächen mit Trump über 5% für denkbar erklärt. Diese geradezu wahnwitzige Verlagerung der Staatsausgaben zugunsten des militärisch-industriellen Komplexes kann nicht unwidersprochen bleiben. Die angebliche Angriffsfähigkeit Russlands auf die EU 2029 ist durch keine wissenschaftlichen Fakten erwiesen und ist damit pure Ideologie. Wer ist eigentlich auf die Schnapsidee gekommen, Rüstungsinvestitionen am Bruttosozialprodukt zu orientieren? Als die Bundeswehr noch “groß” war, im kalten Krieg und 500.000 Soldaten hatte, kursierte übrigens ganau dort ein Witz: “Was ist das Auftrag der Bundeswehr? – Den Feind an der Grenze solange aufzuhalten, bis richtiges Militär kommt.”

Soziale Folgen der Aufrüstung völlig unterbelichtet

Wie sollen Wohnungsmangel, Bildungskrise und der bevorstehende  Kollaps des Gesundheits- und Pflegesystems von der Gesellschaft bewältigt werden, wenn ein ständig wachsender Anteil des Haushaltes bei unklarer Entwicklung der Wirtschaft, der Energie- und Verkehrswende, für Aufrüstung ausgegeben werden soll? Wie soll die von russischen Trollen im Internet, disruptiven Algorithmen der US-asozialen Netzwerke und umfassenden Netzwerken der AfD und anderen Rechtsextremisten verunsicherte Bevölkerung zu rationalem Diskurs- und Wahlverhalten zurückgebracht werden, wenn soziale Sicherheit und Löhne immer weiter abgebaut, die unteren Schichten ökonomisch immer mehr verunsichert werden und zweifeln, ob die Demokratie die richtige Staatsform ist, für die Menschen zu sorgen, wie es viele im Osten schon lange tun?

Nachdenken Existenzfrage für Europa

Die Fähigkeit, eine Perspektive zum Ausstieg und einer Politik nach dem Ukrainekrieg aufzuzeigen, wäre für Grüne und SPD deshalb existenziell – findet aber nicht statt. Stattdessen wird mit dem Totschlagargument “Putin will doch nicht verhandeln” jede kritische Diskussion über die Mega-Rüstungsphantasien abgewürgt. Natürlich wissen auch die Autor:innen des Papiers, dass Putin nicht verhandeln will. Aber kann das wirklich ein Grund sein, nicht mehr über Wege zu einer Sicherheitsarchitektur in Europa nachzudenken? Natürlich dürfen die EU-Staaten nicht zögern, die Ukraine weiter mit Waffenlieferungen, aber auch mit humanitärer Hilfe für Geflüchtete und Wirtschaftshilfen zu unterstützen. Aber nicht über Lösungen der Interessenskonflikte und Wege dorthin nachzudenken, ist das nicht ebenso naiv, wie der Glaube, “die Ukraine könne siegen”, wie es von Außenministerin Baerbock über Marie-Agnes Strack-Zimmermann, aber auch von einer von Kriegsrhetorik geprägten Stimmung in der Bundeshauptstadt in den letzten drei Jahren permanent verkündet wurde?

Eine permanente Konfrontation schadet allen

Russland ist unser unverrückbarer Nachbar im Osten Europas und wird es noch in Jahrzehnten, wahrscheinlich Jahrhunderten sein. Wir teilen nicht nur den selben Kontinent, sondern stehen auch den gleichen Umweltkrisen, dem Abschmelzen der Pole, Auftauen des Permafrostbodens und zunehmenden Klimaveränderungen gemeinsam gegenüber. Natürlich kann Putin und sein autoritärer Apparat versuchen, diese Entwicklungen zu ignorieren. Aber allein die Umweltfaktoren und die Kosten, die eigene Bevölkerung mittelfristig zu einer Toleranz der Kriegskosten und des Konsumverzichtes  zu nötigen, werden früher oder später einen Grenznutzen erreichen. Wann das ist, wissen wir nicht, aber dass dieser Zeitpunkt kommen wird, ist unausweichlich. So sicher, wie die Bürger:innen USA irgendwann nicht mehr bereit waren, die Kosten des Vietnamkrieges auf sich zu nehmen.

Nachdenken eine Existenzfrage für Grüne und SPD

Wie kommt man in einer Situation, in der die einstigen Errungenschaften der Enspannungspolitik, der KSZE-Prozess, der Europarat, das gekündigte Abkommen über Mittelstreckenraketen, das ausgelaufene, aber immerhin noch eingehaltene START-Abkommen über die Begrenzung der interkontinentalen Atomsprengköpfe praktisch nicht mehr existieren, keine Bedeutung mehr haben oder einfach mißachtet werden – von beiden Seiten übrigens – wieder zu gültigen Absprachen? Es ist allzu bequem und intellektuell unehrlich, dem  allen mit den imperialen Gelüsten Puntins und seiner Entourage zu begegnen und das Heil in der Rüstung zu suchen. Helmut Schmidt war da schon etwas intelligenter.

Eine vergebene Chance

Die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen nicht einfach zu verkünden, wie es die Ampelregierung gemacht hat, sondern mit einem Verhandlungsangebot verbindlich zu koppeln, wäre der erste Schritt, Russland mittelfristig zum Verzicht oder der Reduzierung des Baus von gleichartigen Hyperschallraketen zu bewegen. Dass Olaf Scholz diese einfach durchgewunken hat und auch die Grünen keinen Gedanken daran verloren haben, hier Bedingungen zu knüpfen, weist nicht nur auf einen Mangel an strategischer Denkfähigkeit hin, sondern hat der Glaubwürdigkeit beider Parteien bei ihrer Kernwähler:innenschaft massiv geschadet. Das Thema Frieden darf nicht falschen Friedensfreunden von AfD über  BSW bis zu den Schwurblern überlassen werden.

 

 

 

Über Roland Appel:

Avatar-FotoRoland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Avatar-Foto
    VHG 🇪🇺🇺🇦

    @rolandappel und das Thema darf nicht Leuten überlassen werden, die nichts von Diplomatie verstehen – also z.B. der #spd, die an Russlands Radikalisierung immer kräftig mitgebaut hat. Und die, gemeinsam mit #dieLinke , diese seltsame Russland-Romantik betrieben hat, obwohl Putins Russland ein totalitärer, illiberaler Staat ist.
    Die Linke befindet sich nach der Abspaltung von #moskausahra da auf einem guten Weg, denke ich.

  2. Avatar-Foto
    Ingrid Schöll

    Herzlichen Dank für diesen Artikel und die Erinnerung daran, dass viele Diskussionen in der SPD und bei den GRÜNEN vor etlichen Jahren schon einmal wesentlich differenzierter, kenntnisreicher und auch toleranter geführt wurden. Es bedarf in dieser Debatte nicht nur pseudo-militärischer Rhetorik, sondern u.a. auch profunder Kenntnisse in Physik und im Verfassungsrecht, wie frühere Diskussionen (an die zu erinnern heute mehr als nützlich wäre) gezeigt haben. Politik ist mehr als das ewige Wiederholen von – woher auch immer resultierenden – Feind-Stereotypen, es ist auch die wichtige Kunst der Diplomatie – und das ist mehr als bloßes Rechthaben. Es erfordert die Fähigkeit, sich in die Lage anderer hineinversetzen zu können. Quo vadis SPD? Quo vadis GRÜNE? Kein Geld mehr für das Deutschlandticket, aber jeden Tag mehr für‘s Militär. So füttert man Populismus…

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