Wie die App Lizzy Risikofälle früh erkennt
Gewalt in Partnerschaften beginnt oft lange vor der ersten sichtbaren Eskalation. Die KI-gestützte Anwendung Lizzy soll helfen, diese Risiken frühzeitig zu erkennen – bevor es zu spät ist. Entwickelt von einem Berliner Start-up, wird die App bereits in Frauenhäusern und Beratungsstellen eingesetzt. Demnächst auch bei der Polizei? Datenwissenschaftlerin Ba-Linh Le erklärt, wie Lizzy funktioniert – und wo ihre Grenzen liegen.
Ba-Linh, du bist Mitbegründerin des Berliner Start-up Frontline und erforschst und entwickelst Lösungen gegen häusliche Gewalt. Ihr habt mit Lizzy eine Anwendung zur Gefährdungsanalyse bei Partnerschaftsgewalt entwickelt. Warum braucht es so ein Tool überhaupt?
Lizzy wurde entwickelt, um Gewalt besser einschätzen zu können – systematisch, datenbasiert und verständlich. Zwar gibt es bereits viele Instrumente, aber oft sind sie veraltet, nicht einheitlich oder stark vom Bauchgefühl der Anwenderinnen und Anwender abhängig. Wir wollten ein Tool schaffen, das wissenschaftlich fundiert, benutzerfreundlich und vor allem für die Betroffenen nachvollziehbar ist.
Ich habe gelesen, dass Lizzy das Risiko mit bis zu 98 Prozent Genauigkeit vorhersagen kann.
Man muss hier unterscheiden. Wir haben zwei Modellkategorien: Die eine Kategorie an Modellen bewertet das Risiko aktueller oder anhaltender Gewalt, da liegen wir bei etwa 98 Prozent Genauigkeit. Die andere Kategorie blickt auf die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Gewalt. Hier liegt die Trefferquote bei etwa 80 bis 84 Prozent. Beide Modellkategorien haben also unterschiedliche Aufgaben.
Wie sieht eine typische Situation aus, in der Lizzy zur Anwendung kommt?
Zum Beispiel im Rahmen eines Polizeieinsatzes, bei dem es Hinweise auf häusliche Gewalt gibt – etwa nach einem Notruf oder einem eskalierten Streit in der Wohnung. Die Polizei ist laut EU-Gewaltschutzrichtlinie und Istanbul-Konvention verpflichtet, eine Gefährdungsanalyse durchzuführen. Das passiert derzeit häufig auf Papier, oder schlimmer: nach Gutdünken. Lizzy ersetzt diesen Papier-Fragebogen durch eine KI-gestützte Web-App. Die Polizistin oder Beraterin kann gemeinsam mit der betroffenen Person die Fragen durchgehen – digital, strukturiert und nachvollziehbar. Die App liefert dann sofort eine Risikoauswertung und visualisiert, welche Formen von Gewalt vorliegen aber auch wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich diese in naher Zukunft wiederholen.
Kann man Lizzy auch privat herunterladen?
Nein, für den privaten Gebrauch ist sie noch nicht verfügbar. Dafür sind die Anwendung und das Thema einfach zu sensibel und müssen entsprechend behandelt werden. Man darf jedoch nicht vergessen, dass 75 Prozent der Betroffenen sich nie an das institutionelle Unterstützungssystem wenden. Wir müssen anfangen, Lösungen für diese schweigende Mehrheit zu finden: eine leicht zugängliche Risikobewertung könnte ein Anfang sein. Zurzeit ist Lizzy in acht Bundesländern im Einsatz. Beratungsstellen, Frauenhäuser, Interventions- und Koordinierungsstellen nutzen das Tool. Es ist am besten, wenn Gewalt so früh wie möglich erkannt und so schnell wie möglich agiert wird, um den Gewaltkreislauf zu durchbrechen. Gerade in Beratungsstellen bekommen wir sehr positives Feedback zu der Anwendung, weil man mit Lizzy eben auch nichtkörperliche Gewalt besser sichtbar machen kann. Viele Betroffene erkennen das Risiko zunächst nicht und sind schockiert, wie viele Formen von Gewalt sie bereits erlebt haben – oft, ohne sie als solche einzuordnen.
Und was passiert mit den Ergebnissen?
Zunächst geht es darum, das Risiko zu erkennen. Dann folgen weitere Schritte. Bei einem hohen Risiko spricht man mit der betroffenen Person über Möglichkeiten – etwa, die Polizei einzuschalten. Aber selbst, wenn die App ein Hochrisiko anzeigt, entscheidet am Ende immer die betroffene Person, ob sie diesen Schritt gehen möchte. Auch mittlere oder niedrige Risiken geben wichtige Hinweise, etwa zu emotionaler oder digitaler Gewalt. Dann geht es eher um Unterstützung, Stabilisierung oder Schutzmaßnahmen. Wir stellen die Ergebnisse dafür visualisiert in einem Spinnennetzdiagramm dar. Dort sieht man die fünf Dimensionen: körperlich, sexualisiert, emotional, digital, finanziell. Es wird eingeschätzt, wie hoch das Risiko derzeit ist – und wie es sich in den kommenden drei Monaten entwickeln könnte. Das ist eine bewusste Entscheidung: Wir wissen aus der Praxis, dass langfristiger Kontakt zu den Betroffenen oft nicht möglich ist. Und aus der Forschung, dass Vertrauen in Hilfssysteme mit der Zeit abnimmt. Darum wollen wir möglichst früh ansetzen.
Digitale Gewalt ist für viele noch schwer greifbar. Was genau ist damit gemeint?
Digitale Gewalt ist der Versuch, Kontrolle und Macht über eine Person über die digitale Sphäre auszuüben. Das kann das Mitlesen von Nachrichten sein, Standortverfolgung, das heimliche Speichern von Passwörtern, der Zugriff auf Konten, das Veröffentlichen von intimen Bildern oder die vollständige Isolation durch das Löschen sozialer Kontakte. Viele Betroffene wissen gar nicht, was ihr Partner technisch alles tut oder tun kann. Deshalb fragen wir in Lizzy: “Hat dein Partner Zugang zu deinem Handy?” Solche Fragen sind potenziell leichter zu beantworten als: “Hat er dein Passwort?” – und erfassen trotzdem das Risiko.
Was passiert, wenn Lizzy flächendeckend eingesetzt würde? Habt ihr das mal durchgespielt?
Dann würden nichtkörperliche Gewaltformen viel früher erkannt: Digitale, finanzielle, emotionale Gewalt. Gerade digitale Gewalt ist für viele Beratungsstellen noch Neuland. Zudem würde häusliche Gewalt insgesamt früher unterbrochen werden. Aktuell fokussiert sich vieles auf Femizide. Dabei gibt es viele Fälle, in denen vorher jahrelange Gewalt ertragen wurde, ohne dass je ein Schlag gefallen ist. Im Idealfall würde Lizzy helfen, diesen Kreislauf beim ersten Anzeichen von Gewalt zu durchbrechen. Und den Betroffenen das Signal geben: Wenn du dich traust, Hilfe zu suchen, ist da jemand, der dich ernst nimmt.
Wo liegen die Grenzen von Lizzy?
Aktuell beschränken wir uns auf Partnerschaftsgewalt. Häusliche Gewalt umfasst aber auch Gewalt gegen Kinder, ältere Menschen oder zwischen Geschwistern. Das sind ganz unterschiedliche Dynamiken, die eigene Instrumente erfordern. Es gibt weltweit kein Tool, das all das gleichzeitig erfassen kann. Wir haben im Dezember 2024 eine Studie gestartet, die den Zusammenhang von Kindesmissbrauch und Partnerschaftsgewalt untersucht. Wenn die Daten valide sind, wollen wir Lizzy um ein Modell für Kinder erweitern.
Du hast vorhin das Bauchgefühl angesprochen. Wie verlässlich ist das im Vergleich zu standardisierten Analysen?
Es gibt eine spannende Studie aus der Schweiz: 30 Fälle häuslicher Gewalt wurden zwei Gruppen vorgelegt. Gruppe 1 bestand aus forensischen Psychiater*innen, Gruppe 2 aus Psychologie-Studierenden. Die Expert*innen durften frei entscheiden, wie sie vorgehen. Die Studierenden sollten eine strukturierte Gefährdungsanalyse nutzen. Das Ergebnis war deutlich: Die Expert*innen lagen in 44 Prozent der Fälle richtig, die Studierenden in 78 Prozent. Das zeigt: Strukturen schlagen Erfahrung, wenn es um Risikoeinschätzung geht.
Welche Erfahrungen habt ihr mit der Polizei gemacht?
Der Kontakt zu Polizeistellen ist langwierig, weil das Ländersache ist. Eine wichtige Unterstützerin ist Angélique Yumusak, Bundesbeauftragte der Deutschen Polizeigewerkschaft. Ihr ist das Thema ein echtes Anliegen. Sie sagt klar: Bauchgefühl reicht nicht. Es gibt zu viele Unterschiede in Ausbildung und Erfahrung, um sich allein darauf zu verlassen.
Welche Rollen spielen Vorurteile in der KI ? Sogenannte Bias?
Wir sehen Bias nicht als etwas, das man fürchten muss, sondern als etwas, das man bewusst in die Entwicklung einbeziehen muss. Wir testen Lizzy darauf, ob sie bei bestimmten Gruppen anders reagiert. Etwa bei Menschen mit Migrationshintergrund oder wenn jemand versucht, sozial erwünschte Antworten zu geben. Nur wenn man das aktiv überprüft, kann man Verzerrungen minimieren.
Und was bedeutet das für die Rolle von KI im Gewaltschutz?
Es gibt drei Arten von KI: Die, die Menschen ersetzen, wie bei der Übersetzung. Die, die Prozesse effizienter machen. Und die, die Menschen unterstützt. Lizzy gehört zur dritten Kategorie. Sie soll nicht entscheiden, sondern begleiten. Am Ende braucht es immer eine Fachkraft, die mit den Ergebnissen arbeitet und gemeinsam mit der betroffenen Person Schritte überlegt.
FAQ: Häusliche Gewalt erkennen mit KI: Was Lizzy kann
Was ist Lizzy – und wofür wird die App eingesetzt?
Lizzy ist ein digitales Analyse-Tool zur Einschätzung von Partnerschaftsgewalt. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um das Risiko aktueller und zukünftiger Gewalt datenbasiert zu bewerten. Eingesetzt wird es bereits in Frauenhäusern und Beratungsstellen in acht Bundesländern.
Wie genau ist Lizzy in der Risikoanalyse?
Bei der Einschätzung aktueller Gewalt liegt die Genauigkeit bei bis zu 98%, bei der Prognose zukünftiger Gewalt bei rund 80–84%. Die Ergebnisse werden in einem Spinnennetzdiagramm visualisiert – mit fünf Gewaltformen: körperlich, sexualisiert, emotional, digital, finanziell.
Kann die App auch digitale Gewalt erfassen?
Ja. Lizzy fragt gezielt nach Formen digitaler Kontrolle – etwa ob der Partner Zugriff auf das Handy hat oder Nachrichten mitliest. So werden Macht- und Kontrollstrukturen sichtbar, die oft unterschätzt werden.
Ist Lizzy für die private Nutzung verfügbar?
Noch nicht. Derzeit ist die Anwendung ausschließlich für Fachkräfte gedacht – wegen der Sensibilität der Daten und des Beratungsbedarfs. Langfristig denkt das Team aber über niedrigschwellige Angebote für Betroffene nach, die sich (noch) nicht an Hilfseinrichtungen wenden.
Wie wird sichergestellt, dass Lizzy keine Vorurteile verstärkt (Bias)?
Die Entwicklerinnen testen Lizzy regelmäßig auf diskriminierende Effekte – etwa bei Nutzerinnen mit Migrationshintergrund oder bei sozial erwünschten Antworten. Ziel ist es, Verzerrungen zu minimieren, nicht zu verdrängen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von ver.di-publik, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
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