Wundersame Bahn CCXXVI – sie kann nicht langweilig (funktionieren)

Als ich noch gedruckte Tageszeitung las, also als junger Mann, da war es diesem Medium wichtig, aktuell zu sein. Nach Möglichkeit, wie der Name schon sagt, tagesaktuell. Als ich nun in einer ausserordentlichen Lebensphase war, einer Reha nach einem Herzinfarkt, fern der Heimat und des Computers, hinter den sieben Bergen auf einem Hochplateau am nördlichen Moselufer, erspähte ich eine gedruckte Tageszeitung aus der fernen Heimat: den Kölner Stadt-Anzeiger. Seit Jahrzehnten lese ich ihn nicht mehr, seit er seine hochqualifizierte Bonner Lokalredaktion geschlossen hatte. Und seine digitale Ausgabe radikal mit einer Paywall verrammelt. Gefehlt hat er mir nicht. Aber nach so langer Zeit und nun in der Ferne: warum es nicht nochmal versuchen? Stolze knapp 5 Mark kostet das bisschen Papier. Aber mann gönnt sich ja sonst nichts.

So las ich vor drei Wochen eine ganze Seite 3 über eine Reklameveranstaltung von Go:Rheinland, von dessen Existenz ich nur durch meinen Mitautor Helmut Lorscheid überhaupt erfahren habe. Ist das das neue Branding von Verkehrsverbund? Oder nur eine Zusatzbeschäftigung von Kommunalpolitiker*innen, die ihre Fraktion in ihrer Heimatstadt nicht unnötig bei der Arbeit stören sollen?

Jedenfalls verhiess diese Seite 3 des Kölner Stadt-Anzeiger, dass in Kürze im ÖPNV des Rheinlandes Milch und Honig fliessen sollen. Überall neue Linien und Picobello-Bahnhöfe wohin das Auge reicht. Die Schreckensnachricht, unerwähnt in grossen Schlagzeilen und kleinen Zwischenüberschriften, verbarg sich im Fliesstext – und wer liesst den schon in einem Ganzseitenformat? Die Sache mit den Kölner Eisenbahnbrücken aus dem 19. Jahrhundert. 150 Jahre haben sie gehalten. Damit soll es nun vorbei sei. Und beginnend 2028 für – geplant! – 16 Monate soll dann nichts mehr gehen zwischen Köln Hbf. und Hürth-Kalscheuren. Das ist das Nordende der meistbefahrenen Eisenbahnstrecke Europas. Wenn also das “digitale Stellwerk Köln” möglicherweise doch nach gefühlt 30 Jahren fertig ist, ist der Bahnbetrieb in unserer Region auch fertig. Mit allem. Was mögen geplante 16 Monate in der Wirklichkeit bedeuten? Machen wir aus 16 60? Das wären dann nur fünf Jahre. Dachte ich bei Lektüre dieser Seite 3 des Kölner Stadt-Anzeigers auf dem Kueser Plateau.

Während ich eilig Kölner Freund*inn*e*n telefonisch von meiner Lektüre unterrichtete und mich fragte, warum der Stadt-Anzeiger davon gestalterisch so geringes Aufhebens gemacht hatte, muss sich wohl jemand in seiner Redaktion die gleiche Frage gestellt haben. Und siehe, nur zwei Wochen später wurde die erste und die letzte Druckseite mit ebendiesem Hammer gefüllt. Geht doch. Wenn auch nicht tagesaktuell. Ist ja noch Zeit bis 2028.

Und nur fünf weitere Tage später hat das “unser” Bonner General-Anzeiger (im Eigentum der Oligarchenclans der Düsseldorfer Rheinischen Post) auch gelesen. Und jetzt ist die Aufregung plötzlich auch in den einst relevanten Windschutzscheiben-Medien gross. (Verlinkungen zwecklos, alles Paywalls)

Betroffene Pendler*innen überlegen schon seit Wochen, wie sie schneller in die Rente gelangen können. Denn wer will schon vom hiesigen ÖPNV einen Herzinfarkt bekommen? Ich kann davon nur abraten. Aus Erfahrung.

Die Heimreise von der Reha dauerte übrigens 7 statt 2 Stunden. In Koblenz-Lützel war ein Güterzug entgleist. Rechtsrheinisch fuhr sowieso nichts …

Über Martin Böttger:

Avatar-FotoMartin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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