Es gibt keine Sicherheit im Zeitalter ungelernter Lektionen – Feindschaft im Atomzeitalter, US-Hegemonie, Ukraine-Krieg
Im Frühjahr erregte der US-Abgeordnete Walberg (Republikaner) Aufsehen. Er verknüpfte Russland, China und Nordkorea als Unterstützer der Hamas und sagte, man solle den Gaza-Streifen „schnell erledigen“. So wie Hiroshima und Nagasaki. Humanitäre Hilfe lehnte er ab. Al Jazeera hatte das Video. Walberg ruderte zurück. Er habe nur eine Metapher benutzt, berichtete die Times of Israel.
Normalerweise werden die USA nicht gern daran erinnert, dass sie Hiroshima und Nagasaki atomar zerbombten. Die Berliner Linken verzichteten in ihrer Stellungnahme zum 80. Gedenktag der atomaren Zerstörung Hiroshimas auf die Benennung des Täters. Die Frankfurter Rundschau konnte sich auch nicht umgehend erinnern, wer damals der Täter war. Heute machte sie drei Jongleure im Spiel mit dem atomaren Feuer aus, allesamt “autoritäre” Regierungschefs. Wäre da nur nicht der versuchte Griff nach der “Bombe”, der auch in diesem Land kein Tabu mehr zu sein scheint.
Die Welt erklärte in einem Artikel, warum die USA den Einsatz für „nötig“ hielten und bezog sich dabei auf die Arbeit eines britischen Historikers. Danach habe es unter anderem eine Enthemmung gegeben, eine Gewöhnung an viele zivile Tote. 100.000 Menschen auf einmal umzubringen, erschreckte nicht bis ins Mark, solange das mit einem Papier legitimiert war. Die Welt erinnerte auch daran, dass die wenigsten (einschließlich Militärs) tatsächlich verstanden, was diese neue „Spezial-Waffe“ bedeutete. Von den Langzeitwirkungen einer Atombombe hatten sie keine Vorstellung. Dem US-Verteidigungsminister wurde später klar, dass diese Waffe alles änderte. Daher wollte er sie mit der Sowjetunion teilen. Auch dieses Ansinnen scheiterte. Der Welt-Artikel unterstützte auch die These, durch den Abwurf zweier Atombomben sei das Leben vieler US-Soldaten gerettet worden. Wenn man dieses Argument zu Ende denkt, muss man sich als Deutscher glücklich schätzen, dass das US-Atomwaffenprogramm nicht schneller gelang, bzw. die Rote Armee nach den großen Schlachten von Stalingrad und Kursk mit großer Geschwindigkeit Kurs auf Berlin nahm. Denn die schwersten Verluste erlitten die USA im Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden. Welche deutschen Städte wären wohl atomar bombardiert worden?
Im damaligen „Zeitgeist“ kapitulierte die Menschlichkeit vor der Logik des Kriegs.
Aufgrund der Gräuel des Zweiten Weltkrieges wurde das Kriegsrecht neu geschrieben. Dazu gehört, dass der Gebrauch von Waffen, die nicht zwischen Militärangehörigen und zivilen Personen unterscheiden, verboten sind. Flächenbombardements, so wie sie Menschen in Hamburg, Köln, Dresden oder Tokio erlitten, sind verboten. Massenvernichtungswaffen – biologische, chemische, auch nukleare – sollen ebenfalls nicht eingesetzt werden. Chemiewaffen und Biowaffen sind inzwischen durch internationale Konventionen geächtet, aber beide Konventionen haben nach wie vor große Schwachstellen. In der Frage eines Atomwaffenverbots gab es mit dem Tauwetter des Kalten Krieges Fortschritte. Es schien möglich, eine Welt ohne Atomwaffen zu bauen. In einem ersten Schritt wurde eine ganze Waffengattung, die Mittelstreckenwaffen, abgeschafft.
Wäre es 1986 nach dem Willen der alten Bundesrepublik Deutschland gegangen, wären auch die strategischen Atomwaffen eliminiert worden. Die USA hatte zu dieser Frage, die mit der Sowjetunion erörtert wurde, ihre Alliierten konsultiert. Damals wusste man noch, dass ein atomar ausgetragener Konflikt zuallererst beide deutsche Staaten vernichten würde.
Eine US-geführte Ordnung hat andere Prioritäten. Wenn es um die Absicherung von Weltherrschaft geht, wird kein potentieller Rivale geduldet, braucht es Feinde, lodert die Gier nach einem alles vernichtenden Erstschlag immer wieder auf. In einer solchen Welt wird der Mythos gebraucht, dass Atomwaffen Sicherheit bedeuten. Tatsächlich muss die Drohkulisse der wechselseitig gesicherten atomaren Vernichtung (MAD) glaubhaft sein, um überhaupt zu funktionieren. Es ist eine „MAD-world“, die ihrem Namen alle Ehre macht: Sie ist komplett irre. Oder ist es etwa vernünftig, zu glauben, eine „nukleare Teilhabe“ schütze Deutschland in irgendeiner Weise?
In einer US-Studie aus dem Jahr 2015, die kürzlich Jeffrey Sachs zur Lektüre empfahl, konnte man lesen: „Seit ihrer Gründung verfolgten die USA eine große Strategie, die darauf abzielte, die Vorherrschaft über verschiedene Rivalen zu erlangen und zu erhalten, zunächst auf dem nordamerikanischen Kontinent, dann in der westlichen Hemisphäre und schließlich weltweit.“ Nun, im 21. Jahrhundert, so die Autoren weiter, braucht es eine neue große Strategie, „die aus der klaren Erkenntnis hervorgehen (müsse), dass die Wahrung der Vorrangstellung der USA im globalen System auch im 21. Jahrhundert das zentrale Ziel der USA bleiben sollte.“
Das ist gemeint, wenn die Bewahrung der „regelbasierten Ordnung“ beschworen wird. In diesem Sinn sind Russland und China „revisionistische“ Mächte, die sich dem Imperator und dessen gerne-großen Steigbügelhaltern (sprich „Alliierten“) nicht beugen.
Fast alles, was an atomaren Abrüstungsvereinbarungen aus der Zeit des Kalten Krieges stammte, wurde zerschlagen. Zuerst fiel der ABM-Vertrag amerikanischen Interessen zum Opfer, damals gegen den Widerstand Russlands. Dann wurde das Verbot von Mittelstreckenraketen ausgehebelt. 2026 sollen nun wieder US-Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden stationiert werden. Keiner fragt, ob sie nuklear bestückt sein werden. Darüber wird schlicht geschwiegen. Am 4. August kündigte Medwedew an, dass Russland sich nun nicht mehr an sein Moratorium zur Nichtstationierung von Mittelstreckenraketen in Europa halten wird.
Verhängnisvollen Entscheidungen folgen neue verhängnisvolle Entscheidungen.
In ihrer Konsequenz besteht größte Unsicherheit, was unser Überleben betrifft. Nicht weil andere böse Mächte mit Atomwaffen drohen, sondern weil die US-geführte Nato sich selbst die Bedrohung erschuf. Sie war nicht bereit zu einer integrativen, den ganzen Kontinent umspannenden Sicherheitsarchitektur, nicht bereit, legitime Sicherheitsinteressen Russlands aufzugreifen, nicht bereit, Abrüstung Priorität einzuräumen. Sie sucht anhaltend den Konflikt mit Russland, den sie konventionell nicht gewinnen kann und verschärft so die Unsicherheit. In Responsible Statecraft beschrieb ein ehemaliger hoher britischer Militär kühl das ganze Dilemma.
Im Unterschied zum Kalten Krieg gibt es heute fast keine diplomatischen Leitplanken mehr. Es gibt fast nichts mehr, was es ermöglichen würde, zumindest Fehldeutungen, Irritationen und Missverständnisse in regelmäßigen Kontakten und Gesprächen auszuräumen.
Ob es 2026 eine neue Verabredung zu strategischen Atomwaffen geben wird, ist völlig offen. So holt uns der Fluch falschen Handelns und des Nichtverstehens zumindest der Gefährdungen des Atomzeitalters wieder ein. Kae Tempest besang, dass ungelernte Lektionen Wiedergänger sind.
Wir gaukeln uns vor, wir seien sicher oder kommen in Sicherheit, sehen in der Militarisierung das Licht am Ende des Tunnels. Geht es so weiter, wird es zu spät sein, wenn sich das Licht als nuklearer Blitz entpuppt. Die Verdrängung der realen Gefahr unserer Auslöschung, die größer nie war, stumpft ab. Sie macht mitleidslos. Mit uns selbst. Mit anderen. Sie erlaubt, dass allen Ernstes in der aktuellen Ausgabe von Foreign Affairs darüber sinniert wird, wie man das „neue nukleare Zeitalter“ Atomzeitalter überlebt. Die Autoren sprechen von der Möglichkeit, dass auf die USA ein „nuklearer Hurrikan“ zukommt, ein atomarer Angriff Russlands, Chinas, Nordkoreas, entweder einzeln oder gemeinsam. Deshalb müssen die USA entschlossen handeln. Was die Autoren (und dabei stehen sie nicht allein auf weiter Flur) konsequent negieren ist, dass nur die US-Doktrin zum Einsatz von Nuklearwaffen eine Erstschlagsoption enthält. Was sie ebenfalls konsequent negieren:
Niemand gewinnt einen Nuklearkrieg.
Als Medwedew Trump auf Telegram – in einer teilweise frechen Antwort auf einen post von Trump (der ebenfalls ungehörig war) – daran erinnerte, dass es in Russland das System der „toten Hand“ gebe, das sichert, dass ein atomarer Angreifer als zweiter vernichtet wird, wurde das in Washington als russische Eskalation begriffen und flugs (zusätzlich) zwei atomar bewaffnete US-U-Boote gen Russland beordert.
Was soll man dann davon halten, dass die Trump-Administration beschloss, US-Nuklearwaffen in Großbritannien zu positionieren? Was soll man schlussfolgern, dass ein US-General (womöglich abgestimmt mit Washington) alle Welt wissen ließ, dass die Nato Pläne zur Eroberung des russischen Kaliningrad hat, die (angeblich) garantiert funktionieren werden? Was daraus, dass die Trump-Administration mit neuen Sanktionen, die noch „kriegsähnlichere“ Wirkungen (in Anlehnung an die Biden-Rede in Warschau 2022) haben sollen, inzwischen neben Russland auch noch dessen Handelspartner bedroht? Was soll man denken, wenn der Iran inmitten von Verhandlungen anlasslos bombardiert wird?
Sind das Rauchzeichen einer Friedenspfeife? Oder sind das Zeichen des sich ausdehnenden Weltenbrands?
Wer den Verlust der USA-Dominanz mit dem Ausgang des Stellvertreterkriegs in der Ukraine verbindet, kann nicht wanken, nicht weichen. Der führt notfalls Krieg bis zum letzten Ukrainer, bis zum letzten Europäer, bis zum letzten Menschen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.
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