Nur fürs Protokoll – Büchners einfache Frage: Warum gegeneinander kämpfen? – Ukraine, Russland, Kriegstreiberei und ein Gipfel

Zum hundertsten Geburtstag von Ernst Jandl verfasste Thomas Schmid einen Artikel, den die Welt unter der Überschrift „Wir haben uns von dem, was die moderne Welt zur Hölle macht, seit 1945 noch nicht getrennt“ präsentierte. Ein Leser, „Pooh Baer“, kommentierte den Artikel mit der Bemerkung: „Einer wie Jandl käme jetzt gerade recht gegen Pistorius` Kriegstreiberei.“ Daraufhin schaltete sich umgehend Oliver Michalsky, Chefredakteur WELT Digital ein: “Nur fürs Protokoll: Der Kriegstreiber heißt Putin.“

„Nur fürs Protokoll“: Ich dachte umgehend an ein Buch, das in der DDR in der Reihe „Bibliothek des 18. Jahrhunderts“ erschien und den Titel „Was ist ein Amerikaner?” trug. Es enthielt alle entscheidenden politischen Dokumente aus der Gründungszeit der USA. So schmuggelte man damals “Konterbande“ an der Zensur vorbei.

Wer den großartigen Artikel von Schmid gründlich liest, findet den Weg zur Dankesrede von Jandl anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1984. Schmid verlinkte sie. In dieser Rede griff Jandl einen Gedanken von Büchner zum Frieden auf:

„Unser aller Sorge betrifft den Frieden; wenigstens tun alle so. Dazu, ein letztes Wort Büchners, aus dem Mund seines Danton: »… wozu sollen wir Menschen miteinander kämpfen? Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben. Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden, es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür, wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?« Das ist ein Wort zum Frieden, welches unsere Unvollkommenheit, unsere Fehlerhaftigkeit, unser vorauszusetzendes Scheitern einbezieht. Mehr wird für uns nicht zu erreichen sein, als uns nebeneinander zu setzen und Ruhe zu haben.“

Mir gefiel das Bild vom ruhigen Nebeneinander. Es entspricht der Vorstellung von „friedlicher Koexistenz“. Sie löst nicht alle Konflikte, aber der politische Wille zur friedlichen Streitbeilegung überwiegt. Friedliche Streitbeilegung gehört zu den Prinzipien der UN-Charta. Es wird seit längerem nicht mehr erwähnt. Denn dieses Prinzip verträgt sich nicht mit dem andauernden US-amerikanischen Anspruch auf Weltherrschaft (Codewörter: globale Führungsrolle, globales Interessenspektrum, einzig verbliebene, „unverzichtbare“ Supermacht, volle militärische Dominanz im ganzen Spektrum). Wer unangefochten führen will, muss alles und jeden niederhalten. Der muss umfassend manipulieren und so viele wie möglich von der Notwendigkeit des Geführtwerdens (Vasallentums) „überzeugen“. Der muss seinen Willen notfalls militärisch exekutieren. Er muss Zwietracht säen, strafen, strafen und nochmals strafen. Kaum einer hat die Grundphilosophie der globaler Herrschaftssicherung der USA so deutlich aufgeschrieben wie Brzeziński.

Das ist die pax Americana. Sie verlangt Unterwerfung. Daher ist jede aufsteigende Macht ein Feind, ein gefährlicher Rivalen um den Thron. Selbst wenn der schon bröckelt, wenn die Macht nicht mehr so ausgeübt werden kann, wie man will, wird an der Allmachtphantasie noch festgehalten.

Geschichtlich betrachtet, sind die meisten niedergehenden Imperien nicht friedlich geschieden.

Wie der aktuelle Niedergang der USA bzw. der von ihr geführten „westlichen Welt“ ablaufen, wie lange er dauern wird, ist offen, aber die Gefährlichkeit des Prozesses ist kaum zu bestreiten. Wir leben im Atomzeitalter, mit verfeindeten Mächten, die auf einem großen Arsenal von Atomwaffen sitzen, die die ganze Welt verletzbar machen. In Sicherheit ist keiner. Unter solchen Bedingungen ist „Kriegstreiberei“ eine hochgefährliche, völlig irregeleitete Politik.

An allem ist nur Putin schuld, dieser „Kriegstreiber“, glaubt ein führender Journalist dieses Landes. Er steht mit diesem Glauben nicht allein auf weiter Flur. In diesem Glauben, man kann es auch Überzeugung nennen, sind große Teile der politischen und medialen Eliten unseres Landes, in der EU, auch in den USA gefangen. Davon gründlich abgespalten sind das Nachdenken über und die Einsicht in geschichtliche Prozesse, die Auseinandersetzung mit allem, was dem eigenen Glauben zuwiderläuft.

Die jüngste Erklärung, die die „Präsidentin“ von der Leyen (noch ist sie „nur“ Präsidentin der Europäischen Kommission), der finnische und der französische Präsident, sowie die Regierungschefs von Deutschland, Großbritannien, Italien und Polen im Vorfeld des Treffens zwischen Trump und Putin abgaben, ist ein treffliches Beispiel dafür.

Man kann sie auch als politische Bankrotterklärung erster Güte begreifen. Es gibt nur noch ein paar „Willige“ in der EU, bzw. auf der britischen Insel, die die politischen Ursachen dieses Krieges konsequent negieren, seinen Charakter als Stellvertreterkrieg nicht verstehen und die den Anspruch auf eine Sicherheitsordnung, die den gesamten europäischen Kontinent, erfasst, die also Russland einschließt, aufgegeben haben. Die Feindschaft zu Russland wollen die „Willigen“ behalten, das Trugbild von einer „freien“ Ukraine, die alles selbst entscheidet (einschließlich Nato-Mitgliedschaft?), auch. Es ist eine Erklärung an „daddy“, der es nun richten soll, aber nicht ohne die lieben Kleinen und nur so, wie sie sich das trotzig vorstellen.

Mit Realität oder Sicherheit für alle hat das alles gar nichts zu tun. Man fragt sich, auf welchem Planeten die „Willigen“ und ihre Sprachrohre leben. Ging an ihnen vorbei, was 2008 noch alle wussten: Dass die Nato-Einladung an die Ukraine eine „Art Kriegserklärung“ an Putin war? Ging an ihnen vorbei, wer sich die Ukraine als anti-russisches Projekt maßschneiderte und dabei das politische Zerbrechen der Ukraine riskierte? Ging an ihnen vorbei, wer den bewaffneten Kampf gegen den Donbas befahl? Ging an ihnen vorbei, wer die Erfüllung des Minsker Abkommens wollte, und wer das hintertrieb? Ging an ihnen vorbei, was der Nato-Generalsekretär 2023 zum Hintergrund des Ukraine-Krieges vor dem Europäischen Parlament unumwunden erklärte:

„Und wir müssen uns den Hintergrund vor Augen halten. Der Hintergrund war, dass Präsident Putin im Herbst 2021 erklärte und tatsächlich einen Vertragsentwurf vorlegte, den die NATO unterzeichnen sollte, um zu versprechen, dass es keine weitere NATO-Erweiterung geben würde. Das war es, was er uns geschickt hat. Und das war eine Vorbedingung dafür, dass er nicht in die Ukraine einmarschieren würde. Natürlich haben wir das nicht unterzeichnet. Das Gegenteil ist eingetreten. Er wollte, dass wir dieses Versprechen unterzeichnen, die NATO niemals zu erweitern. Er wollte, dass wir unsere militärische Infrastruktur in allen Bündnisstaaten, die seit 1997 der NATO beigetreten sind, also in der Hälfte der NATO-Staaten, in ganz Mittel- und Osteuropa, abziehen und die NATO aus diesem Teil unseres Bündnisses entfernen, indem wir eine Art B- oder Zweitklassemitgliedschaft einführen. Das haben wir abgelehnt. Also hat er Krieg geführt, um zu verhindern, dass die NATO näher an seine Grenzen rückt. Er hat genau das Gegenteil erreicht.“

Lesen die nicht?

Lesen die nicht, hören die nicht, sehen die nicht, oder wird nur das gelesen, gesehen, gehört, was in den eigenen Glauben passt? Fällt ihnen nicht auf, dass die „unabhängige“ Ukraine längst nicht mehr unabhängig ist, nicht, wenn es um Geheimdienste, militärische Strategien oder strategische Personalentscheidungen geht. Die heutige Ukraine hängt an den finanziellen und militärischen Transfers des Westens. Die faktischen Übernahme des militärischen Oberkommandos über die ukrainische Kriegsführung war in der New York Times und in Times nachzulesen, aber nur, weil sich die USA und Großbritannien stritten, von wem die angeblich genialen Empfehlungen kamen, wie der Krieg zu führen ist.

Ist ihnen nicht klar, dass der US-Präsident Biden nie an einen militärischen Sieg der Ukraine glaubte und trotzdem einen frühen Friedensschluss zwischen der Ukraine und Russland verhinderte, im Bestreben, Russland strategisch zu schwächen? (Quelle TIME) Begreifen sie nicht, wie fatal die aktuelle Kriegslage in der Ukraine ist? Sind sie völlig ignorant, dass die Sanktionspolitik, von der sich nicht nur Biden „kriegsähnliche“ Wirkungen auf Russland erhoffte, aus den Westen zurückschlug, in allererster Linie auf Deutschland?

„Wenn man weiß, wer der Böse ist, hat der Tag Struktur.“ (Volker Pispers)

Kürzlich korrigierte das Statistische Bundesamt seine Berechnungen zur Entwicklung des Bruttosozialprodukts 2023 und 2024 nach unten und zwar massiv – der Einbruch (Rezession) war sehr viel größer als angenommen. Das wurde hingenommen. Womöglich sind die „willigen“ Koalitionäre anhaltend Willens, Russland strategisch zu schwächen. Wie sie das anstellen wollen, bleibt ihr Geheimnis. Auf tapfere Durchhalteparolen folgt nichts. Womöglich halten sie auch alles, was nicht in die eigene Glaubenswelt passt, für russische Desinformation.

Wahrscheinlich glauben sie dem Narrativ der „Zeitenwende“, dass der Westen immer lieb und gut zu Russland war, in naivem Vertrauen immer wieder seine Hand ausstreckte. Aber wie hat es uns dieses KGB-geführte Russland gedankt? Mit der Unterminierung unserer Demokratie, mit Krieg, mit der Lust, das Sowjetimperium wiederherzustellen und demnächst über die Nato herzufallen.

Das ist zwar erlogener Blödsinn, aber für manche ist das ein Wohlfühlfaktor. So wie Volker Pispers einst bemerkte: „Wenn man weiß, wer der Böse ist, hat der Tag Struktur.“

Die Nato kann sich intern immer noch nicht einigen, wann und in welchem Land der russische Ernstfall als erster eintritt: Estland, Lettland, Litauen oder Schweden? Oder gehts doch direkt gegen Deutschland (also zuerst durch Polen)? Oder etwa stracks gegen Paris? (In 5 Jahren schon?) So wie sich die Nato auch nicht auf ihr eigenes Selbstbild einigen kann: Ist sie nun stärker als alles, was je existierte, stärker als das Römische Imperium oder das Napoleonische und muss nur noch ein bisschen „nachbessern“ (Mark Rutte)? Oder geht in der Ukraine gerade ein Stellvertreterkrieg flöten?

So jedenfalls musste man den US-Vizepräsidenten beim Treffen mit Selenskyj im Weißen Haus verstehen. So ist der Dringlichkeits-Gipfel in Alaska gemeint: Wir versuchen zu retten, was noch zu retten ist. So wie es ist, darf es nicht weitergehen. Aber auf diesem Auge sind die „willigen“ Koalitionäre erst recht blind.

Derweil wächst die Kriegsmüdigkeit in der Ukraine. Laut Gallup wollen 69 Prozent der befragten Ukrainer einen verhandelten Frieden. Und zwar fix. Radio Free Europe (RFE) beschäftigte sich kürzlich mit der Personalfrage in der ukrainischen Armee. Selbst wenn die Nato noch viele Waffen hätte, die der Ukraine geliefert werden könnten (und das ist zu bezweifeln), wer soll sie benutzen? Die ukrainischen Verluste sind hoch, die Zahl der Deserteure auch, die Frontlinien werden durchlässig. Ganz unabsichtlich räumte der Artikel von RFE auch mit Kriegsmythen auf. Er erinnerte daran, dass die russische Invasion der Ukraine 2022 mit etwa 150.000 bis 190.000 Soldaten erfolgte, die ukrainische Armee damals 215.000 aktive Kämpfer gehabt habe, aber schnell bis zu 700.000 weitere Kämpfer mobilisierte.

Nun seien etwa 600.000 russische Soldaten auf dem Schlachtfeld und etwa 300.000 ukrainische. Die Praxis der zwangsweisen Rekrutierung in der Ukraine und die vielen Deserteure werden auch erwähnt. Wer so an die Front gezerrt wird und das erste Gefecht überlebt, sieht zu, dass er sich vom Acker macht. Aber noch gibt es, so RFE, die 18- bis 25-jährigen Ukrainer. Die sind das letzte Aufgebot. Nur, die Mobilisierung dieser Altersgruppe ist in der Ukraine nicht populär. Trotz massiver Vergünstigungen gingen nur etwa 500 unter ihnen freiwillig. Wo soll die „Ersatzarmee“ herkommen, die den Feind auf die tapfer beschworenen Grenzen der Ukraine von 1991 zurückdrängt?

Kann die Nato liefern? Das ist das, was die „willigen“ Koalitionäre insinuieren. Das ist der letzte Strohhalm für die Ukraine. Das ist der feuchte Traum von Nato-Militärs, die vom schon gut durchgeplanten Angriff auf das “aktive Kriegsgebiet” Kaliningrad schwafeln.

EU-Mehrheit für mehr diplomatische Verhandlungen und gegen EU-Soldaten in der Ukraine

Im Juli gab das „European Movement International“ eine Umfrage heraus, die in den sechs großen EU-Mitgliedstaaten und Schweden gemacht wurde. Sie enthielt unter anderem Fragen zu einer EU-Verteidigungspolitik. Es gab höchst unterschiedliche Ansichten, wie die sich im einzelnen gestalten könnte. Von einer EU-Armee halten die wenigsten Deutschen was. Eindeutig war, dass nur Minderheiten von EU-Bürgern bereit wären, ein anderes EU-Land mit der Waffe zu verteidigen (37%). Die Frage nach einem EU-Plan für die Ukraine stieß überall auf Mehrheiten (57%). Als Teil eines solchen Planes befürwortete eine Mehrheit in allen sieben Ländern mehr diplomatische Verhandlungen zugunsten eines Waffenstillstands in der Ukraine (in D: 54%). Unter den Ländern umstritten waren bereits die Fragen, ob die Sanktionspolitik gegen Russland verschärft werden soll (in D: 56%), mehr humanitäre Hilfe geliefert werden (in D 56%) oder der Ukraine fortschrittlichere und schlagkräftigere Waffen gegeben werden sollten (in D: 43%). Die Schaffung einer internationalen Militärkoalition zugunsten der Ukraine oder die Entsendung einer EU-Friedensmission stießen in allen sieben Ländern auf mehrheitlichen Widerspruch, ebenso wie die Idee einer beschleunigten EU-Mitgliedschaft für die Ukraine oder die Schaffung eines europäischen Atomschirms unter Einbeziehung der Ukraine.

Nur sieben Prozent aller Italiener, acht Prozent aller Rumänen und neun Prozent aller Polen konnten dem Gedanken etwas abgewinnen, dass EU-Soldaten in der Ukraine kämpfen sollten. In Deutschland und Frankreich sprachen sich jeweils 12 Prozent dafür aus. Die höchste Zustimmungsrate gab es in Schweden. Sie lag bei 21 Prozent.

Der Titel der Umfrage begann mit: „Hört den Menschen zu“. Das tat gewiss keiner der „willigen Koalitionäre“.

Deshalb und „fürs Protokoll“: Noch lebt in der EU der öffentliche Wunsch, dass sich dieses Gemeinschaftswerk vieler europäischer Völker einsetzen sollte für Frieden in Europa, und zwar durch Diplomatie und Verhandlungen, aller politischen Eiferei zum Trotz. Zum Soldaten und zum Sterben fürs fremde Land – und das beginnt bereits beim EU-Nachbarn – sind die wenigsten EU-Bürger geboren.

So möge es bleiben. Dann ist noch Hoffnung, dass es gelingen kann, auf diesem Kontinent, einschließlich Russland, einschließlich der Ukraine, „nebeneinander zu sitzen und Ruhe zu haben.“

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Avatar-FotoPetra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.