Deutschland, Europa: Was nicht zusammenwächst und doch zusammengehört
Anmerkungen zum Jahrestag der Deutschen Einheit
„Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört. Das gilt für Europa im Ganzen.“ (Willy Brandt, 10. November 1989, Berlin) Feiertage sind schwierig und da macht auch der Jahrestag der deutschen Einigung keine Ausnahme. Wie feiert man sich richtig? Was sagt und was sagt man nicht als deutscher Kanzler, wenn die Stimmung im Land mies ist. Ost (84%) und West (74%) sind sich in der großen Unzufriedenheit mit der Arbeit der aktuellen Regierung einig. Gleichzeitig glauben viele Menschen im Sendegebiet von NDR und MDR nicht daran, dass die Deutschen schon zu einer Nation zusammengewachsen wären. Ein „Wir-Gefühl“ sei nicht da, sagen unterschiedlich große Mehrheiten, und auch das ist also etwas, was durchaus verbindet.
In bewährter Tradition seit der „Zeitenwende“ verzichtete Bundeskanzler Merz auf Dankesworte an die Staaten, die 1990 die deutsche Einigung möglich machten: die vier alliierten Siegermächte, die damaligen EG-Staaten. Denn das wirft das Problem Sowjetunion (Rechtsnachfolger Russland) auf. Das ist viel zu heikel. Textfassung.
Und doch, da Merz in bewährtem Neudeutsch ständig „Europa“ und die Europäische Union (dieser Begriff fiel nur einmal) verwechselte, endete alles im geschichtlichen und außenpolitischen Kuddelmuddel. So erinnerte Merz daran, dass wir aufbauen können auf Jahrzehnten, „in denen wir die Verantwortung übernommen haben, die aus dem Leid folgt, das wir in der nationalsozialistischen Zeit über Europa und die Welt und auch über unser eigenes Land gebracht haben“.
Die östliche Dimension der Nazi-Verbrechen
Über welches Europa haben wir Leid gebracht, verehrter Bundeskanzler? Es waren ab 1939 Völker im Norden, im Süden und im Westen Europas. 1941 folgte der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion – das Unternehmen „Barbarossa“. Man schätzt, dass dieser Vernichtungskrieg etwa 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete. Haben wir dafür je wirklich Verantwortung übernommen? Oder ernsthafte Aussöhnung versucht? Dem deutschen Bundeskanzler ist die östliche Dimension der Nazi-Verbrechen offenbar völlig entschwunden. Damit steht er nicht ganz allein. Auch das ist Teil des aktuellen deutschen Problems.
1990, vor 35 Jahren, schworen sich die europäischen Staaten, einschließlich Russland aber auch die USA und Kanada im Rahmen der KSZE in die Hand, „Für ein neues Europa“ zu sorgen. Es ist ein atemberaubendes Dokument voller wichtiger politischer Verpflichtungen. Es atmet den Geist der Hoffnung, die damals nicht nur Gorbatschow, also Moskau, beseelte, sondern auch Warschau, Ostberlin, Prag oder Budapest einte, den damaligen deutschen Außenminister Genscher nicht zu vergessen. Diese Hoffnung wurde schon in den 90er Jahren zu Grabe getragen. Nicht die Sowjetunion, nicht Russland trägt Schuld daran, sondern alle, die sich zum Gewinner der Geschichte erklärten und glaubten, der Welt diktieren zu können, wie sie zu sein hat. Der Westen Europas und das nunmehr politisch geeinte Deutschland mittendrin, immer am Rockzipfel der USA, folgten nahezu blind, ohne jedes Gespür für politische Zusagen und die neuen Chancen, die die Jahre 1989/1991 eröffnet hatten.
Aber das stimmt nicht ganz. 1993 gab sich Deutschland einen neuen Artikel 23 Grundgesetz. Über die Mitgliedschaft in der EU sollte unser Land zur Schaffung eines „vereinten Europa“ beitragen. 1993 bestand kein Zweifel daran, dass Russland diesem zu schaffenden „vereinten Europa“ angehört. Russland war als Mitglied des Europarates und der KSZE anerkannter Teil des politischen Europa. (Nebenbei: die Türkei ist das auch.)
Wenn man sich heute unter diesem Aspekt nochmals die Begründung für die damalige Änderung des Grundgesetzes anschaut, war die Zielbestimmung für niemanden ein Problem. Die damalige deutsche Debatte war geprägt von der Überzeugung, dass kein europäischer Bundesstaat entstehen darf. Zudem ging es um die Rechte der deutschen Länder bei Politikentscheidungen in der Europäischen Union.
Schrittweise, zuerst sichtbar im Jahr 1994, wurden die politischen Zusagen der „Charta von Paris“ nicht mehr vollständig gegenüber Russland eingehalten. In Paris wurde feierlich deklariert: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“
Nato-Art. 1: friedliche Streitbeilegung, Achtung der UN-Charta
Unteilbare Sicherheit ist mit einer militärischen Spaltung des Kontinents durch die Nato unvereinbar. Völlig zu Recht warnten vor allem US-Diplomaten und Politiker vor diesem fatalen Schritt. Spätestens mit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf Serbien entledigte sich die Nato auch noch der Verpflichtungen des eigenen Statuts in Artikel 1: friedliche Streitbeilegung, Achtung der UN-Charta. Nachweisbar gab es in der Nato-Politik ab 1994 ein paar feste Konstanten: Russland kann mitmachen, wo es uns passt, aber es hat kein Veto-Recht, keinen Anspruch auf Augenhöhe und schon gar nicht auf Teilnahme am „Europa ganz und frei“.
2019 wurde Gorbatschow eingeladen, ein paar Worte anlässlich des Jahrestages des Falls der Berliner Mauer zu sagen. Damals erklärte er die Deutschen und die Russen zu „wahren Helden der Vereinigung“. Aber er mahnte auch: „In Europa wurde keine verlässliche gemeinsame Sicherheitsarchitektur geschaffen, kein System zur Konfliktverhütung und -bewältigung..,.. Das darf man nicht hinnehmen.“ Er schloss seine Rede damals mit der unerschütterlichen Überzeugung „für ein Europa ohne Mauern und Trennlinien… für ein wahrhaft neues Europa, auf das alle unsere Völker stolz sein werden.“
Ohne diese, schon im Kalten Krieg geborene neue Perspektive („Neues Denken“) hätte Gorbatschow nicht die Kraft und das Vertrauen in sich gefunden, beiden deutschen Staaten den Weg in die Einheit zu ermöglichen. Hätte man auf ihn 2019 gehört, wäre uns der Krieg in der Ukraine erspart geblieben. Aber wie hieß das Nato-Konzept? Aufrüstung der Ukraine.
Aus der Zeit gefallenes Weltbild
Das alles scheint Merz recht unklar zu sein. Er weiß nicht, was Europa „im Ganzen“ ist. Sein Europabild scheint im Kalten Krieg stecken geblieben, mit ein paar angeklebten Staaten, die dann auch „Westen“ sein dürfen. Der beschworene jahrhundertelange „europäische Lebensweg“ war sehr viel steiniger und ungerechter gegenüber vielen Völkern, als Merz ihn präsentierte. Merz beklagte, dass die „Ausstrahlungskraft des Westens“ erkennbar abnehme, dass es sich nicht mehr „von selbst“ verstehe, dass sich „die Welt an uns orientiert“ und sieht nun alles attackiert. „Von selbst“? Manchmal sind es die fast nebenbei gemachten Formulierungen, in denen sich ein erbärmliches, aus der Zeit gefallenes Weltbild offenbart. Eine Vorbild-Rolle erwirbt man in der heutigen Zeit. Beanspruchen konnte man sie allenfalls früher, eher recht blutig.
Ich werde mich nicht darüber beschweren, dass der Kanzler es für richtig befand, von der „sogenannten“ friedlichen Revolution in der DDR 1989 zu reden. Ich nehme an, das „sogenannte“ verrutschte im Manuskript. Normalerweise wird das Wort vor „DDR“ platziert. Spannender fand ich die kurze Rückschau auf die vergangenen 35 Jahre deutscher Einheit, die mich an die salomonischen Formulierungen zur deutschen Pandemie-Politik erinnerte: Wir werden einander viel vergeben müssen, aber eigentlich lief alles doch recht gut. Nach Merz ist inzwischen auch fast alles gesagt und vergeben, fast alles getan, so dass es jetzt gut wäre, an einer „neuen Einheit“ zu arbeiten.
Eine neue Einheit also, die unter der Überschrift steht: Wie soll unser Land sein? Tatsächlich hat mir die Beschreibung von Merz gut gefallen, wie unser Land sein sollte: Zum Beispiel, dass eine offene Debatte herrschen solle, ein Gespräch, „in dem alles zur Sprache kommt.“ Wo wir „die Demokratie hören“. Ja, das wäre schön. Noch schöner wäre es, wenn Merz einen solchen Diskurs auch in den internationalen Beziehungen denken könnte, genauer gesagt, suchen würde. Gorbatschow warnte in einem Gespräch mit Bush 1989 davor, Werte als alleinige Sache des Westens anzusehen und betonte deren Universalität. Damit sie nicht zur Waffe verkommen.
Auch die weiteren Aussagen, die Merz zur Frage machte, wie wir als Land sein sollten, gefielen mir richtig gut. Noch klaffen ein paar Welten zwischen Anspruch und Realität, aber es ist gut, sich Ziele zu setzen, Brücken zu bauen. Man könnte zum Beispiel den gesamten öffentlichen Verkehr so zuverlässig machen, dass in Deutschland eine neue öffentlich geteilte Erfahrung entsteht: Sieh da, ein paar der uns Deutschen zugeschriebenen Tugenden stimmen tatsächlich. Wir könnten ausdiskutieren, wann Kritik berechtigt ist und wann nicht, und wer das genau entscheidet.
Aber wie wollen wir zu dem Land, das wir sein sollen, gelangen, wenn man einerseits einen Europabegriff verfolgt, der auf Ignoranz nicht nur gegenüber der politischen Geographie, basiert, aber gleichzeitig trotzdem erkennt, dass es Deutschland überproportional schwer trifft, wenn es Europa schlecht geht?
Was tun, damit es Europa wieder besser geht? Schon beißt sich die Katze in den Schwanz: Was ist Europa, verehrter Bundeskanzler? Und warum geht es nur mit Russland bzw. wie soll es denn ohne Russland gehen?
Kein Wort über Kohl (und Merkel)
Schließlich: Es ist ein bisschen verständlich, dass Merz (mit Rücksicht auf Frankreich) in seiner Rede auf Adenauer Bezug nahm, aber kein Wort über Helmut Kohl verlor. Dass er über Merkel nicht reden würde, war klar. Mag das die CDU/ CSU mit sich ausmachen.
Aber das eine Wort, dass in der Rede des Bundeskanzlers vollends fehlte, und das das ganze Land angeht, heisst Frieden.
Warum? Wollte Merz den feierlichen Augenblick nicht mit der Nachricht vergiften, dass er Deutschland schon im Zwischenreich zwischen Krieg und Frieden (gegen Russland) sieht, oder weil er keine vernünftige Antwort darauf hat, was das geeinte Deutschland heute als Friedensstifter auf dem Kontinent tun könnte, tun müsste? Soll nicht von deutschem Boden nur Frieden ausgehen? Die USA werden uns das Nachdenken darüber nicht abnehmen. Der US-Finanzminister Bessent erklärte bei Fox, was er seinen europäischen Kollegen gesagt habe: „Alles, was ich von Euch höre, ist, das Putin nach Warschau marschieren will. Die einzige Sache, die ich sicher weiss, ist, dass Putin nicht nach Boston marschieren wird.“
Da ziehe ich die Einsicht von Willy Brandt aus dem Jahr 1981 vor. Sie prägte einst erfolgreiche deutsche Politik und ebnete mit den Weg, der sich schließlich auch in Perestroika, in friedlichen Revolutionen und in den Hoffnungen von Paris auf ein „neues Europa“ darstellte: „Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Wie wäre es mit der deutschen Wiederentdeckung von Diplomatie, von Vernunft, Mäßigung und gutem Willen. Mit dem Abbau von Freund-Feind-Bildern. Mit dem Ende der Kriegstrommelei. So viele hoffen in Deutschland darauf.
Ich denke auch, dass wir in unserem Land weiter zusammenkommen müssen, langsam, behutsam. Wie sollen wir lernen, mit anderen Völkern zusammenzukommen, wenn es unter uns schon nicht klappt? Denn die Probleme sind doch die gleichen: Vorurteile, Misstrauen, mangelnder Respekt, mangelndes Interesse oder mangelnde Fähigkeit, zuzuhören und zu verstehen und die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, als den, den man bisher hat. Wie sich einige vielleicht noch erinnern, weil es ausreichend oft nachzulesen war in den letzten 35 Jahren, mussten die zwangsgetopften Ossis aus „Dunkeldeutschland“ schon im Kindergarten mit Panzern (oder was weiß ich noch) spielen. Und und und. Die Mär von den lebenslangen Wirkungen der „Zwangs-Topfung“ erzeugte damals Wut (in Ostdeutschland).
Dieser Wut widmete sich ein bemerkenswerter Tagesspiegel-Artikel aus dem Jahr 1999 zu den dünnhäutigen „Ostdeutschen“, mit den so gar nicht BRD-typischen Biographien. Dort war nachzulesen: „Es ist viel gesagt worden über die ‘Kälte der bürgerlichen Gesellschaft’. Ostdeutsche spüren sie noch schärfer. Und vergessen dabei oft, sie zu bejahen. Denn diese ‘Kälte der bürgerlichen Gesellschaft’ ist nur ein anderes Wort für ihre Professionalität. Sie ist eben keine Gemeinschaft, sondern ein Funktionszusammenhang. Entweder der Einzelne paßt da rein, oder er fliegt raus.“
1970 befand der Spiegel, DDR-Bürger, die in die Bundesrepublik gewechselt waren, sprachen über die DDR „wie verstoßene Kinder“. Zu persönlich. Zu nahe dran. Nie groß geworden.
1990, kurz nach der deutschen Einheit, wurde der „Grzimek des Ostens“, alternativ auch als „Ceausescu des Tierparkwesens“ bezeichnet, also der Gründer des Berliner Tierparks (DDR), Heinrich Dathe, mit 80 Jahren vor die Tür gesetzt. Starb er daraufhin an Krebs, oder an gebrochenem Herzen? Anlässlich seiner Beisetzung sagte Pastor Werner Braune: “Beim gegenwärtigen Hang zum Abwickeln darf der menschliche Umgang miteinander nicht verlorengehen“. Das war im Januar 1991.
All das und noch soviel mehr ist längst kein ostdeutsches Problem mehr. Wer will schon Teil eines „Funktionszusammenhangs“ sein? Abgewickelt, aufgegeben, auf die Müllhalde der Geschichte gekippt oder in Uniform und Stahlhelm gestopft? Dann lieber Teil eines Staates, so wie Merz es vorschlug, Herr im eigenen Haus. Wir müssen also „nur“ noch klären, wie wir wieder zu Gesprächskultur zurückfinden können, die diesen Namen auch, verdient. Wie jeder direkter mitbestimmen könnte über das, was das eigene Leben ausmacht: in Politik, Wirtschaft, im Militärischen und auch dort, wo man zu Hause ist.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.
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