Beueler-Extradienst

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Dieser Sozialstaat und ich

Sie machen mir ein gutes Gewissen

Wenn ich mir diese Nasen so ansehe, und lese, wie sie ihre Abbrucharbeiten am verfassungsmässig vorgeschriebenen Sozialstaat betreiben, dann bin ich mit meinem individuellen Widerstand recht zufrieden. Im Lichte meines diesjährigen Herzinfarktes im jugendlichen Alter von 68 Lebensjahren habe ich knapp rechtzeitig gehandelt.

1990 war es das erste Mal, dass ich drei Monate vom Arbeitslosengeld I leben musste. Dann bot mir ein gewisser Roland Appel, in berechtigter Hoffnung auf ein Landtagsmandat, einen Job an. Es gelang knapp: “400 Stimmen über den Durst”, so der damalige Landeswahlleiter im WDR, zogen die Grünen mit 5,0% in den Landtag ein. Auf dem letzten Platz der in den Landtag Einziehenden ebendieser Appel. Es folgten von meiner Seite 15 Jahre Einzahlung in die Sozialversicherungen.

2005 erhielt ich erneut Arbeitslosengeld I. Damals gab es noch das sog. “Überbrückungsgeld”, das ich erfolgreich beantragte, um mich selbstständig zu machen. Ergebnis: so viel wie 2005-06 habe ich davor und danach nie in diesem Leben verdient. Eine verkraftbare Steuernachzahlung und eine deftige Nachzahlung in die Krankenversicherung waren die Folge. Weitere 10 Jahre angestellte Berufstätigkeit und Einzahlungen folgten.

Privat sorgte ich vor. 1999 gelang mir der Erwerb einer Neubauwohnung inkl. damals noch völlig überhöhter Eigenheimzulage vom Staat (5.000 D-Mark jährlich, acht Jahre lang). Kurz danach wurde die abgeschafft. Mein Weihnachtsgeld wanderte jedes Jahr steuermindernd und sozialbeiträgemindernd in eine Lebensversicherung. Der Anbieter machte zweimal pleite, und wurde verkauft, ich blieb aber 25 Jahre ruhig und kündigte nicht, wie die es kalkuliert hatten – viele taten das unter grossem Verlust.

Mit 59 Jahren reichte es mir. Im Berufsleben von vorgesetzten Irren umgeben, kündigte ich auf ärztlichen Rat (eigenes Formular bei der Bundesagentur für Arbeit). Keine Sperrzeit, 2 Jahre Arbeitslosengeld I. Arbeitslosengeld II (“Hartz IV”) beantragte ich danach nicht, hätte die Schikanen der Jobcenter gesundheitlich gewiss nicht ertragen, hatte es auch materiell nicht nötig, sondern lebte von privaten Ersparnissen (bei niedrigen Kosten, die Wohnung war abbezahlt; und die Grundsteuer war und ist viel zu niedrig). Und dann mit 63 schleunigst ab in die Rente. Einzahlung von 32.000 €, um Abzüge lebenslänglich zu vermeiden. Ein Darlehen des Vaters (Knappschaftsrentner, die beste Rente weltweit) ermöglichte, die Lebensversicherung bis 65 verlustfrei zuende laufen zu lassen.

Ich bin also seit 9 Jahren aus der beruflichen Tretmühle des fremdbestimmten Arbeitens raus. Und seit 5 Jahren verlustfrei in der Rente drin. Ich stelle mir nun den Alptraum der “Rente mit 67” vor: ruiniertes Nervenkostüm der Arbeit unter ehrenamtlichen Nonprofessionals, Rentenbeginn und sogleich Infarkt. Ob ich den dann auch überlebt hätte?

Der Tod meines Kollegen Ralf Klemm (64), der in diesen Tagen beigesetzt wird, leuchtet über meinem gedanklichen Innern wie ein Mahnmal. Ein Bonner Kollege von mir bekam an seinem ersten Rentnertag eine Krebsdiagnose (er hats überstanden, Glückwunsch!). Mein Bezirksbürgermeister und Studienkollege Werner Rambow ist schon lange tot (Raucher, ich zum Glück nicht).

Mein lieber Sozialstaat, ich bin noch nicht am Ende. Und werde weiter gegen die Milliardär*inn*e*n, Steuer- und Selbstoptimierer*innen hetzen. Niemand von denen wird seine Vermögens- und Einkommensverhältnisse so offenlegen, wie ich es hier getan habe. Sie sind die Übeltäter. Jede*r Bürgergeldschnorrer*in ist dagegen ein*e edle*r Widerstandskämpfer*in. Allein der Kerl, der meinen über 90-jährigen Nachbarn und mich mehrmonatig mit Baulärm-Terror versorgt, wird diese Gesundheitsgefährdung als “Verluste aus Vermietung und Verpachtung” seines Penthouses von der Steuer absetzen, obwohl diese Investition objektiv zu einer Vermehrung seines Privatvermögens führt, und wiegt damit rund 20 Bürgergeldler*innen auf. Darin sind meine Krankenkassenkosten (OP, Reha, Medikamente) noch nicht mitgerechnet …

So what?

Über Martin Böttger:

Avatar-FotoMartin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger

4 Kommentare

  1. Avatar-Foto
    klemens roloff

    Ein zutreffender Kommentar zu den Berichten über den „Herbst der Reformen“. Dass der Verfasser auch von sich selbst spricht – „Dieser Sozialstaat und ich“ –, ist zwar ungewöhnlich, macht die Sache aber anschaulich und verständlich.

    Andererseits: Dass ein gekröntes Haupt einmal von sich behaupten mochte: „l’Etat c’est moi“, das ist schon lange her. Der arme Ludwig XIV. gründete seine absolutistische Herrschaft, wie die Annalen berichten, u.a. auf die „Förderung des merkantilistischen Wirtschaftssystems“, also eines direkten Vorläufers der herrschenden kapitalistischen Ordnung, in der wir leben.

    Aber: „der arme Ludwig“ – wie kommichdrauf? Darauf gebracht hat mich seinerzeit Hans Conrad Zander, ein auch den Leser*innen des Beueler Extradienstes wohlbekannter Autor. In einem Klassiker für die Sendung WDR Zeitzeichen aus dem Jahr 1973 schildert er, wie dem Sonnenkönig – dank modernster Erkenntnisse der damaligen Zahnmedizin – sämtliche gesunden (!) Zähne gezogen wurden und er infolgedessen bestialisch gestunken haben soll:
    https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/audio-zeitzeichen-klassiker–warum-der-koenig-so-stinkt-100.html

    Also, lieber Martin, sei froh, dass Du Deine gesunden Zähne noch hast: Es ist nicht alles schlecht im Kapitalismus.

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    Martin Böttger

    Ja, wie ginge es unserem Humor ohne unseren Zander? In wenigen Tagen wird der Gute 89!
    https://www.hansconradzander.com

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    ClemensG

    @martin.boettger

    Danke für die Zeilen, sie gehören zu denen, die ich hier am liebsten lesen mag: Persönliches, was mit dem schreibenden Menschen direkt zu tun hat, nicht nur Statements. Viele kleine Fakten, nicht nur die große Meinung.

    Der reale Mensch, nicht nur ein Image.

    • Avatar-Foto
      Martin Böttger

      Danke, sehr freundlich. Es besteht immer das Risiko ins subjektive Selbstreferentielle umzukippen (so geht es mir oft als Leser, oder als Zuschauer von “Presenter”-Reportagen).

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