Der „Literaturkanon“ – durchaus im Plural zu lesen: die Kanons/Kanones – sind ziemlich merkwürdige Konstrukte. Einerseits schlagen sie Schneisen durch eine unübersichtliche Literaturlandschaft und geben Tipps, was man sinnvollerweise mal lesen könnte. Andererseits kommen sie mit einer oft sehr konservativen Anmutung daher, ganz im Sinne von kultureller Ersatzreligion für ein verunsichertes Bürgertum.

Inzwischen sind die Fronten noch komplexer. Rechte Ideologen (wann steigt eigentlich unser neuer Kulturkampfminister ein?) kämpfen um einen Kanon im Sinne einer nationalistischen Ideologie, die irgendwie das „Deutschtum“ hochhalten soll. Andererseits haben nicht nur Postcolonial- und Gender-Theoretiker_innen die „faulen Stellen“ auch bei jenen Klassikern entdeckt, die ansonsten zentral sind für die liberal-bürgerlich-humanistische Tradition. Wenn etwa Kant und Hegel nun vor allem als „alte, weiße Männer“ mit Kolonialressentiments verstanden werden (was ja nicht völlig grundlos ist), dann droht damit auch jener Anteil ihres Schaffens relativiert zu werden, der sie eigentlich zu Bollwerken gegen die Neuen Rechten und Faschisten macht.

Hier gilt es also zu differenzieren und durchaus auch Inkonsistenzen auszuhalten. In der neuen „Kulturkampfsituation“ mit „Rechtskanonikern“ ist es deshalb ziemlich naiv, sich die stärksten Autoren im Kampf gegen eine kulturlose Rechte einfach selbst aus der Hand zu schlagen.

Der Autor bezieht sich auf einen eingemauerten Beitrag des Autors Felix Stephan in der SZ: “Wer weiße Männer aus den Bibliotheksregalen räumt, stellt womöglich zu spät fest, dass sie Alliierte waren”.

Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Avatar-FotoGeboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.