Javier Mileis zweites Amtsjahr

Im Wahlkampf 2023 versprach Javier Milei, sich radikal gegen die „politische Kaste“ einzusetzen. Gemeint ist damit Argentiniens Establishment, das sich seiner Meinung nach auf Kosten der Allgemeinheit bereichere. Einmal im Amt, musste er sodann auf zahlreiche Mitglieder dieser verteufelten Kaste zurückgreifen, um wichtige Ämter zu besetzen. Dieser Prozess ist noch lange nicht zu Ende. Seit Dezember 2023 mussten bereits mehr als 140 Minister*innen, Staatssekretär*innen und Ministerialdirektor*innen ihren Stuhl räumen.

Kabinettschef Guillermo Francos war schon National­abgeordneter, Präsident der staatlichen Bank „Banco de la Provincia de Buenos Aires“, Argentiniens Vertreter der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) und Innenminister. Ursprünglich Mitglied der kleinen konservativen Partei Partido Federal, hat Francos, je nach Stelle, so unterschiedliche Politiker wie Domingo Cavallo, Daniel Scioli oder Alberto Fernández unterstützt.

Eine noch buntere Karriere hat die amtierende Sicherheits­ministerin Patricia Bullrich. Seit Beginn ihrer politischen Laufbahn in den 1970er-Jahren wechselte sie munter zwischen allen möglichen politischen Parteien.

Sogar im nächsten Umfeld des Präsidenten tauchen diese vormals verteufelten Politikbürokrat*innen auf. Karina Milei, Schwester des Präsidenten, die zeitgleich Sekretärin des Präsidialamtes sowie Vorsitzende der eigenen Partei, La Libertad Avanza (LLA), ist, stellte als engsten Berater Eduardo Menem (genannt Lule) ein. Lule war 22 Jahre lang Sekretär eines nahen Verwandten, des gleichnamigen ehemaligen Senators für La Rioja und Präsidentenbruders Eduardo Menem. Heute ist er Staatssekretär für institutionelle Beziehungen des Präsidialamtes und Zuarbeiter von Karina Milei, die „El Jefe“ genannt wird.

Martín Menem wiederum, amtierender Präsident der Abgeordnetenkammer und Sohn von Eduardo Menem, gründete die Filiale der Milei-Partei in seiner Heimatprovinz La Rioja. Vor seiner politischen Tätigkeit war er als Unternehmer unter anderem im Sicherheitsbereich tätig. Der amtierende Wirtschafts- und Finanzminister Luis Caputo war zwischen 2015 und 2018 unter der Regierung von Mauricio Macri in verschiedenen Ämtern des Finanzministeriums und der argentinischen Zentralbank tätig. Sein Vorgänger in der Zentralbank war Federico Sturzenegger, heute Minister für Deregulierung und intellektueller Vordenker des „Ermächtigungsgesetzes“, das in Mileis erstes Amtsjahr fällt (Ley Bases).

Diese Regierungsmannschaft, die zum Teil (Bullrich, Caputo, Sturzenegger) bereits für wirtschaftliche und politische Krisen der Vergangenheit verantwortlich ist, setzt unter Milei ihre alte Politik fort. Das Neue der Milei-Regierung ist, dass ihr neoliberaler Fundamentalismus jetzt auch noch mit einer menschenfeindlichen Rhetorik einhergeht. Kürzungen im Gesundheitswesen, bei Hilfen für Menschen mit Behinderung oder bei der Verteilung von Lebensmitteln durch Volksküchen werden als Meilensteine im Kampf gegen die Bürokratie und den Staat zelebriert.

Die Zerstörer des Staates bedienen sich bei ihm

Bereits während des Wahlkampfes gab es Veröffentlichungen darüber, dass Karina Milei auch die persönlichen Finanzen ihres Bruders kontrolliert. Zunächst kostete ein Auftritt Javier Mileis, etwa bei einer Unternehmerveranstaltung, 5000 Dollar, später, mit zunehmender Popularität des Kandidaten, verdoppelte und verdreifachte sich diese Summe. Eine weitere Einkommensquelle war die Vergabe von Kandidaturen für Abgeordnetenposten der Milei-Partei gegen entsprechende Zahlungen. Während für eine Kandidatur zum Provinzabgeordneten die jeweiligen Kandidat*innen „nur“ 10 000 bis 15 000 Dollar an die Partei zahlen mussten, kostete eine Kandidatur für den nationalen Kongress mindestens 50 000 Dollar. Bei Fragen zu dieser Geschäftspolitik antwortete Javier Milei, dass seine neue Partei so finanziert werden solle. Nach seiner Amtsübernahme wurde diese Geschäftspolitik fortgesetzt, wobei Karina Milei die Tagesagenda ihres Bruders führt und bestimmt, mit wem er sich trifft oder nicht. Hayden Davis, ein US-amerikanischer Investor, hatte am 21. November 2024 einen Termin mit Javier Milei. Am selben Abend soll er angeblich eine halbe Million US-Dollar in Kryptowährung an Karina Milei überwiesen haben. In einem Chat mit anderen Investoren, den die spanische Tageszeitung El Mundo zitiert, behauptete Davis: „Ich habe den Kerl unter Kontrolle, ich schicke die Dollars an die Schwester, und er unterschreibt, was ich will.“

Bereits 2024 tauchten erste Hinweise auf, dass Mitglieder der Regierung Mileis in Korruptionsskandale verwickelt seien. Der jüngere Bruder von Martín Menem gewann eine Ausschreibung als Sicherheitslieferant der staatlichen Banco Nación. Ende August 2025 wurde ein noch größerer Skandal bekannt. Diego Spagnuolo, ehemaliger persönlicher Rechtsanwalt von Javier Milei, wurde mit der Amtsübernahme im Dezember 2023 mit der Leitung des Andis (Agencia Nacional de Discapacidad – Nationale Behörde für Menschen mit Behinderungen) beauftragt. Spagnuolo hatte für seine Behörde keine besondere Qualifikation. Im Lauf der Monate erhielt er den Auftrag, die Anzahl der Personen, die Hilfe vom Staat erhalten, drastisch nach unten zu drücken (gemäß den Kahlschlagplänen von Milei und Sturzenegger). Dafür wurde eine Prüfung aller Hilfebeziehenden beschlossen. Theoretisch sollten alle Betroffenen per Brief aufgefordert werden, sich erneut untersuchen zu lassen, um ihre Bedürftigkeit zu ermitteln. Nur erreichten viele Briefe ihre Empfänger*innen nicht oder die Überprüfung sollte etwa 500 Kilometer entfernt vom Wohnsitz stattfinden. Menschen, die von Geburt an blind oder taub sind, sollten diese Beeinträchtigung erneut nachweisen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, sollten die Mitarbeiter des Andis für jede gestrichene Hilfe eine Prämie von 100 000 Pesos erhalten (Löhne liegen bei 800 000-1 200 000 Pesos). Ein Streaming-Portal veröffentlichte Tonbänder, in denen sich Spagnuolo über die Korruption innerhalb seiner Behörde beklagte.

Verräterische Tonaufnahmen

Ebenfalls mit der Amtsübernahme war der Pharmalieferant Drogueria Suizo-Argentina der Familie Kovalivker zum Hauptlieferanten der Andis und anderen Behörden auserwählt worden. Die Familie soll nach einer Bitte des ehemaligen Präsidenten Macri den Wahlkampf von Javier Milei in der zweiten Wahlrunde 2023 finanziert haben. Die Investition zahlte sich aus. Setzte die Firma 2023 etwa 2,5 Millionen Euro um, waren es im nächsten Jahr bereits 68 Millionen. Suizo-Argentina fungierte auch als Vermittler zwischen anderen Pharmaproduzenten oder Dienstleistungsanbietern und den staatlichen Behörden. Laut der Tonbänder von Spagnuolo musste zu jedem Auftrag ein Plus von acht Prozent berechnet werden – Schmiergelder, die angeblich nach folgendem Schlüssel verteilt wurden: drei Prozent flossen in die Hände von Karina Milei, vier Prozent wurden von Lule und Martín Menem kassiert, und das restliche eine Prozent wurde für „operative Kosten“ eingesetzt. Spagnuolo soll Javier Milei persönlich darüber informiert haben. In den Tonaufnahmen beklagt er, dass er als Behördenleiter alles unterschreiben musste, obwohl er die Machenschaften kannte. Unzweideutig wies er darauf hin, dass er sämtliche Gespräche und Chats mit Karina Milei sicher aufbewahren würde. Als die Tonaufnahmen auftauchten, wurden Spagnuolo und der zweite Mann im Andis, Daniel Garbellini, ein früherer Funktionär der Macri-Regierung, sofort entlassen. Das Verteidigungs- und das Sicherheitsministerium sollen auch alle ihre Bestellungen im Gesundheitsbereich mit der Suizo-Argentina abgewickelt haben.

Wenige Tage später tauchten andere Tonaufnahmen auf, bei denen klar und deutlich die Stimme von Karina Milei zu erkennen war. Veröffentlicht wurde weniger als eine Minute, die Aufnahmen sollen aber über 50 Minuten lang sein. Diese Aufnahmen sollen laut dem Nachrichtenportal infobae im Präsidentensitz Casa Rosada stattgefunden haben. Auf diese Aufnahmen reagierte die Regierung mit einer Reihe juristischer Angriffe. Auf Antrag des Sicherheitsministeriums erließ Richter Marianello (gegen den zufälligerweise zurzeit acht Amtsenthebungsverfahren laufen) das Verbot, die Inhalte der Tonaufnahmen in jedweder Form zu veröffentlichen, was faktisch die Einführung der Pressezensur bedeutet. Mehrere Einsprüche wurden eingelegt und ein Teil der Aufnahme im Nachbarland Uruguay ausgestrahlt. Vor einem Bundesgericht reichte ein Berater der Sicherheitsministerin Bullrich eine weitere Klage ein. In dieser wird eine Verschwörung von Geheimdiensten aus Russland und Venezuela, vom Schatzmeister des argentinischen Fußballverbandes sowie vom Ehemann einer abtrünnigen Abgeordneten der Regie­rungspartei für die Tonbandaufnahmen verantwortlich gemacht. Bis jetzt hat sich der zuständige Staatsanwalt geweigert, die Journalisten, die in einem Streamingkanal die Spagnuolo-Aufnahmen veröffentlichten, zu befragen und ihre Büros oder Wohnungen zu durchsuchen. Die russische Botschaft in Buenos Aires hat sich beim Außenministerium beschwert.

Vorboten der Parlamentswahlen

Zu diesem Korruptionsklima gesellen sich politische Niederlagen im Parlament und die desaströse sozioökonomische Lage. Nachdem 2024 das Parlament mehrheitlich alle Gesetzesvorlagen der Regierung verabschiedet hat, kam es in diesem Jahr zu 20 Abstimmungen zwischen Abgeordneten- und Senatskammer, bei denen sich die Opposition durchgesetzt hat. Auf der wirtschaftlichen und sozialen Ebene sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. Die argentinische Tageszeitung El Diario veröffentlichte am 8. September folgende Zahlen: Seit Amtsübernahme von Milei wurden 180 000 Staatsangestellte entlassen, weitere 200 000 Stellen in der Privatwirtschaft wurden gestrichen, das Realeinkommen ist um 32 Prozent im Vergleich zu Dezember 2023 gefallen und die Rentner*innen haben etwa 20 Prozent ihrer Bezüge verloren, da sie eingefroren wurden. Bei dieser Ausgangslage war der Wahlkampf der Regierungspartei LLA in der Provinz Buenos Aires nicht einfach. Hier fanden am 7. September Wahlen zur Teilerneuerung der Provinzsenats- sowie der Abgeordnetenkammer statt. Die peronistische Opposition unter der Leitung des Provinzgouverneurs Axel Kicillof erreichte 47 Prozent der Stimmen, 14 Prozent mehr als die Regierungspartei. In dieser Provinz leben etwa 40 Prozent der wahlberechtigten Argentinier*innen. Milei hat also eine ziemlich schlechte Ausgangslage für die kommenden Parlamentswahlen am 26. Oktober, wo die Teilerneuerung der beiden Kammern in Buenos Aires und anderen Provinzen stattfinden soll.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 489 Okt. 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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