Trumps Politik verändert Migrationsbewegungen in Mexiko

Präzedenzlos. Die mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum rief ihre in den USA lebenden Landsleute dazu auf, bei Feierlichkeiten am 15. und 16. September zur mexikanischen Unabhängigkeit „extreme Vorsicht“ walten zu lassen. Zu groß war die Befürchtung, die Trump-Regierung könne die Menschenansammlungen für Razzien und Provokationen gegen Mexikaner*innen ohne gültige Aufenthaltspapiere nutzen. Noch ist die Migrationsbehörde ICE weit von den Verhaftungs- und Abschiebezahlen entfernt, die Trump fordert. Doch eins haben er und seine Helfershelfer geschafft: Sie verbreiten ein Klima von Angst und Schrecken unter Migrant*innen inner- und außerhalb der USA. Die Auswirkungen in Mexiko sind jetzt schon enorm.

Im Vergleich zum Vorjahr haben sich die versuchten irregulären Grenzübertritte an der mexikanischen Süd- und Nordgrenze um jeweils etwa 90 Prozent reduziert. Viele Mexikaner*innen bleiben vorerst lieber in ihrem Land als sich potentiell unmenschlichen Haftbedingungen in den USA und anderen Schikanen der US-Behörden auszusetzen. Auch die Menschen aus Mittelamerika und weiteren überwiegend lateinamerikanischen Ländern, die früher an Mexikos Südgrenze mit Guatemala über die grüne Grenze beziehungsweise die Flüsse Usumacinta und Suchiate kamen, warten ab. Zugleich wird Mexiko für schätzungsweise 300 000 nicht-mexikanische Migrant*innen vom Transitland zum Zielland.

Gut 10 Millionen Mexikaner*innen leben ohne regulären Aufenthaltsstatus in den USA. Bisher sind unter Trump „nur“ etwa 95 000 Mexikaner*innen direkt über die Grenze oder per Flugzeug abgeschoben worden. Das sind weniger als unter der Biden-Regierung in einem vergleichbaren Zeitraum. Die Auffanglager, die für mexikanische und ausländische Migrant*innen im Februar in den nördlichen Bundesstaaten vorbereitet wurden, sind überwiegend geschlossen oder weitgehend leer. Das finanziell mit 1000 US-Dollar untermauerte US-Angebot der „freiwilligen“ Selbstabschiebung haben einige Mexikaner*innen unter Druck angenommen. Zahlenmäßig fällt das bisher nicht ins Gewicht. Die mexikanische Regierung empfängt die abgeschobenen Landsleute mit dem Programm „México te abraza“ (Mexiko umarmt dich). Damit unterstützt sie beispielsweise bei der Rückkehr zu den Heimatorten.

Unklar sind die mittelfristigen Auswirkungen auf die remesas, die Rücküberweisungen der mexikanischen Migran­t*in­­nen in den USA an ihre Familienangehörigen. Sie sind erst­mals seit 2003 über mehrere Monate hintereinander deutlich gesunken. Dies wird zum Teil damit begründet, dass die Mexikaner*innen ohne gültige Papiere aus Angst nicht an ihre Arbeitsplätze gehen und deswegen Lohn­ausfälle haben. Aber der flaue US-Arbeitsmarkt spielt ebenso eine wichtige Rolle. Gesamtwirtschaftlich schlägt der Rückgang der remesas noch nicht durch. Aber in einzelnen Bundesstaaten wie Chiapas, Guerrero, Michoacán, Zacatecas und Oaxaca machen die Zahlungen zehn bis 15 Prozent des lokalen Sozialprodukts und bis zu 30 Prozent der Familieneinkommen aus.

Gestrandet in Mexiko

Für die mexikanische Regierung sind die unfreiwillig aus den USA zurückkehrenden Landsleute aktuell keine Herausforderung. Sie kann sich die „Umarmung“ dieser Mexikaner*innen leisten. Solche offizielle Herzlichkeit fehlt nach wie vor gegenüber den Menschen in Bewegung, die sich über Mexikos Südgrenze in Richtung USA aufgemacht haben und nun „gestrandet“ sind. Nur die wenigen, die mehr Geld zur Verfügung haben, können noch an – gefährlichere und teurere – Routen in die USA denken. Wie gefährdet die Migrant*innen in Mexiko sind, hängt sehr stark von den mexikanischen Aufenthalts- und Arbeitspapieren ab. Die Papiere reichen von einer Aufenthaltsgenehmigung im Land für 30 Tage bis zu einem einjährigen humanitären Visum, das auch die Arbeitsaufnahme erlaubt. Der Erhalt der Papiere ist ein Glücksspiel. Die staatliche Kommission für Flüchtlingshilfe Comar (Comisión Mexicana de Ayuda a Refugiados) und die Migrationsbehörde INM (Instituto Nacional de Migración) schieben sich die Zuständigkeiten oft wie in einem Pingpong-Spiel hin und her. Die verschleppte Antragsbearbeitung, nicht unbedingt Zufall, öffnet Tür und Tor für Bestechungen. Die Migrant*innen müssen ihre Anträge innerhalb von 30 Werktagen stellen, nachdem sie ins Land gekommen sind. Einige warten seit sechs Monaten auf einen Termin. In dieser Zeit müssen sie fürchten, von der INM verhaftet zu werden. Für fast alle von ihnen ist die Rückkehr in ihre Heimatländer keine Option.

Die Mittel der Comar sind gekürzt worden, der Jahresetat 2025 liegt bei kümmerlichen 47 Millionen Pesos (rund 2,2 Millionen Euro). Das ist ein Bruchteil dessen, was Flüchtende und Migrant*innen zur mexikanischen Wirtschaft beitragen. Auch wenn es nun weniger Menschen zu betreuen gibt, reicht das Geld nicht aus. Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) hat nach dem Einfrieren von US-Geldern für ihre Arbeit mit massiven Budgetkürzungen und Personalabbau zu kämpfen. Das beeinträchtigt beispielsweise ihr Integrationsprogramm für Migrant*innen im Gastronomiesektor.

Die derzeit ausbleibenden migrantischen Bewegungen werden die mexikanische Wirtschaft regional verändern. Tapachula, die mexikanische Grenzstadt im südlichen Bundesstaat Chiapas, war noch 2024 ein Nadelöhr für die Migrationsbewegungen. In den vergangenen Jahren lebte die dortige Wirtschaft zu einem Gutteil von den Migrant*innen. Diese mussten ihr Geld zwangsläufig an dem Ort ausgeben, wo sie erst einmal festgehalten wurden oder sich sammelten. Dort bekamen sie auch die Auslandsüberweisungen ihrer Familienangehörigen. In Touristenorten wie Cancún an der mexikanischen Karibik stützte sich der Dienstleistungssektor stark auf die Migrant*innen.

Selbst, wenn fast alle Migrant*innen in Chiapas ankommen und sie die Illusion USA aufgeben müssen: Die meisten zieht es auch innerhalb Mexikos nach Norden. In Mexiko-Stadt und den nördlichen Bundesstaaten sind ihre Arbeitsmöglichkeiten besser. In der Vergangenheit organisierten sie sich in großen Karawanen, um ein Mindestmaß an Sicherheit gegenüber der Willkür der Behörden und dem organisierten Verbrechen zu haben. Doch den meisten staatlichen Autoritäten ist dieses kollektive Vorgehen nach wie vor ein Dorn im Auge. Erst vor wenigen Wochen tat die Migrationsbehörde INM alles, um eine relativ kleine Karawane von ein paar Hundert Teilnehmenden durch individuelle Angebote und Kriminalisierung des Hauptorganisators zu spalten. Andererseits begleiteten Sanitäter*innen und Gesundheitspersonal sowie der mexikanische Zivilschutz die Karawane auf Abschnitten ihres Weges. Eine kohärente und zugleich humane Politik gegenüber den Migrant*innen ist auch unter der neuen Präsidentin Sheinbaum noch nicht zu erkennen.

Vor allem in der Hauptstadt gibt es Lichtblicke, zum Beispiel die Grundschule La Prensa Pemex im Industriegebiet Vallejo. Dort sind im Spätnachmittagsturnus mehr als die Hälfte der Kinder Migrant*innen aus lateinamerikanischen Ländern. Sie haben eine mexikanische Identitätsnummer, die die Grundlage dafür ist, dass sie wie die mexikanischen Klassenkamerad*innen ein Schulstipendium der Stadtregierung und Schulessen erhalten. Aber sie und ihre Familien leben in einer nahen irregulären Siedlung, die ständig von Räumung bedroht ist. In mehreren Fällen hat es solche Räumungen im Stadtzentrum gegeben, oft nach Protesten von Anwohner*innen. Das zwingt die Migrant*innen, in die Peripherien auszuweichen, die oft von kriminellen Gruppen kontrolliert werden.

Trumps Trümpfe, Mexikos Möglichkeiten

Gewalt, Verfolgung, wirtschaftliche Not und Klima­veränderungen als Ursachen für Wanderungs­bewegungen sind in der lateinamerikanischen Region nicht verschwunden. Darum ist die Frage, ob der drastische Rückgang dieser Bewegungen tatsächlich ein dauerhaftes Phänomen ist oder trotz Trump nur vorübergehend. Genauso ist denkbar, dass dieser seinem Ziel massiver Abschiebung doch Schritt für Schritt näherkommt und dann auch die Zahl der Abschiebungen nach Mexiko spürbar ansteigt.

Mexikos Präsidentin Claudia Sheinbaum betont immer wieder, die mexikanische Souveränität sei nicht verhandelbar. Ihr kühler Kopf im Umgang mit Trump hat ihr international einiges an Anerkennung verschafft. Doch letztendlich ist ihr Spielraum beschränkt. Zölle, Energieabhängigkeit – Mexikos Stromproduktion basiert inzwischen zu etwa zwei Dritteln auf US-amerikanischen Gasimporten –, die Drohung direkter US-Militärinventionen gegen die Drogenkriminalität: Trump hat die Trümpfe in der Hand. Mexiko wird keine Migrationspolitik umsetzen können, die von den USA unabhängig ist oder deren Interessen zuwiderläuft. Doch die mexikanische Regierung hätte angesichts der aktuell geringen Migrationsbewegungen die Möglichkeit, wenigstens den in Mexiko unfreiwillig gestrandeten Migrant*innen eine menschenwürdige Perspektive im Land zu bieten.

Gerold Schmidt leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko-Stadt. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 489 Okt. 2025, hrsg. und mit freundlicher Genemigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Gerold Schmidt - Informationsstelle Lateinamerika:

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