Was die verschärfte Asylpolitik für Schutzsuchende aus Lateinamerika bedeutet
Der internationale Schutz, ein Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg, erlebt derzeit eine beispiellose Delegitimierung. Europa und insbesondere Deutschland verfolgen in den letzten Jahren eine restriktive Migrationspolitik, die selbst denjenigen die Türen verschließt, die vor Konflikten, Verfolgung oder struktureller Gewalt fliehen. Wir analysieren, wie das Recht auf politisches Asyl in Deutschland nach und nach abgeschafft wird und was das für Migrant*innen aus Lateinamerika bedeutet.
Das Ausmaß der Zwangsvertreibungen und Verfolgungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts machte deutlich, dass ein internationales System benötigt wurde, um Menschen, deren Grundrechte gefährdet waren, rechtlichen und humanitären Schutz zu bieten. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Übereinkommen, Statute und Institutionen geschaffen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), Gründung des UNHCR (1950), Flüchtlingskonvention (1951), New Yorker Protokoll (1967), Erklärung von Cartagena über Flüchtlinge (1984). Sie definierten Rechtsrahmen zur Gewährleistung der Grundrechte von Menschen, die aufgrund von Gewalt oder soziopolitischen Konflikten migrieren. Dieser Rahmen umfasst das Verbot der Rückführung einer Person, wenn ihr Leben oder ihre Unversehrtheit in Gefahr ist und sie in ihrem Herkunftsland keinen Schutz finden kann. Allerdings ist Asyl heute nicht mehr das, was es einmal war. Im Mai 2024 verabschiedete die Europäische Union die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Sie enthält eine Reihe von Gesetzesänderungen, die einen Wendepunkt in der Art und Weise darstellen, wie der Kontinent mit Migration umgeht. Auf der Website der Bundesregierung wird die Reform als Instrument zur Gewährleistung „schnellerer, gerechterer und einheitlicherer” Asylverfahren dargestellt. Die in der Reform vorgesehenen Maßnahmen sind jedoch kein Fortschritt für den Schutz von Asylsuchenden. Im Gegenteil, sie führen eine Reihe restriktiver Änderungen ein, die die Logik der Eindämmung und Ausgrenzung noch verstärken. Durch diese Reform wird der Kern der Genfer Flüchtlingskonvention gefährdet, da das internationale Asylsystem in seiner Struktur verändert und dessen Menschenrechtsgrundlage geschwächt wird.
GEAS: Steuerung und Kontrolle
Viele der Maßnahmen geben Anlass zur Sorge. Dazu gehört beispielsweise die Abschaffung der vorherigen Ankündigung von Abschiebungen sowie die Verlängerung der maximalen Haftdauer vor der Abschiebung. Eine weitere Maßnahme ist die Ausweitung der Polizeibefugnisse. Sie darf nun ohne vorherige Ankündigung die persönlichen Gegenstände von Personen, die abgeschoben werden sollen, durchsuchen und beschlagnahmen. Weitere Maßnahmen sind die Kürzung von Sozialleistungen, die Verlängerung der Wartezeit für den Zugang zu Grundleistungen sowie der Verlust der finanziellen Unabhängigkeit, da der Zugang zu Bargeld durch ein System ersetzt wird, das auf Bezahlkarten basiert. Hinzu kommen neue biometrische Überwachungsmaßnahmen, die die systematische Abnahme von Fingerabdrücken, auch von Minderjährigen, vorschreiben. Außerdem werden beschleunigte Abschiebungen legalisiert und der sogenannte „Solidaritätsmechanismus” angewendet. Demnach können Länder ihre „Solidaritätsquote” durch finanzielle Zahlungen zur Stärkung der Grenzen oder Vereinbarungen mit Drittstaaten erfüllen, um die Einreise von Migrant*innen nach Europa zu verhindern. Schließlich erweitert die Reform den Begriff des „sicheren Drittstaates”. Dadurch ist es möglich, Asylanträge abzulehnen, wenn die Person ein als sicher geltendes Land durchreist hat, selbst wenn dieses Land ihre Rechte und einen wirksamen Schutz nicht garantiert.
Die Reformen des GEAS verwandeln somit ein System, das auf den Schutz verfolgter Menschen ausgerichtet ist, in ein Instrument zur Migrationssteuerung und Grenzkontrolle. Sie stellen einen klaren Rückschritt beim Schutz von Migrant*innen und Geflüchteten dar. Das neue GEAS soll den Zugang nach Europa erschweren, die Zahl der Aufnahmen reduzieren und die Kontrollen verschärfen. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den Grundprinzipien des internationalen Flüchtlingsrechts, das den Schutz von Menschen, die vor Gewalt und Verfolgung fliehen, garantiert.
Lateinamerika: der unsichtbare Fall
Obwohl Menschen aus Lateinamerika nur einen geringen Anteil der Asylanträge in Deutschland ausmachen, zeigt die Behandlung dieser Personen einen besorgniserregenden Trend: Die Unsichtbarkeit und systematische Ablehnung derjenigen, die vor Gewalt fliehen, die in den Medien weniger präsent, jedoch nicht weniger tödlich ist. Außerdem wird deutlich, dass viele der strukturellen Gewaltformen in dieser Region nicht als legitime Gründe für Schutz anerkannt werden.
Derzeit werden die meisten Asylanträge von lateinamerikanischen Staatsangehörigen in Deutschland aus Venezuela und Kolumbien gestellt. Beide Länder befinden sich in einer tiefen humanitären Krise, doch die institutionellen Reaktionen werden der Lage nicht gerecht. Während die Situation in Venezuela weithin als regionaler Notfall anerkannt wird, ist im Falle Kolumbiens von einem „Post-Konflikt” die Rede.
Im Jahr 2024 erreichte Kolumbien mit 3839 Asylanträgen einen Höchststand in Deutschland, doch die Anerkennungsquote ist nach wie vor äußerst niedrig: Weniger als ein Prozent der Antragsteller*innen erhält internationalen Schutz. Die deutschen Behörden argumentieren, dass Kolumbien ein „sicheres Land” sei, und stützen sich dabei auf das Friedensabkommen von 2016 mit der FARC. Diese Darstellung ignoriert jedoch, dass die Gewalt nicht verschwunden ist, sondern lediglich eine andere Form angenommen hat. Seit mehreren Jahren prangern soziale und Menschenrechtsorganisationen an, dass die Gewalt nicht aufgehört hat. Die Ermordung von Menschenrechtsverteidiger*innen, Zwangsrekrutierungen, Verfolgungen und ständige Drohungen zwingen weiterhin Tausende zur Flucht. Die fast automatische Ablehnung kolumbianischer Anträge lässt die Menschen in einer rechtlichen Grauzone zurück, ohne internationalen Schutz und ohne die Möglichkeit einer sicheren Rückkehr.
Am 11. September 2025 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, in der es die Eskalation der Gewalt in Kolumbien verurteilt und vorschlägt, den Clan del Golfo, die FARC-Dissident*innen und das Kartell Los Soles in die Liste der terroristischen Organisationen der EU aufzunehmen. Obwohl die Resolution die Unterstützung für den Friedensprozess bekräftigt, könnte das problematisch für die aktuellen Friedensverhandlungen sein. Das würde andererseits eine Überprüfung der Einstufung Kolumbiens als sicheres Land erforderlich machen und könnte sich positiv auf die Asyl- und internationale Schutzpolitik für Kolumbianer*innen auswirken.
Im Vergleich dazu finden Venezolaner*innen im deutschen Asylsystem größere Akzeptanz. So lag die Anerkennungsquote für Asylanträge aus Venezuela in Deutschland im Jahr 2024 bei etwa 20 Prozent. Das steht im starken Kontrast zu der Anerkennungsquote von 0,3 Prozent für Asylsuchende aus Kolumbien.
„Freiwillige Rückkehr“: eine erzwungene Entscheidung
Das Jahr 2024 markierte eine besorgniserregende Wende. Zum ersten Mal seit 2017 erschien Kolumbien mit 356 registrierten Fällen unter den ersten zehn Ländern, in die Menschen „freiwillig“ zurückkehrten. Dieses Phänomen fällt mit der Unterzeichnung eines bilateralen Migrationsabkommens zwischen Deutschland und Kolumbien zusammen. In dem Abkommen wird eine „reguläre, geordnete und sichere“ Migration gefördert und die Asylverfahren, die als „aussichtslos“ gelten, sollen vermieden werden. Obwohl freiwillige Rückkehrprogramme als humanitäre Alternative gedacht sind, lässt ihre derzeitige Umsetzung Raum für Zweifel. Hinter dem Euphemismus „freiwillig” verbergen sich komplexere Realitäten. Einerseits warnen verschiedene, von sozialen Organisationen gesammelte Zeugenaussagen davor, dass Menschen nicht aus freien Stücken zurückkehren, sondern aufgrund institutionellen Drucks, der Androhung von Abschiebung oder weil sie nach Jahren des Wartens erschöpft sind. Andererseits bedeutet häufig die Rückkehr in das Herkunftsland ohne Garantien, sich erneut den Risiken auszusetzen, die zur Flucht geführt haben. Das ist derzeit bei der „freiwilligen Rückkehr“ von Menschen aus Kolumbien der Fall.
Asyl als Privileg statt als Recht
Sowohl in Deutschland als auch im Rest Europas wird Asyl zunehmend als Menschenrecht infrage gestellt und stattdessen „nützliche Migration” gefördert. Bewegungsfreiheit wird zu einem selektiven Instrument, das nur denen vorbehalten ist, die bestimmte ökonomische Kriterien erfüllen. Wer mit einem Arbeitsangebot oder einem Studienvisum kommt, ist willkommen, während diejenigen, die wegen Gewalt, Diskriminierung oder Verfolgung Schutz suchen, verdächtigt, als unnötig angesehen oder schlimmer noch: kriminalisiert werden.
Das zeigt sich auch in offiziellen Erklärungen: „Wir wollen aussichtslose Asylanträge vermeiden und die Rückführung von Personen ohne Bleiberecht konsequent durchsetzen“, sagte die damalige deutsche Innenministerin Nancy Faeser bei der Unterzeichnung des Migrationsabkommens zwischen Deutschland und Kolumbien. Sie fügte hinzu: „Gleichzeitig bieten wir Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten in Deutschland an und gewinnen so dringend benötigte Fachkräfte in vielen Bereichen.“
Angesichts dieser Entwicklung ist eine radikal andere Sichtweise dringend erforderlich: eine humanistische Migrationspolitik, die mit den Grundsätzen des Völkerrechts im Einklang steht und die Würde aller Menschen achtet – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Beruf oder ihrer Staatsangehörigkeit.
Das Recht auf Asyl als grundlegender Pfeiler der Menschenrechte muss bekräftigt werden, indem die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention ohne Diskriminierung und ohne utilitaristische Kriterien angewendet werden. Die Kategorie „sicherer Drittstaat” muss überprüft werden, um sicherzustellen, dass niemand in ein Umfeld zurückgeschickt wird, das sein Leben oder seine Unversehrtheit gefährdet. Ebenso sollten Programme zur freiwilligen Rückkehr überwacht und bewertet werden, um ihre Transparenz zu gewährleisten und institutionellen Zwang oder Druck zu vermeiden. Darüber hinaus sollten echte Solidaritätsmechanismen zwischen den EU-Mitgliedstaaten gefördert werden, darunter die Umsiedlung, die finanzielle Unterstützung der Aufnahmeländer und die Nicht-Externalisierung der Grenzen.
Schließlich muss eine öffentliche Debatte gefördert werden, die auf der Menschenwürde basiert und Stigmatisierung, Rassismus und Vorurteile gegenüber Asylbewerber*innen abbaut. Es geht nicht nur um das Schicksal der Menschen, die Grenzen überschreiten, sondern auch um die Art von Gesellschaft, die wir aufbauen wollen. In diesem Zusammenhang ist kein Platz für Politik, die bestimmt, welches Leben mehr oder weniger wert ist, oder für Systeme, die Schutz zu einem Privileg für wenige machen. Was wir brauchen, ist eine dringende strukturelle Korrektur diskriminierender Politiken, die die Rechte von Migrant*innen verletzen, sowie ein entschlossenes Bekenntnis zur Wiederherstellung des Grundprinzips, das jede Migrationspolitik leiten sollte: die Achtung des Lebens und der Menschenwürde.
Kein Schutz für Ana
Die 44-jährige Ana (1), eine sozial engagierte Führungspersönlichkeit aus Jamundí im Departement Valle del Cauca, floh 2019 aus Kolumbien, nachdem sie von einer bewaffneten Gruppe bedroht worden war. Sie kam nach Deutschland, um Schutz zu suchen, doch ihr Asylantrag wurde abgelehnt. Die Behörden waren der Ansicht, dass ihre Situation keinen internationalen Schutz erforderte, da Ana in Kolumbien in eine andere Stadt hätte ziehen und sich an staatliche Schutzinstanzen hätte wenden können. Seitdem lebt sie mit einer Duldung, die immer wieder verlängert wird, ohne dass ihr ein dauerhafter Status gewährt wird. Somit ist sie seit sechs Jahren in einer Kettenduldung gefangen. Mit Inkrafttreten des GEAS dachte Ana, könnte es einen Ausweg geben: eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für 18 Monate für gut integrierte Personen, die seit mindestens fünf Jahren in Deutschland leben. Doch die Bedingungen sind streng und durch die jüngsten Reformen noch schwieriger zu erfüllen. Dadurch ist Ana noch verletzlicher geworden. Außerdem kann Ana weder frei arbeiten noch ihre Zukunft planen und lebt unter der ständigen Drohung der Abschiebung.
(1) Name von der Redaktion geändert.
Catherine Sophia ist kolumbianische Politikwissenschaftlerin und Soziologin. Sie forscht zu Friedensförderung, Konflikttransformation, Migrations- und Exilstudien sowie sozialer Gerechtigkeit. Diana Sepúlveda ist Kommunikationswissenschaftlerin. Derzeit macht sie psychosoziale und rechtliche Betreuung von Asyl- und Schutzsuchenden. Sie ist Mitbegründerin der Initiative „Recht auf Asyl“. • Informationen zur Initiative hier. Übersetzung: Tininiska Zanger Montoya. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 489 Okt. 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Fussnoten wurden durch nachträglich eingefügte Links ersetzt.
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