7.500 demonstrierten gestern abend spontan vor dem Konrad-Adenauer-Haus in Berlin gegen den verbalen Schulterschluss des Bundeskanzlers mit den Denkkategorien und Parolen der AfD. Darunter Ricarda Lang, Luisa Neubauer, tausende Frauen und Männer ohne und mit Migrationshintergrund. “Wir sind die Töchter” ist viel mehr als der Titel der Proteste sagt. Er ist der gerechtfertigte Aufschrei gegen eine rassistische und auf Vorurteile fixierte Parole des Bundeskanzlers Friedrich Merz. Sie ist eines Bundeskanzlers, dessen Amtseid auf das Grundgesetz lautet, “Gerechtigkeit gegen Jedermann” zu leisten, zutiefst unwürdig und der Bruch seines Eides auf die Verfassung.
Warum tut er so etwas? Liegt es an Alter und Sozialisation von Merz? Ich komme wie er aus gutbürgerlichen Verhältnissen, bin geringfügig älter als der Eidbrecher, aber ich habe komischerweise schon als Kind gelernt, dass man Menschen nicht nach ihrem Äußeren oder ihrer Herkunft beurteilen darf, dass Pauschalurteile dumm und irreführend sind, dass es in jeder Gesellschaft, jedem Land mehrheitlich anständige Menschen und natürlich auch ein paar A…löcher oder Straftäter gibt. In meiner Schulzeit wurde das vertieft – ich verstand, dass Vorurteile gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe, Herkunft, anderem Glauben dazu führten, dass sie in meinem Heimatland von den Nazis systematisch diskriminiert, verfolgt und vernichtet wurden. Wir lernten viel über den Nationalsozialismus und seine Methoden, wir lernten, was im Grundgesetz steht, damit das alles nie, nie mehr passiert und dass man den Anfängen wehren muss. Ist das an Friedrich vorbeigegangen?
Nicht nur in NRW
Wir lernten das sogar im CDU-regierten Baden-Württemberg, wo lange ein Hans Filbinger (CDU) als Ministerpräsident regierte, der noch wenige Tage vor der Kapitulation Hitlerdeutschlands als Marinerichter Soldaten hinrichten ließ, die sich gegen Hitler gewehrt hatten. Zugang zu Bildung hatte Merz im Sauerland auch. Zwar nur ein “NRW-Abitur”, aber immerhin konnte er danach Jura studieren. Die Grundrechte scheint er aber nicht behandelt zu haben.
Was hat des Friedrich Merz Menschenbild so versaut?
Ich bin wie gesagt ein knappes dreiviertel Jahr älter als Friedrich Merz, wir sind die gleiche Generation und ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft – Kölsch und Schwäbisch. Ich war sechs, als meine Eltern einen italienischen Studenten in Köln zu Weihnachten zu uns nach Hause einluden, das Fest mit uns zu verbringen. Dann zogen meine Eltern nach Ba-Wü um. Was passierte mit Merz, der in NRW in die Schule gegangen ist, wo es damals, anders als im Süden, eine sozialliberale Landesregierung gegeben hat, die an den Schulen sogar politische Jugendorganisationen zuließ – Jungsozialisten, Jungdemokraten, Junge Union – und ich als Jungdemokrat beneidete in den 70ern immer meine NRW-Freund*innen, die für die “Schülervertretung” (SV) kandidieren durften, während wir nur “undercover” – ohne jedes politische Mandat – für die “Schülermitverwaltung” im CDU-Land kandidieren durften. Was ist im Sauerland passiert, dass Friedrich Merz das in der bürgerlichen Kinderstube nicht gelernt hat, was bei mir selbstverständlich zur DNA des Elternhauses gehörte, nämlich Anstand, Achtung vor anderen, und dass man keine Vorurteile pflegen soll?
Ist am Ende die SPD-Bildungspolitik dran Schuld?
Warum hat Friedrich im Sauerland nicht gelernt, dass man vom Äußeren nicht auf den Menschen schließen sollte, und dass Voreingenommenheit von Nachteil ist? Wie hat seine politische Bildung ausgesehen? Ist die SPD und ihre Reformpolitik mit Bildungsminister Girgensohn wirklich daran schuld, dass Merz so armselige Äußerlichkeiten heute für diskutabel hält? Sogar noch darauf besteht, seine intoleranten Verunglimpfungen zu bekräftigen?
Waren wir Südstaatler die demokratische Kaderschmiede?
Wir haben in Gemeinschaftskunde und Geschichte die Klassiker – Goethe, Schiller, die Dichter des deutschen revolutionären Vormärz – 1848 gelesen, Texte von Rousseau, Voltaire, Locke, Hobbes, Montesquieu, Max Weber, Karl Marx und Habermas, Horkheimer, Adorno. Was hat Friedrich gelesen? Man hat doch im Sauerland gelesen, merkt man an Franz Müntefering, und der ist noch älter als wir!
Was hat ihn dann geritten, den Stadtbild-Spruch rauszuhauen? Das Grillfest mit Nachbarn? Die Vorstandssitzung bei Blackrock? In welch schlechte Gesellschaft kann er sonst noch geraten sein, nachdem ihn Angela aus Berlin entsorgt hat? Können Reden vor Unternehmern für Honorare um die 20.000 Euro pro Abend so von der Wirklichkeit entfremden? Was mag er da wohl erzählt haben? Was ist passiert, sodass er die ganz grundlegenden gesellschaftlichen Regeln und den Anstand unserer Generation weisser alter Männer mit bürgerlichem Hintergrund derartig verpasste?
Hat Mopedfahren nicht gereicht – muss er Flegeljahre nachholen?
An der CDU kann es eigentlich auch nicht liegen. Hat doch die Junge Union – wie etwa sein JU-Kollege Karl Klipper in Köln 1967 – wie wir in Esslingen – die Straßenbahnen mit der “Rote-Punkt”-Aktion sitzblockiert, ist dafür sogar verurteilt worden. Und zu den Demonstrationen für den Frieden und gegen Mittelstreckenraketen in Bonn 1981 bis 83 hatte auch die Junge Union Rhein-Sieg aufgerufen. Wo mag Friedrich Merz da gewesen sein? Er will – nach eigenem Bekunden – irgendwann auch im Sauerland mal ein Moped frisiert haben … Will er nun mal so richtig alle zivilisatorischen Regeln in Frage stellen, endlich mal Volkes Stimme nachahmen? Da empfehle ich doch Franz-Josef Strauss (CSU): “Vox Populi – Vox Rindvieh!” der konnte sogar Latein.
Warum ist seine Äußerung rassistisch?
Niemand hätte sich aufgeregt, hätte Friedrich Merz angesprochen, dass die Sicherheit insbesondere von Frauen, aber auch von Lesben und Schwulen im öffentlichen Raum immer wieder Bedrohungen ausgesetzt ist, weil sexistische, gewaltbereite und in Teilen rechtsextreme oder islamistisch begründete oder einfach nur chauvinistische Männergewalt ein gesellschaftliches Problem ist, das bekämpft werden muss. Tatsache ist, dass in bestimmten Städten und Dörfern Ostdeutschlands Nazis zum Stadtbild gehören, Demokraten, Frauen, und erkennbare Nichtnazis, gar LGBTQ-Menschen, die sich nachts auf die Straße wagen, ein hohes Risiko eingehen, Gewalterfahrung zu machen. Dass Frauen überall und täglich sexistische Anmache und Gewalt in der einen oder anderen Form erleben. Dass Frauen und Töchter auf dem Oktoberfest in München besonders häufig sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Dass es inzwischen “befreite Gebiete” in einigen ostdeutschen Provinzen gibt, wo Neonazis und Faschisten mit “88” “HKN-KRZ” T-Shirt offen getragen zum “Stadtbild” gehören, sie Gemeinden kapern, in denen die Rechte von Frauen und Mädchen im Namen einer rassistischen und sexistischen Ideologie mit Füßen getreten werden.
Aber das alles hat unser Friedrich mit “Stadtbild” nicht gemeint. Er wollte Verständnis zeigen dafür, was AfD-Wähler meinen, wenn sie zu “man wird doch wohl noch sagen dürfen” ansetzen. So sorgt er dafür, dass die AfD wächst und gedeiht.
Müntefering ist aus Neheim, das liegt nur am Rande des Sauerlandes, und noch recht nah an einer richtigen Stadt (Dortmund).. Der Schwiegersohn von Woody Guthrie,
https://woodyguthrie.org
der hier in Beuel quer über die Strasse wohnt, ist auch von da.
Brilon liegt gut 50 km tiefer im Sauerland. Dort sind SPD-geführte Regierungen nie als legitim angesehen worden (also wie in BaWü und Bayern). Die Bahn braucht von Neheim nach Brilon gut 1 Stunde, wg. der vielen Langsamfahrstrecken (Brücken, Berge, etc.).
Entscheidend war aber wahrscheinlich, dass Müntefering Kind eines Landwirtes und Fabrikarbeiters war, Merz dagegen wurde “in eine Juristenfamilie geboren” (Wikipedia); Filbinger hätte also sein Vater sein können. An der Uni Bonn hätte er Dir oder mir begegnen können; aber das “Juridicum” war für uns ja immer Auswärtsspiel.