Der verräterische Abfeiern von Ex-Kanzler*inne*n in einstigen “Leitmedien”

Es gibt kein Leitmedium mehr. Die, die einst dafür gehalten wurden, verlieren seit Jahrzehnten massiv an Bedeutung. Viele meiner Altersgenoss*inn*en merken es nur immer noch nicht. Sie werden von ebendiesen umsatzsüchtigen Medien mit Kanzler*inne*n-Nostalgie abgefüttert. Der Spiegel macht es mit Merkel (Paywall), das FR-Feuilleton mit Schmidt (wem sonst?). Unverkennbare Symptome für die intellektuelle Dauerdürre im deutschen politischen Diskurs.

Für mich verhältnismässig überraschend ist mein Beerdigungstext zur FDP ein heisser Klickseller. Leser Peter Lessmann-Kieseyer erwischte mich bei unzulässiger Genscher-Nostalgie. Ich hatte den Träger des gelben Pullunders zuletzt auf meiner Bonner Lieblings-Gourmet-Terrasse lebend gesehen – er hatte also gegen Ende seines Lebens den gleichen guten Geschmack wie ich. Das verbindet. Und blendet. Der kritische Leser konzedierte selbst: “Genscher der ‘letzte hochwertige Außenminister’? – nun ja, im Vergleich zu dem, was folgte, sicherlich …”. Der Kern des Problems sind also die Figuren der Gegenwart.

Heute sendete der DLF ein “Wochenendjournal” über “lost places”. Das passte zu meinem FDP-Abgesang. Vielleicht sollten sie in Gummersbach die in Kürze geschlossene Theodor-Heuss-Akademie von der bergischen Wildnis zuwuchern lassen, statt sie zu verkaufen. Das ergäbe eine interessante fantasieanregende Natur-Skulptur.

Aber zurück zu den Kanzler*inne*n. Alles Gute zu Helmut Schmidt hatte mir bereits Uwe Lyko vor 17 Jahren im Beueler Brückenforum gesagt. Er spielte ihn jahrelang in den WDR-Mitternachtsspitzen. Das damalige Interview hat Augsteins Freitag frecherweise ohne meine Zustimmung digital vernagelt.

Zu Frau Merkel hat insbesondere Petra Erler viel politisch Nötiges in Erinnerung gerufen und kritisch analysiert.

Ich fasse diese Erkenntnisse mal so zusammen. Exakt diese Persönlichkeiten, denen viele Ältere heute nostalgisch hinterhertrauern, oder die, wie jüngst Merkel, hier in Bonn von einem grau- und weisshaarigen Publikum sogar frenetisch gefeiert werden, gespeist aus dem Entsetzen über ihre Nachfolger*innen – exakt diese Leute haben “uns” und unser Gemeinwesen/unseren Staat dahin verwaltet und geführt, wo “wir” heute sind.

Die – noch – mächtigsten Staaten dieser multipolaren Welt, werden von begrenzt zurechnungsfähigen Ü70-Greisen geführt, die die realen Probleme des Planeten weder verstehen, noch interessieren sie sich überhaupt für die. Ausnahme vielleicht er? Aber er genehmigte jüngst Erdöl(!)-Bohrungen im Amazonas-Mündungsgebiet.

Das ist der Grund, warum eine Figur von allenfalls kommunalpolitischer Reichweite die kapitalistischen Teile der Weltöffentlichkeit so elektrisieren kann. Weil keine Persönlichkeiten mehr heranwachsen, die Hoffnung vermitteln können. Die gegenwärtigen Mächtigen repräsentieren nur Wut und Zerstörungsbereitschaft. Davon sind viele Alte erfüllt. Den Jungen hilft das nicht. Es bedroht sie.

Über Martin Böttger:

Avatar-FotoMartin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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