Der politisch-moralische Niedergang Perus
¡Que se vayan todos! („Alle sollen abhauen!“) ist der Ruf, der abermals durch die Straßen Perus hallt, geschrien von der Generation Z, die sich weigert zu schweigen. Das Land beeindruckt die Welt mit seinem kulinarischen Prestige, doch beherrscht Gewalt seine Straßen und Enttäuschung prägt das öffentliche Leben. Acht Präsident*innen in zehn Jahren spiegeln ein Szenario wider, das von organisierter Kriminalität, Straflosigkeit und Schutzlosigkeit seitens des Staates dominiert ist.
Neben dem Peru als Andenland mit 33 Millionen Einwohner*innen und internationalem Ruf als kulinarischem Reiseziel offenbart sich zunehmend eine parallele Realität, nämlich ein Peru mit abwesender Regierung und ansteigender Unsicherheit. Jenseits der preisgekrönten Restaurants ist das Leben auf der Straße von Erpressung und Gewalt geprägt, einer Gewalt, die die Regierung nicht nur ignoriert, sondern sogar zu fördern scheint. Dieses Paradoxon erlebt man tagtäglich am Esstisch. Wir Peruaner*innen sind sehr glücklich, wenn wir uns über Gastronomie unterhalten, aber sobald das Gespräch auf Politik kommt, bewerfen wir uns gegenseitig mit Besteck. Denn die peruanische Politik versagt bereits beim Grundlegendsten: dem Leben. Das Leben hat seinen Wert verloren, ein Auftragsmord kostet weniger als 100 Euro.
Die Kriminalität ist kein strukturelles Problem mehr, sondern eine akute Sicherheitskrise. Die Gewalt, die sich historisch auf den illegalen Bergbau und informelle Gebiete in den ländlichen Regionen konzentrierte, hat sich nun auch auf die Städte und die zentralen Bezirke Limas ausgeweitet. Geschäfte werden Opfer von Erpressung durch Mafiagruppen, die, mit Waffen ausgerüstet, die Gewalt in einem noch nie dagewesenen Ausmaß eskalieren lassen. Am stärksten betroffen sind Transportarbeiter, die ermordet werden, wenn sie sich weigern, „Quoten“ (erpresste Geldbeträge) zu zahlen. Die Statistiken sind alarmierend: Die Anzeigen wegen Erpressung stiegen von 2618 Fällen im Jahr 2019 auf 17426 im Jahr 2023. Die Mordrate stieg auf nationaler Ebene von 3,5 Prozent pro 100 000 Einwohner im Jahr 2019 auf 6,1 Prozent im Jahr 2024.
Angesichts dieser Krise reagierte die Regierung der ehemaligen Präsidentin Dina Boluarte mit Zynismus und Leichtfertigkeit, schien sie doch mehr damit beschäftigt zu sein, sich vor Gericht zu retten und Luxusuhren zu kaufen. Als Strategie gegen Erpressung schlug sie vor, Kriminellen „nicht auf WhatsApp zu antworten“.
Unzufriedenheit und Memes nahmen zu, 98 Prozent der Bevölkerung lehnten sie ebenso wie den Kongress ab. Das Problem ging jedoch über die persönliche Leichtfertigkeit hinaus. Legislative und Exekutive wurden als Teil eines „mafiösen Pakts“ gesehen, von dem die Eliten profitierten. Der Kongress verabschiedete eine Reihe von „Pro-Straflosigkeitsgesetzen”, welche die Arbeit von Richter*innen und Staatsanwält*innen behindern. Sie schränkten die effektive Zusammenarbeit ein, verkürzten die Verjährungsfristen und änderten das Gesetz gegen Organisierte Kriminalität, um politische Parteien in Fällen von Geldwäsche von der strafrechtlichen Verantwortung zu befreien. Somit ist die politische Klasse vor Strafverfolgung geschützt. Die Regierung priorisiert den Schutz ihrer politischen Parteien statt Maßnahmen gegen Unsicherheit und Kriminalität. Die Botschaft war klar, die Wut und die Unzufriedenheit waren offensichtlich.
Auf den Anschlag folgt die Gegenwehr
Der vor Kurzem erfolgte Anschlag mit 27 Schüssen auf die beliebte Musikgruppe „Agua Marina“ während eines Konzerts war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er fand in einer Militäranlage im Stadtteil Chorillos statt, einem Mittelklasseviertel Limas. Dass die extreme Gewalt einen historisch sicheren Ort und einen von den peruanischen Streitkräften erreicht hat, verdeutlicht das Ausmaß der Krise für die Mittel- und Oberschicht.
Der Angriff weckte die kollektive Wut und führte zu einer Demonstration gegen die Regierung von Boluarte. Der Kongress sah darin die perfekte Gelegenheit, von der Unzufriedenheit zu profitieren, und führte ein Wahlmanöver durch. Renovación Popular, die rechte Partei des Bürgermeisters von Lima, stellte einen Antrag auf Amtsenthebung (der fünfte gegen Boluarte), der unter normalen Umständen längst zu den Akten gelegt worden wäre. In einer dramatischen Wendung und angesichts der bevorstehenden Wahlen im April 2026 beschloss jedoch die Fujimori-Fraktion, die wichtigste Oppositionsgruppe, die Boluarte zuvor geschützt hatte, sich dem Amtsenthebungsantrag anzuschließen. Mit ihrer Unterstützung wurden die erforderlichen zwei Drittel erreicht. So wurde der Antrag innerhalb von weniger als 24 Stunden zugelassen, debattiert und abgestimmt. In den frühen Morgenstunden des 16. Oktober wurde Boluarte mit der Unterstützung fast aller anwesenden Kongressabgeordneten ihres Amtes enthoben. Damit fiel die Präsidentschaft an den Kongresspräsidenten José Jerí, gegen den Anzeigen wegen Vergewaltigung und illegitimer Bereicherung vorliegen. Er zögerte nicht, den Stil des salvadorianischen Präsidenten Bukele zu imitieren und in den sozialen Medien mit harter Hand aufzutreten. Die Ironie dabei ist, dass Jerí die Fortsetzung desselben „mafiösen Pakts“ vertritt, der heute beide Gewalten offen kontrolliert und die „Pro-Straflosigkeitsgesetze“ aufrechterhält.
Angesichts der Repräsentationskrise übernahm die Generation Z erneut die Führung des Protestmarsches. Bereits zuvor hatte sie jene Proteste angeführt, die zum Sturz des ehemaligen Präsidenten Manuel Merino geführt hatten. Es war eine Massendemonstration mit Tausenden von Menschen, darunter Musiker*innen, Künstler*innen, Intellektuelle und ganze Familien mit Kindern, die aus ihrer gesellschaftlichen Passivität erwachten, um ihre Stimme gegen die Farce der Regierung zu erheben. Doch Sprecher wie der neue Premierminister Ernesto Álvarez brachten die Generation Z sogleich mit Terrorismus in Verbindung und griffen damit die Erzählung auf, dass die Demonstrierenden Feinde des Staates seien. Die Wut der Demonstrierenden äußerte sich unter anderem durch das Werfen von Gegenständen und Farbbeuteln auf den Kongress.
Die Gewalt, die eigentlich mit nicht-tödlichen Maßnahmen hätte kontrolliert werden sollen, wurde mit unverhältnismäßiger Repression beantwortet. Die Polizei sperrte Straßen, setzte Tränengas ein und verhinderte so eine sichere Auflösung der Menschenmenge, ein Vorgehen, das eine politisierte und konfrontative Vorgehensweise der Sicherheitskräfte offenbart. Das Ende war tragisch: Der 32-jährige Hip-Hop-Musiker Eduardo Ruiz Sáenz, bekannt als „Trvko“, wurde durch einen Schuss von einem Polizisten getötet. Ein weiterer junger Mann liegt im Koma, nachdem eine Tränengaspatrone seinen Kopf getroffen hatte. Der Todesfall steht in direkter Linie mit den 49 Opfern von Dina Boluarte sowie den beiden jungen Männern, die bereits unter der Regierung von Manuel Merino ums Leben kamen.
Die Zukunft bleibt ungewiss
Die Polarisierung geht weiter und es gibt kaum Raum für fundierte Debatten. In den sozialen Netzwerken stehen sich seit einigen Tagen zwei Seiten konfrontativ gegenüber. Ein Teil der Bevölkerung zeigt eine tiefe Intoleranz, bezeichnet die Demonstrierenden als Kompliz*innen von Vandalismus und als Terrorist*innen. Diese Vorwürfe richten sich nicht nur gegen die Demonstrierenden, sondern auch gegen diejenigen, die der Meinung sind, dass ein Verbrechen untersucht werden muss. Die Geschichte wiederholt sich. Bei der Stichwahl 2021 wurden diejenigen, die die Kandidatin Fujimori nicht unterstützten, als Terrorist*innen und Ignorant*innen abgestempelt. Heute, sechs Monate vor den Wahlen, werden diejenigen in den sozialen Netzwerken angegriffen, die Verbrechen, die von der Polizei begangen wurden, aufklären möchten.
In der Zwischenzeit haben die Jugend und die sogenannte Generation Z angekündigt, dass sie weiterkämpfen und demonstrieren werden. Konkret fordern sie die Aufhebung der Pro-Straflosigkeitsgesetze. Dieser Aufruf ist von der aktuellen politischen Klasse jedoch bisher unbeantwortet geblieben.
Die Lage ist von absoluter Enttäuschung und Unzufriedenheit mit der gesamten politischen Klasse geprägt. Es gibt keine klaren Perspektiven, weder für die Linke noch für die Rechte. Das Land ist desillusioniert und die Krise bleibt. Das Dilemma, mit dem Peru konfrontiert ist, besteht darin, dass das politische Spektrum keine Alternativen bietet. Dies nährt die gefährliche Vorstellung, dass der einzige Weg eine Politik der harten Hand oder ein Außenseiter als Präsident ohne klare ideologische Grundlage ist, was die soziale Spaltung und das Misstrauen gegenüber den Institutionen noch vertieft.
Jerónimo Centurión ist ein unabhängiger Journalist und Dokumentarfilmer aus Peru. Übersetzung: Ximena Villalpando. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 490 Nov. 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Links wurden nachträglich eingefügt.

Schreibe einen Kommentar