Marcel Reich-Ranicki war verwegen genug, das Lied „Ich hatt einen Kameraden“ zu den zwanzig besten deutschen Gedichten zu zählen. Was daran verwegen ist? Nicht unbedingt Uhlands Lob kriegerischer Kameradschaft. Das bringt wenigstens eine Prise alte Poesie in die sonst so unpoetische neue Kriegstüchtigkeit.
Nein, verwegen ist an Reich-Ranickis Zwanziger-Liste etwas anderes: zu glauben, dass es überhaupt zwanzig überragend gute deutsche Gedichte gebe. Kein einziges unserer Gedichte reicht heran an François Villons „ballade des pendus“ oder auch nur an Edgar Allen Poes „Raven Nevermore“. Wie wär´s auch in der Poesie mit etwas mehr, wie soll ich sagen, mitteleuropäischer Bescheidenheit? Drum schlage ich allen Ernstes vor, uns statt auf zwanzig beste deutsche Gedichte zu beschränken auf zehn gute deutsche Gedichte. Und noch mehr mitteleuropäische Bescheidenheit: Lasst uns nicht mit dem ersten anfangen, sondern mit dem zehnten der zehn guten deutschen Gedichte:
„Es war einmal ein treuer Husar, Der liebt´ sein Mädchen ein ganzes Jahr, Ein ganzes Jahr und noch viel mehr. Die Liebe nahm kein Ende mehr.“
Der Klassiker unter den Schlagern des Kölner Karnevals. Was immer sein Dichter gedacht und gewollt hat, lange Zeit war dies nichts als eins von vielen wilhelminischen Küchenliedern. Mit vielenvielen Strophen. Von einem Husaren, der aus lauter Treue zum angestammten Herrscherhaus todesmutig hinausreitet aufs Schlachtfeld. Und von seinem Mädchen, dem nichts übrigbleibt als an der Bahre seines Helden in Tränen zu zerflissen. Trauriger und banaler geht´s nicht.
Doch dann ist diese unoriginellste aller Moritaten in den Kölner Karneval geraten. Schnell hat sie hier alle ihre Kitsch-Strophen verloren. Bis auf die erste. Und die hat sich verschunkelt zu einem Liebeslied von märchenhafter Zweideutigkeit. Märchenhaft schon die drei ersten Worte: „Es war einmal…“. Märchenhaft genug metamorphosiert sich dann die Husarentreue vom Militärischen ins Erotische. Jetzt das Zeitfenster: Wo sich sonst schon die flüchtigste Begegnung schmückt mit Schwüren von ewiger Treue, klingt „ein ganzes Jahr und noch viel mehr“ eher skeptisch, jedenfalls prosaisch. Die letzten Worte deuten dann unumwunden an, dass endlose Liebe eher Last sei als Lust. Wie das? „ … nahm kein Ende mehr“ ist im Deutschen eine Wendung, die nicht endloses Glück ausdrückt, sondern aufgestauten Überdruss. Zum Beispiel nimmt die Regierungskrise in Berlin kein Ende mehr. Und jetzt dieser Unterton der Unlust und des Überdrusses als zweideutiges Ende eines sonst so lustigen Liebeslieds: „Die Liebe nahm kein Ende mehr.“ In vier Zeilen ist dies ein Meisterstück romantischer Ambivalenz.
Was Karneval betrifft, bin ich eine nullité parfaite. Warum dann summe ich zu jeder noch so unpassenden Jahreszeit und an jedem noch so unpassenden Ort keine Melodie so gern wie diese: „Es war einmal in treuer Husar.“
Der allerunpassendste Ort dafür ist die Basilika Sankt Ursula. Das ist das Heiligtum der elftausend Kölner Jungfrauen, die aus Liebe zu Jesus und zur Keuschheit lieber das Martyrium erlitten haben als sich den eingefallenen Hunnen hinzugeben, als wären´s treue Husaren. Vor allem ist Sankt Ursula die schönste Kölner Kirche, unvergleichlich schöner als der nahe Dom. Hoch von allen Wänden blicken, erfüllt von himmlischer Seligkeit, zahllose Jungfrauen auf den frommen Beter herab. „Reliquienbüsten“ sind das, innen hohl, aber nicht leer, sondern sagenhaft gefüllt mit den uralten Gebeinen der elftausend keuschen Kölnerinnen.
Was haben die vielen keuschen Jungfrauen zu tun mit dem Einzelfall des treuen Husaren? Nichts. Jedenfalls nicht in der Basilika. Aber jetzt, tritt hinaus vor die Kirche! Unmittelbar, hautnah vor dem Eingang zum Heiligtum der Keuschheit steht ein ganz anders gearteter Tempel: „Der treue Husar“ steht gross drauf. Hier sind sie alle zu Hause: die Karnevalsgesellschaft „Treuer Husar“, nicht zuletzt das „aktive Korps Treuer Husar“, das Reservekorps „Treuer Husar“, das „Reiterkorps Treuer Husar“, die vielversprechenden Knaben und Mädchen von der Jugendtanzgruppe „Husarenpänz“ und neuerdings, zwecks Erhöhung der Kriegstüchtigkeit, eine husarenstarke Abordnung der „Heeresaufklärungstruppe“ der Bundeswehr. Und immerzu, ob du zur Basilika gehst, ob du wieder herauskommst, klingt es dir in den Ohren, das Lied der Lieder:
„Es war einmal ein treuer Husar“
Jetzt aber im Ernst: Was in aller Welt verbindet den treuen Husaren so nah und innig mit den elftausend keuschen Jungfrauen? Du zuckst mit den Schultern. Das sei Zufall. Seine Nachbarn könne man sich halt nicht aussuchen. Wahrlich ich sage dir: Was du für Zufall hältst, ist Fügung. Nichts ist so innig verwandt wie Erotik und Religion. Nicht in der Wirklichkeit, wohl aber als Legende sind beide, Erotik und Religion, gleich märchenhaft schön:
„Es war einmal …“
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner überaus freundlichen Genehmigung.

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