Neben dem Fahrer hatten zwei Leute Platz. Da saßen Jelena und ihr rasch noch dazu gesprungener Bruder Franticek. Hinter Claus, der den Diesel schon vorglühen ließ, setzte sich Josh, daneben Angel. Legu und Alwys nahmen die zweite Sitzbank im Fahrgastraum ein. Der Wagen startete mit einer dunkelblauen Rauchwolke, die Zylinder begannen allmählich schneller zu stampfen, nur der vierte wollte noch nicht so recht zünden, sprang nach einigen Metern auf dem Schotter schließlich auch an, wodurch der Wagen einen Ruck nach vorne machte. Langsam und dabei schweigend umkreisten sie die magisch illuminierte Trauerweide. Alwys meinte, er sähe in dem Licht eine Figur, eine Madonna vielleicht oder den alten Mann mit langem weißem Haar und gütiger Stimme – oder zorniger Stimme, je nach Sündenkonto, dachte er bei sich. Na, ja, bei mir im Moment eher mit gütiger Stimme. „Hat Gott nach dem Sex eigentlich auch immer eine geraucht?“, durchbrach Alwys die scheinbare Andacht.

„Legu, mach nicht, dass wir wegen deiner Geisterbeschwörung und dem großen Plan, hier noch eine Marienerscheinung auf die Republik freier Flaschenhals bekommen,“ sagte er dann mehr zu allen als nur zu Legu. Claus sah ihn im Rückspiegel an und Jelena meinte dazu schön lakonisch, wie nur sie es sein konnte: „Na und, das wäre doch eine wunderbare Geldquelle für deinen Fünf-Mark-Sack. Ins Kassenhäuschen am Steinportal würde ich mich sogar für euch reinsetzen. Wir müssten dann nur noch eine Wasserquelle aus dem Baum fließen lassen, damit wir was zu verkaufen hätten. Legu, und du könntest ja auch mal etwas mehr als nur das Wetter vorhersagen, vielleicht auch einmal etwas über das Schicksal der Leute oder so. Das könntest du doch zusammen mit deinem Molch Fritz machen, je nachdem welche Tarnfarbe er auflegt und auf welcher Stufe Deiner Bibliotheksleiter er hockt könntest du von der Weltgeschichte des Wetters auf kleine Schicksale Rückschlüsse herbeiorakeln, so belesen wie du bist, oder etwa nicht?“

Dann war erst einmal wieder Stille. Josh gefiel es einmal selbst gefahren zu werden.
Der Diesel knatterte gemächlich über die Landstraße Richtung Bingen. Wenn alle ehrlich gewesen wären, hätten sie zugeben müssen, dass niemand im Wagen auch nur die geringste Lust gehabt hatte, am Nachmittag nicht nur nicht in die Republik freier Flaschenhals, sondern überhaupt nicht in sein altes Leben zurückzukehren, aber wohin sonst?

Vielleicht wollte ihnen das Licht in der Trauerweide so etwas sagen, etwas über ihr eigenes Schicksal. Im Seitenspiegel, kurz bevor sie das Tor durchfuhren, hatte Jelena ihre beiden Eltern aus dem Herrenhaus schreiten gesehen und dabei festgestellt, dass sie immer noch genau die gleiche Körperhaltung und den gleichen Gesichtsausdruck trugen, wie seit Jahr und Tag, seitdem sie denken kann. Zuerst der Vater, der kurz zum Himmel blickt und die Witterung prüft, immer in Sorge um die Paprikaernte, dann kam die Mutter heraus und sprach noch zwei, drei Sätze mit ihrem Mann über das Tagesgeschäft, Essenszeiten, Arbeitszeiten und so weiter. Jelena fiel es aber wie Schuppen von den Augen, als sie ihre beide Eltern vor dem Herrenhaus sah, dass sie sich mit der Umsiedlung eigentlich allem selbst beraubt hatten, um das, was sie ausmachte, was sie waren und nur in der Tschechoslowakei sein konnten. Das Leben und das Überleben in diesem merkwürdig zusammen gesetzten Land Tschechoslowakei als deutschstämmige Einwohner. Und obwohl sie vom Staat und seinen Vertretern vor Ort ziemlich drangsaliert und gegängelt worden waren, war es trotzdem ein erfülltes Leben. Man hatte sich im Mangel, so gut es ging, eingerichtet, man hatte sich mit den politischen Verhältnissen irgendwie arrangiert, hatte Mittel, um die notwendige Korruption bei Sonderwünschen zu bedienen und die Tochter stand auf der Schwelle zur nationalen Identifikationsfigur als Eiskunstlaufstar.
„Dass ihr Deitsche seid,“ hatte der Parteisekretär einmal zu ihnen gesagt, „das macht doch nichts. Hauptsache, dass unsere Fahne weht bei der Siegerehrung, Genossen!“

Jelena war in diesem Moment klar, dass ihre Eltern die Ausreise einzig und allein nur für sie und ihren Bruder beantragt hatten, um deren Willen, nicht für sich selbst. Sie hatten ihre Aufgabe in der Slowakei gehabt und sahen in absehbarer Zeit keine Veränderung der Verhältnisse. Perestroika, pah! Hatte ihr Vater einmal gesagt, dem Russen ist nicht zu trauen. Am Ende wird wieder marschiert. Ich mache mir da nichts vor.

Die „Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 16. bis 24. Dezember 2025 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst.

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