Alwys übte auf dem rechten Knie ein paar Pickings für die Gitarre. Locker bleiben in der Hand, das war seine Devise, immer gegen den Grundrhythmus anspielen, „zwei Seelen wohnen, ach, in meiner rechten Hand. War schon komisch, dieses Licht in der Trauerweide,“ dachte er versonnen und blickte glasig aus dem Fenster ins Unendliche.

Er begann zu zählen. Irgend etwas, es musste sich beim Vorbeifahren nur wiederholen. Haustüren mit Glasscheibe, rote Autos, Passanten am Sonntagmorgen, Einfamilienhäuser mit geklinkertem Sockel und höher gelegtem Erdgeschoss, ganz egal, was es war, es musste sich nur wiederholen, dann war es gut. So zählte und zählte er alles, was zusammenzugehören schien bis kurz vor Bingen, als sie auf die berüchtigte Bundesstraße B 9 einschwenkten, die sie schnurstracks an Bacharach und Oberwesel vorbei nach St. Goar führen sollte. Das war auch der Unterschied zum Bahnfahren. „Wer bahnfährt,“ erkannte Alwys messerscharf, „sieht eigentlich nur Dreck, nur Hinterhöfe, nur Rückseiten, weil die Gleise genau da entlang führen, am Hang entlang, wo noch Platz war zwischen Hang und Häuserreihe. Wer die B 9 fährt, der sieht schmucke Vorgärten, Hotelterrassen und immer den Rhein.“

Am Morgen schien die Sonne auf dieser orografisch linken Rheinseite vom Taunus herüber. Alles wirkte irgendwie gefegt in Bingen, nur, weil niemand auf den Straßen zu sehen war, als wäre hier die Neutronenbombe gefallen. Keine Menschenseele mehr unterwegs entlang der Durchfahrtsstraße zwischen Autobahnzubringer und Panoramastraße. Plötzlich sah alles aus, wie in diesen Andenkenkugelschreibern mit Rheinpanorama und Ausflugsdampfer, der hin- und her schwamm, wenn man ihn nach links und rechts kippte. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite, die sie bei der Bingen-Durchfahrt zwischen den Häusern sehen konnten, war wohl schon Ausflugsbetrieb, zumindest standen am Rüdesheimer Bahnhof etliche Reisebusse und der Raddampfer von der Köln-Düsseldorfer legte gerade ab. Rüdesheim war die erste Station für japanische Touristen auf Europatour. Europa in einer Woche. Man kommt gegen acht in Frankfurt/Flughafen an, steht um zehn auf der Loreley und sitzt spätestens um eins bei einem Schnitzel „Wiener Art“ in der Drosselgasse von Rüdesheim, diesem ein Meter fünfzig breiten Verwertungshof für altes Frittenfett und inszenierter scheinbarer deutscher Gemütlichkeit. Ein Alleinunterhalter intoniert die deutschen Schlager der 60er und 70er Jahre, Fiesta Mexikana, Ganz in Weiß und das Kufsteinlied oder das vom Münchner Hofbräuhaus: Darum ist es am Rhein so schön. Danach dann zum Frankfurter Römer und auf das Heidelberger Schloss mit erster Übernachtung dort.

Auf der linken Rheinseite geht es beschaulicher zu. Bacharach, Oberwesel und St. Goar haben zwar herrliche Burgen und historische Ortskerne zu bieten, die neuen Touristen aus Japan und Asien lassen diese Orte aber wörtlich links liegen. Die holländischen Reisenden sind dagegen ein treues Publikum. Auf dem Campingplatz gegenüber der Loreley sitzen sie vor ihren Zelten und Wohnmobilen beieinander und wirken so, als warteten sie darauf, dass die Loreley in der Dämmerung die untergehende Sonne zusammenfaltete, am Eingang zum Felsen ihre Arbeitszeitkarte abstempelte und zu ihnen herübergerudert käme, um gemeinsam alte Rocknummern zu hören. „Shocking Blue,“ „The Nice“ oder die Klassikrocker „Ekseption,“ alles Holländer. Es muss ja nicht immer Rudi Carrell sein, wenn man an Holland denkt, in der Nacht und richtig Sommer wird es – siehe Weltgeschichte des Wetters – jetzt ja immer mehr.

Der Hanomag brummte wie ein Kater hinterm Ofen, dem es gut geht. Jelena zeigte Ihrem Bruder die Burgen auf der rechten Rheinseite. Die Burgruine von Rüdesheim in den Weinbergen, den Mäuseturm im Rhein, die prächtigen Hotels im traditionsreichen Assmannshausen. Alwys zählte die Ausflugsschiffe der Köln-Düsseldorfer auf dem Rhein. Mit Daumen und Zeigefinger bildete er einen Sehschlitz, durch den er den Schiffsverkehr beobachtete. Ja, genau so sah es im Andenkenkugelschreiber aus: Ausflugsschiff, Ortschaft, steile Weinberge und mittendrin im Ort ein Maibaum.

Die „Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 16. bis 24. Dezember 2025 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst.

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