Ohne Moralin und Emphase: Mit seinem Essay „Conflictual Aesthetics“ schlägt der Politologe Oliver Marchart Schneisen in das Dickicht der politischen Kunst
Zweieinhalb Meter hoch und vier Tonnen schwer. Allein von Gewicht und Material hatte es die „Gedenkstätte“, die das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) Anfang Dezember zwischen Reichstag und Bundeskanzleramt platzierte, in sich. Aber auch die Idee, mit der Asche mutmaßlicher Holocaust-Opfer aus Polen in einer erleuchteten Stahlsäule vor dem „Verrat an der Demokratie“ zu warnen, schlug ein wie eine Bombe. Viel mehr Streit lässt sich selbst bei den, schon von mehreren ZPS-Aktionen abgebrühten Berlinern und Hauptstadtpolitikern, kaum erreichen.
Ob diese Kunst, die auf Teufel komm raus politisch relevant werden möchte, das auch wirklich ist, würde Oliver Marchart, Politik-Professor an der Universität Wien, allerdings bestreiten. Denn für ihn ist das Politische, welches derlei Kunst für sich reklamiert, kein Akt puren Willens. Nach Marchart weist die ZPS-Aktion zwar vorbildlich alle Merkmale der Triade der sowjetischen Revolutionsstrategie auf, wie sie Good Old Lenin in seiner Schrift „Was tun?“ von 1902 skizziert hatte: Agitation, Propaganda und Organisation. Insofern ginge die Dislozierung der morbiden Lavalampe schon als Event durch, „das unseren Geisteszustand und unsere körperliche Komfortzone tief verunsichert“.
Für Marchart ist das Politische, welches politische Kunst für sich reklamiert, kein Akt puren Willens
Eine politische Situation im eigentlichen Sinn ist aber etwas anderes als eine politische Kunstaktion. Die verdankt sich für Marchart nämlich keinem Regisseur oder Kurator, sondern „der nichtsubjektiven Kraft des Politischen, für die der angemessenste Name Antagonismus lautet“. Politik ist also da, wo sich ein grundlegender sozialer Konflikt zuspitzt, der schließlich ausbricht.
Dieses Verständnis erklärt, warum Marchart, lange Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie, seinem jüngsten Buch den angenehm weiten Titel „Conflictual Aesthetics“ gegeben hat. Gleichwohl geht es ihm nicht um die Verabschiedung der „politischen Kunst“, die derzeit überall auf der Welt im Aufwind ist. Ganz im Gegenteil. Zwar wischt Marchart die Kritik der „Artivismus“-Gegner – sei es nun die klassische L’art-pour-l’art- oder die Jacques-Rancière-Fraktion, die Kunst als sinnlich-symbolische Strukturierung unseres Alltags auffasst – vielleicht etwas sehr schnell als Versuch vom Tisch, das „geschmeidige Funktionieren“ des Kunstfeldes und seiner Institutionen zu sichern.
Nein zur Logik der Exklusion
Zu Recht aber ficht er gegen die Logik der Exklusion. Vom Sturz der Säule auf der Place Vendôme unter Anführung von Gustave Courbet während der Pariser Kommune bis zu den Aktionen des russischen Künstlerinnen-Kollektivs Femen reicht für ihn die longue durée einer legitimen Strömung der Kunstgeschichte. Mal ist sie stärker, mal eben schwächer. Marcharts Band, teils schon in anderen Kontexten veröffentlicht, ist einer der derzeit kohärentesten Versuche, eine zeitgenössische politische Ästhetik zu (re-)formulieren. Wie spannend er Politik und Kunst analytisch zu durchdringen vermag, bewies er schon 2008 in seinem Band „Hegemonie im Kunstfeld: Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung“.
Sein neuer Essay ist voller verblüffender Einsichten, wie der „suizidalen Logik“ der Revolution. Dann wieder polemisiert er gegen die „spontaneistische Ideologie im Kunstfeld“. Fruchtbar ist es vor allem, weil Marchart darin auf die – im Feld der politischen Kunst beliebten – Drogen Moralin und Emphase verzichtet. Ihm geht es um Kategorien.
So wie er über den Begriff des Antagonismus gleichsam eine ontologische Differenz zwischen Politik und politischer Kunstaktion herausarbeitet, lässt sich seine Definition von Letzterer als „Curating the impossible“ kaum bestreiten.
Besetzung eines Boulevards
Das heißt nicht, dass Marchart „politische Kunst“ für sinnlos oder unmöglich hielte. Er sieht sie als brauchbare Formen von „symbolischer Gewalt“. Sie taugten, so sein, in Anlehnung an Gramsci formulierter Befund, durchaus für „gegenhegemoniale Anstrengungen“. Zum Beispiel in der Aktion „How long is now“ des israelischen Künstler_innenkollektivs „Public Movement“. 2006 besetzte die Gruppe die Kreuzung von Tel Avivs Rothschild-Boulevard und Allenby Street mit einem populären Kreistanz – eine Aktion gegen die Abschottung der israelischen Gesellschaft. Wirkliche Politik ereignete sich aber erst mit der größten politischen Demonstration in der israelischen Geschichte gegen die Explosion der Lebenshaltungskosten und der Mieten fünf Jahre später. Die Aktion ist für Marchart folglich das kanonische Beispiel für das, was er „Pre-enactment“ nennt.
Die Idee einer künstlerischen Form, die sich an der „künstlerischen Vorwegnahme eines zukünftigen politischen Ereignisses“ versucht, kommt vielleicht etwas metaphysisch daher. Hat aber ihre frappierende Empirie in der Tatsache, dass die Demonstrierenden in Israel den alten Kreistanz von Public Movement übernahmen.
Durch die Brille dieser Definition gesehen, gehen diverse „Anstrengungen“ des Berliner Zentrums für Politische Schönheit noch nicht einmal als performativ-prophetische Vorwegnahme künftiger Konflikte durch. Schwer vorstellbar, dass die jüdischen Gemeinden demnächst mit aschegefüllten Lavalampen gegen den grassierenden Antisemitismus in Deutschland auf die Straßen gehen.
Oliver Marchart: „Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere“. Sternberg Press, Berlin 2019, 192 Seiten, 18 Euro
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
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