von Prof. Dr. phil. Michael Haller
Wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK)
haller@uni-leipzig.de
(Wiedergabe von S. 132-146 der Studie, ohne Fussnoten)
1. Zusammenfassung der Studienergebnisse
Im Folgenden fasse ich die wichtigsten Befunde der drei Studienteile in zwanzig Punkten zusammen:
1. Bereits im ersten Halbjahr 2015 überschwemmten die reichweitestarken, als glaubwürdig geltenden Newsmedien tagesschau.de, spiegel.de, welt.de und focus.de ihre User/Leser mit unüberschaubar vielen Meldungen und Berichten rund um das Dauerthema Flüchtlinge/Asylanten. Im Sommer schwoll die Nachrichtenwelle nochmals dramatisch an. Während dieser Hochphase publizierten diese Newssites im Laufe von 24 Stunden bis zu 17 Nachrichten allein zum Ereignisthema Flüchtlinge/Asylanten. Sie berichteten und meldeten von unüberschaubar vielen Handlungsorten über Beteiligte auf unterschiedlichsten Ebenen. Dies deutet auf eine (mutmaßlich dem Konkurrenzdruck geschuldete) sehr schwache Selektionsleistung der Newsredaktionen hin.
Nach Maßgabe des Theorems der „Themenverdrossenheit“ lässt sich annehmen, dass sich Teile des Publikums überfordert fühlten und reagierten, indem sie den eigenen Vorurteilen folgten (stark selektive Wahrnehmung).
Im analytischen Rückblick lautete die Kernbotschaft der Newsberichte in jenen Monaten: Einerseits ertrinken viele Tausend verzweifelter Flüchtlinge im Mittelmeer oder erreichen mit letzter Kraft die Grenzen Europas. Andererseits sind die EU-Staaten und ist die Regierungspolitik hilflos zerstritten, während in den östlichen Bundesländern eine gewalttätige Szene agiert. Diese wird pauschal als Dunkeldeutschland etikettiert und damit ausgegrenzt.
2. Unsere Rekonstruktion der komplexen Ereignisabläufe in den zwölf Monaten Untersuchungszeit führte zur Identifikation von zehn Großereignissen. Wir gehen davon aus, dass jedes dieser Ereignisse wegen seines Neuigkeitswertes und seiner disruptiven Bedeutung das Potenzial besaß, meinungsbildende Prozesse in Gang zu setzen oder in Gang zu halten. Für die Medienanalyse orientierten wir uns am Theorem der „gestuften Medienwirkung“, dem zufolge die Leitmedien in der Rolle der Meinungsführer die Agenda setzen.
3. Die Inhaltsanalyse der drei als Leitmedien geltenden Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und Die Welt zeigte erstens, dass der Inhalt überwiegend aus nachrichtlichen Berichten und meinungsbetonten Beiträgen besteht. Nur rund 4 Prozent der Texte gehören zu den Formen, die dialogisch funktionieren (wie Interviews), nur rund 6 Prozent sind authentisch recherchierte Berichte und/oder erzählende Formen (wie Reportagen). Fast jeder fünfte Text gehört zu den kommentierenden Formen – ein ungewöhnlich hoher Anteil, der für die ausgeprägte Meinungsfreude der drei Redaktionen steht.
4. Die Untersuchung zur Frage, wer alles in den berichtenden Texten zur Sprache kommt, ergab, dass in der Kategorie der relevanten Akteure und Sprecher zwei von drei Nennungen zur institutionellen Politik zählen. Mit knapp 9 Prozent weit abgeschlagen, gleichwohl zweitgrößte Gruppe, sind Vertreter der Judikative (Polizei, Strafverfolger, Gerichte, Anwälte), also jene, die sich von Berufs wegen mit Rechtsverstößen befassen. Die eigentlichen Hauptakteure – die Helfergruppen, Einrichtungen, freien Träger und Initianten, die sich, viele freiwillig, in erster Linie um Flüchtlinge kümmerten – stellen nur rund 3,5 Prozent aller relevanten Personen, die in den redaktionellen Beiträgen genannt werden. Fachleute und Experten, die über akute Problemfelder (wie den Umgang mit Fremdenhass, ethnische Besonderheiten, Ehe- und Familienrecht in islamischen Gesellschaften, Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten u. a. m.) Auskunft geben könnten, kommen praktisch nicht vor (1:100). Die Hauptbetroffenen (Flüchtlinge, Asylsuchende, Migranten) bewegen sich bei 4 Prozent (das heißt eine Nennung auf 25 andere). Aufs Ganze des Jahres 2015 gesehen, haben die Leitmedien dieses sozial und gesellschaftspolitische Problemthema in ein abstraktes Aushandlungsobjekt der institutionellen Politik überführt und nach den für den Politikjournalismus üblichen Routinen abgearbeitet.
5. Die Zweidrittelmehrheit der Akteure in den Berichten, die der institutionellen Politik zuzurechnen ist, setzt sich so zusammen: Knapp 43 Prozent sprechen für die Bundesebene (Regierung, Ministerien, Parteien, Parlament); jeder Fünfte vertritt eine ausländische politische Institution (inkl. EU-Gremien in Brüssel) und jeder Vierte zählt zur Bundesländerebene. Von den Akteuren, die einer Partei zugeordnet werden konnten (ein Drittel aller relevanten Personen), vertreten mehr als vier Fünftel eine der drei Regierungsparteien. Sprecher der im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien kommen nur jedes zehnte Mal zu Wort (die Grünen mehr als doppelt so häufig wie die Linke). Die in zahlreichen Bundesländer- und Kreisparlamenten vertretene AfD kommt in dieser Kategorie praktisch nicht vor (0,1 Prozent) im Unterschied zur NPD (0,9 Prozent).
6. Erwartungsgemäß berichteten die meisten Nachrichten (auch) über Konflikte und Kontroversen (rund 5 Prozent aller Berichte). Identifiziert man hier die relevanten Akteure/Sprecher, wiederholt sich die Zusammensetzung: Der überwiegende Teil (rund 70 Prozent) der Konfliktpartner gehört zur institutionellen Politik, davon sprechen vier Fünftel (81,3 Prozent) im Namen einer der Regierungsparteien. Nur jeder 14. Akteur/Sprecher ist kein Funktionsträger, sondern ein in das Thema eingebundenes Individuum. Derselbe Befund umgekehrt: Den Konflikten auf der konkreten Vollzugsebene der Bundesländer maßen die Leitmedien während des Untersuchungszeitraums in ihren Berichten keine Relevanz zu. Thematisiert wurden Probleme auf der Vollzugsebene fast nur dann, wenn es um Gewaltakte rechtsradikaler Gruppen ging.
7. Diese Zusammensetzung des in den nachrichtlichen Berichten auftretenden Personals unterstreicht die ausgeprägte Dominanz der politischen Elite. Vermittels der Medien verhandelt sie die Themeninhalte und setzt die Agenda – und beherrscht auch die Konflikte. Umgekehrt gesagt: Die Berichterstattung in den drei Leitmedien ist zu großen Teilen auf die (partei)politische Arena der Koalitionspartner fixiert. Diejenigen, die sich in den Behörden und Einrichtungen um die Bewältigung der ungeheuren Aufgaben und Probleme des Vollzugsalltags kümmerten, erscheinen aus der medial vermittelten Sicht der politischen Elite als nicht relevant.
8. Der journalistische Qualitätsgrundsatz, aus neutraler Sicht sachlich zu berichten, wird in rund der Hälfte der Berichterstattungen nicht durchgehalten. Insbesondere die Art und Weise, wie über die Positionierung eines Politikers berichtet wird, ist oftmals wertend und beurteilend, bei Vertretern der Opposition mitunter auch „von oben herab“.
Zudem schreiben die Korrespondenten nicht selten in einer Diktion, die persönliche Nähe, auch Vertrautheit zur politischen Elite suggeriert (auktorialer Duktus).
Diese Attitüde kann beim Leser den Eindruck erzeugen, die berichtenden Journalisten seien weniger am Thema selbst als an den über das Thema transportierten Querelen interessiert. Politik wird in den Medien überwiegend nicht als Prozess der Entscheidungsfindung, sondern als Schlagabtausch unter Mandatsträgern inszeniert.
9. Dass die Leitmedien – hier vor allem die überregionalen Tageszeitungen – in ihrer Berichterstattung auf die politische Elite fixiert zu sein scheinen, ist nicht neu, sondern wurde wiederholt untersucht und bestätigt. Die US-amerikanische Medienforschung hat hierfür den Begriff „Indexing“ eingeführt. Unsere Befunde sind gleichwohl überraschend, erstens, weil das hier untersuchte Megathema, aus dem die sogenannte Flüchtlingskrise hervorging, die Einstellung der Bürger zu den Grundwerten betrifft und moralisch stark überformt ist.
Zweitens, weil in vielen Regionen auch „bürgerliche“ Teile der Bevölkerung von einer tief sitzenden Fremdenangst besetzt sind, die publizistisch in den Blick zu nehmen wäre.
Drittens, weil die mit der Flüchtlingskrise einhergehende Problemwahrnehmung auf der kommunalen und regionalen Ebene spielt.
Viertens schließlich, weil die mit der Idee der Integration verbundenen Tätigkeiten nicht von Parteien und Ministerien in Berlin, sondern von den direkt beteiligten Personen und Organisationen vor Ort zu erbringen sind.
10. Alle drei Zeitungsredaktionen kommentierten das Megathema „Flüchtlinge/Asylbewerber“ sehr intensiv. Die Analyse dieser meinungsbetonten Beiträge (Leitartikel, Kommentare u. Ä.) bestätigt den zuvor referierten Befund: Sieben von zehn relevanten Akteuren/Sprechern gehören auch hier zur politischen Elite. Im Sinne der Indexing-These ist der virtuelle Adressat der Kommentare nicht der Leser, sondern die Politik. Die Argumente erörtern meist die von Politikern aufgeworfenen Vorschläge in operativer Hinsicht. Bis zum Spätherbst 2015 greift kaum ein Kommentar die Sorgen, Ängste und auch Widerstände eines wachsenden Teils der Bevölkerung auf. Wenn doch, dann in belehrendem oder (gegenüber ostdeutschen Regionen) auch verächtlichem Ton. Kaum ein Kommentar während der sogenannten Hochphase (August und September) versuchte eine Differenzierung zwischen Rechtsradikalen, politisch Verunsicherten und besorgten, sich ausgegrenzt fühlenden Bürgern. So dienten die Kommentare grosso modo nicht dem Ziel, verschiedene Grundhaltungen zu erörtern, sondern dem, der eigenen Überzeugung bzw. der regierungspolitischen Sicht Nachdruck zu verleihen.
11. Unser Zwischenfazit lautete, dass die nachrichtliche Informationsüberfülle (siehe Punkt 1 zu den Online-Newssites) von den tonangebenden Print-Leitmedien markant verdichtet wurde. Dabei haben sie die Ereignisthemen auf der abstrakten Ebene der institutionellen Politik bearbeitet (siehe Punkt 4, Akteure) und ihres Ereigniszusammenhangs entkleidet. Die Alltagswelt mit ihren Akteuren kam praktisch nicht zur Sprache, ausgenommen im Zusammenhang mit rechtsradikalen Gewaltakten. Doch auch dann wurde die Sicht der etablierten Politik und ihrer Mandanten eingenommen und durchgehalten. Der demokratietheoretisch geforderte verständigungsorientierte Diskurs war im redaktionellen Teil der drei Leitmedien im Verlauf des Jahres 2015 für uns nicht auffindbar. So blieben die Redaktionen bei ihrer Themenvermittlung bis zu den mit „Silvesternacht 2015/16“ etikettierten Vorgängen auf die politische Elite und deren symbolisches Handeln in Form rhetorischer Sprechakte (Motto: „Wir brauchen…“) fixiert.
12. Unterhalb dieser Generallinie entdeckten wir bei den drei meinungsführenden Zeitungen mehrere spezifische Eigenheiten:
Die Welt berichtete am umfassendsten und bot die relativ breiteste Palette an Akteurs und Sprecherrollen; sie beachtete das Erfordernis des Perspektivenwechsels etwas häufiger als die anderen beiden Zeitungen. Sie hielt sich (relativ zur FAZ) mit redaktionellen Meinungsäußerungen stark zurück. In ihren Kommentaren verfocht sie indessen am deutlichsten eine opportunistische, mitunter auch neoliberale Position und klammerte die Menschenrechtsdebatte aus (in der Art: Flüchtlinge sind für unsere Wirtschaft nützlich und darum nehmen wir sie).
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schenkte den in Bezug auf die Flüchtlingspolitik skeptischen oder kritischen Positionen eine relativ größere Beachtung. Auch brachte sie relativ mehr Berichte über grundwertige Kontroversen. Dabei hatten ihre Berichte im Vergleich zu den beiden anderen Blättern eine sachlich-neutrale Aufmachung. Viele ihrer zahlreichen Kommentare folgten mit ihren Begründungen einer güterabwägenden (utilitaristischen) Argumentation (in der Art: Die Achtung unserer Grundwerte setzt voraus, dass die sozialen Spannungen nicht zu groß werden. Deshalb sollte man nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen).
Die Süddeutsche Zeitung brachte im Zusammenhang mit Gewaltaktionen ultrarechter Gruppen relativ am häufigsten authentische Vor-Ort-Berichte und Reportagen. Ihre Berichte über die politische Elite sind mit 29 Prozent relativ häufig im Duktus der „eingefühlten Nähe“ verfasst (auktoriales Schreiben). Wohl aus Standortgründen gibt sie dem Dissens zwischen CSU und CDU den relativ größten Raum. Ihre in den Berichten und Kommentaren zum Ausdruck kommende Haltung differenziert am deutlichsten zwischen der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin (durchwegs positiv) und den Positionen von Akteuren in den Regierungsparteien (überwiegend kritisch). Die Begründungen in den Kommentaren folgen häufiger einer universalistischen Ethik (in der Art: Die Menschenrechte gelten universell und stehen über den nationalen Opportunitäten oder lokalen Interessen und Bedürfnissen;deshalb muss bedingungslos geholfen werden).
13. Die im Sommer 2015 vor allem in westdeutschen Gemeinden und Städten von vielen Tausenden von Bürgern gezeigte Aufnahmebereitschaft wurde von der Politik wie von den Medien überwiegend mit dem „deutschen Wunder Willkommenskultur“ (Die Zeit, 12.09.2015) erklärt. Dieser sich selbst begründende Euphemismus wurde in den Tageszeitungsberichten zu einer Art Zauberwort verklärt, mit dem freiwillig von den Bürgern zu erbringende Samariterdienste moralisch eingefordert werden konnten.
14. Die Analyse des öffentlichen Gebrauchs des Narrativs „Willkommenskultur“ zeigt dessen Themenkarriere. In der Zeit nach 2005 hatten die Industrie- und Arbeitgeberverbände von der Politik eine solche Haltung gefordert, um für als Arbeitskräfte dringend benötigte qualifizierte Migranten Aufnahmeerleichterungen zu bekommen und ein weniger fremdenfeindliches Klima zu schaffen. Die im Bundestag vertretenen Parteien übernahmen diese Forderung – in je unterschiedlichen Konnotationen – in ihre Parteiprogramme. Nach 2010 wurde dieses Narrativ auf der regionalen und lokalen Ebene umgedeutet zu einer „Haltung“, mit der Wohlmeinende auf die von der Wirtschaft benötigten Migranten zugehen sollten. Im Laufe der Jahre 2013/14, als bereits zahlreiche Flüchtlinge aus Nahost nach Deutschland kamen, sahen sich die für die Betreuung und Versorgung zuständigen Behörden überlastet, manche auch überfordert. In jener Zeit wurde die anfangs opportunistisch verstandene Formel zur moralisch aufgeladenen Maxime einer „neuen Willkommensgesellschaft“ ausgedehnt. Wer Skepsis anmeldete, rückte in den Verdacht der Fremdenfeindlichkeit. Hier ist zu fragen, wie es dazu kam, dass das Narrativ im Kontext des Flüchtlingsthemas eine solche auf Konformität gerichtete Meinungsmacht entfalten konnte.
15. Um eine Antwort zu finden, haben wir den öffentlichen Gebrauch des Wortes Willkommenskultur anhand der Lokal- und Regionalpresse Deutschlands rekonstruiert und hierfür sämtliche redaktionellen Beiträge von 85 Regionalzeitungen seit 2005 erfasst,in denen das Narrativ vorkam. Dies waren rund 26.000 Texte. Von diesen wurden rund 17.000 einer morphologischen Analyse mit dem Verfahren des Textminings unterzogen.
Die auf diesem Wege ermittelte Genese zeigt, dass die Lokal- und Regionalpresse erstens einer Sinn- und Zwecksetzung folgte, die zuerst von der Wirtschaft, dann von der Politik propagiert worden war. Sie ergab zweitens, dass die lokale Tagespresse die Nähe der Leitmedien zur politischen Elite mitmachte und bis zum Sommer 2015 das Narrativ überwiegend als persuasive Losung transportierte.
16. Sortiert man die in den Berichten der Regionalpresse zum Thema Willkommenskultur auftretenden Akteure/Sprecher nach ihrer Parteizugehörigkeit, dann fällt der hohe Anteil an monologischen Darstellungen (nur eine Partei kommt zu Wort) auf. Im Laufe des Jahres 2015 erschienen rund doppelt so viele monologisch berichtende Texte wie dialogische oder diskursive (mit zwei oder mehreren Parteien). Auch dies ist ein Indiz für die monodirektionale Transferleistung („Einbahnstraße“) des Lokal- und Regionaljournalismus. Von diskursiver Themenbearbeitung kann für das Jahr 2015 nicht die Rede sein.
17. In der Tagespresse wurde unseren Befunden zufolge das Narrativ Willkommenskultur als moralisch intonierte Verpflichtungsnorm „top-down“ vermittelt. Wenn in der Presse Kritisches zu Wort kam, dann im Sinne einer weiter zu stärkenden und zu verbessernden, kurz: „neuen“ Willkommenskultur. Annähernd 83 Prozent aller Zeitungsberichte vermittelten das Leitbild Willkommenskultur in einem positiven oder mehr positiven Sinne. Über Bedenkenträger oder Skeptiker wurde eher selten berichtet. Wenn vereinzelt kritische Gegenstimmen wiedergegeben wurden, dann waren es Statements wiederum aus der Politik, diesmal von Rechtskonservativen oder Ultrarechten.
18. Die Besonderheit der Regionalpresse, dass sie in ihren Lokalteilen die Nah- und Alltagswelt der Menschen durchleuchten und Vorgänge wie auch Probleme quasi hautnah recherchieren kann, wurde im Jahr 2015 für die Flüchtlingsthematik nicht genutzt. Die vergleichsweise wenigen Texte, die Probleme oder Konflikte thematisierten, sind fast ausnahmslos Veranstaltungsberichte und insofern keine journalistischen Eigenleistungen. Nur in seltenen Ausnahmefällen wurden abweichende Positionen wie auch behördliche Fehlleistungen untersucht oder Fachwissen eingeholt und ausgewertet oder dialogisch aufbereitet. Bis Ende des Jahres 2015 wurden die Leistungen, die wir einleitend mit „diskursivem Journalismus“ umrissen haben, nicht erbracht.
19. Die in der Einführung gestellte Frage, ob es bei der Vermittlung des Flüchtlingsthemas zwischen Bundespolitikern, den Leitmedien und den Folgemedien (lokale Presse) in Bezug auf die politische Linie der Bundeskanzlerin eine Konsonanz gab, haben unsere Analysen bejaht. Um dies zu erklären, bietet sich zur schon besprochenen Indexing-Hypothese das Konzept des „politischen Framings“ (Reese 2007: 150 f.; Wehling 2016: 45 ff.) an. Es geht davon aus, dass vermittels der Medien ein thematischer Kontext erzeugt wird, der eine bestimmte politische Zielstellung oder Einstellung verbindlich macht und zum Common Sense erhebt. Die Textanalysen belegen – was die Sinnfüllung des Narrativs „Willkommenskultur“ betrifft – einen hohen Gleichklang zwischen den Politiker- und den Medienaussagen. Von daher ist die Deutung gut gestützt, dass mit dem „Framing“ des Komplexes Flüchtlingspolitik/Willkommenskultur eine spezifische Diktion verbreitet wurde, die im Frühsommer 2015 die öffentliche Meinung so stark prägte, dass abweichende Positionen nicht mehr gehört wurden.
Wie dies im Hinblick auf die Einstellungen in der Bevölkerung zu deuten ist, kann diese Untersuchung nicht beantworten. Hierfür sind Theoreme erforderlich, auf die ich im folgenden zweiten Abschnitt eingehe.
20. Auf die mit dem Stichwort Silvesternacht 2015/16 etikettierten Ereignisse folgte ein veränderter – man könnte sagen: differenzierterer – Umgang mit dem Megathema „Flüchtlinge in Deutschland“. Im ersten Quartal 2016 wird die Tonalität der Zeitungsberichte zurückhaltender, in Bezug auf die Praxis der Flüchtlingspolitik auch skeptischer. Die Sorgen und Ängste vieler Menschen zumal in den Großstädten werden vorübergehend thematisiert. Im Januar 2016 finden sich auch viele Zeitungsberichte, die, entgegen journalistischen Sorgfaltspflichten, in ihren Berichten über Normverstöße junge Migranten und Asylsuchende unter Täterverdacht stellen. Es entsteht der Eindruck, als wollten viele Journalisten jetzt überfleißig nachholen, was sie zuvor versäumt hatten.
Diskussion der Befunde
Diese Zusammenfassung könnte manchen Leser zu der Fehldeutung verleiten, es ginge uns um eine Kritik am Journalismus, die der Vorurteilsbestätigung diente, Motto: Wir haben’s doch immer schon gesagt, hier ist der Beweis!
Demgegenüber ist Folgendes festzuhalten: Unsere Studie beschäftigte sich nicht mit der Frage, welche Einstellung zur Flüchtlingsthematik die moralisch bessere oder schlechtere sei. Wir haben uns auch nicht für die politische Haltung von Journalisten oder Redaktionen interessiert. Auch wurden keine Überprüfungsrecherchen vorgenommen, um den Wahrheitsgehalt von Berichten zu untersuchen. Leider konnten wir auch keine semantische Analyse ausgewählter Texte durchführen, wiewohl dies aufschlussreich gewesen wäre und vermutlich manchen differenziert abgefassten, stilistisch ausgezeichneten Beitrag ans Licht gefördert hätte.
Die Studie ging vielmehr, wie in der Einführung dargelegt, von demokratietheoretisch begründeten, mithin normativen Anforderungen an den Informationsjournalismus aus. Dieser Ansatz ist als Bezugsrahmen mitzudenken, wenn es um die Bewertung der Befunde geht. Läge der Analyse ein Verständnis zugrunde, dem zufolge der Informationsjournalismus vor allem dazu da sei, Intentionen und Strategien der politischen Akteure dem Publikum zu vermitteln, könnte man unsere Ergebnisse als Beleg dafür nehmen, dass er diese Aufgabe aufs Beste erfüllt hat. Aus Sicht unseres Ansatzes jedoch ist dies eine Leistung, die von der Politik-PR zu erbringen wäre (und erbracht wird). Sie kollidiert nicht nur mit dem normativen Anspruch des diskursiven Journalismus, sondern auch mit unstrittigen Professionsregeln des Qualitätsjournalismus. Wie dargelegt, verlangt dieser Anspruch, dass das politische Handeln aus unabhängiger Sicht kritisch beobachtet und bei gesellschaftlich folgenreichen Großthemen die verschiedenen am Thema beteiligten Gruppen in die Berichterstattung einbezogen werden.
Doch auch innerhalb dieses Rahmens lassen sich Einwände gegen die Aussagekraft unserer Befunde vorbringen. Sie beziehen sich auf die methodologische Ebene. Ein Vorbehalt könnte lauten, dass unsere Kategorie der relevanten Akteure und Sprecher (Erstgenannte und/oder wiederholt Genannte) nicht valide sei, weil es dem Berichterstatter freigestellt ist, wann und wie oft er im Laufe eines Berichts seine Protagonisten zur Sprache bringt. Unsere Vorabstudien zum Aufbau nachrichtlicher Texte ergaben indessen, dass mehr als vier von fünf Texten dem klassischen Nachrichtenaufbau insofern folgen, als die im Thema agierenden Hauptpersonen tatsächlich zuerst und/oder wiederholt genannt werden. Abweichungen konnten wir nur bei wenigen erzählenden Texten beobachten (dieses Genre machte insgesamt nur 6 Prozent aus), und auch nur dort, wo sie darauf verzichteten, ihre Hauptakteure im Titelkomplex (Überschrift, Vorspann usw.) zu nennen. Unserer Durchsicht nach betrifft dies weniger als 3 Prozent der Texte. Dass diese Kategorie („relevante Akteure und Sprecher“) bei den offeneren Kommentarformen eine größere Unschärfe zeigt, habe ich in Teil 3 der Studie bereits erörtert.
Ein weiterer Einwand könnte lauten, dass diese Kategorie überhaupt ein ARTEfakt sei. Denn die Gesamtheit aller in den Zeitungstexten Genannten ist unserer Auswertung zufolge rund dreimal so groß. Es könne darum sehr wohl sein, so der Einwand, dass eigentlich wichtige, unter der Relevanz-Definition nicht anzutreffende Personengruppen an anderen Stellen im Bericht doch Erwähnung finden. Dieser Einwand ist in der Sache zutreffend. Allerdings war es uns nicht möglich, alle annähernd 10.000 in den Zeitungstexten erwähnten Akteure und Sprecher detailliert zu analysieren. Mit der Relevanz-Kategorie wurde die Gesamtheit der in den Texten erwähnten Akteure/Sprecher auf jene verdichtet, die vom Berichterstatter oder Kommentator bzw. der Redaktion als wichtig/bedeutsam/aussagestark eingeschätzt wurden. Diese Gewichtung zeigt sich ja auch durch die Aufbereitung und Präsentation der Texte (siehe oben). Daher ist die Annahme begründet, dass auch die Zeitungsleser dieser Gewichtung folgen und die erst- und/oder wiederholt genannten Akteure als Protagonisten des Themas wahrnehmen. Diese Kategorie erfasst damit zwei für unsere Forschungsfrage bedeutsame Merkmale: erstens das Relevanzverständnis des Journalisten (nicht grundlos hat er diesen und nicht jenen Akteuren oder Sprechern so viel Bedeutung gegeben); zweitens die Relevanz-Adaption durch die Rezipienten (sie nehmen zur Kenntnis, dass offenbar diese und nicht jene Akteure oder Sprecher bedeutsam sind). Wir meinen deshalb, dass diese Kategorie deutlich zeigt, ob und wie (Fokus) der Informationsjournalismus auf der Akteursebene Komplexität reduziert.
2. Thesen zur Wirkung der Flüchtlingsberichterstattung
Unser normativer Forschungsansatz galt der strukturellen Ebene des Mediensystems. Auf dieser Ebene verweisen die Ergebnisse auf gravierende Dysfunktionen des Informationsjournalismus als Teil der sogenannten Mainstreammedien. Diese Störungen haben sich so tief eingefressen, dass sie von Journalisten oder einzelnen Redaktionen vermutlich für normal gehalten, das heißt nicht als solche wahrgenommen oder gar problematisiert werden. Dies könnte erklären, warum die meisten tagesaktuellen Medien bis zur Silvesternacht 2015/16 nicht erkannt hatten, dass sich durch die Gesellschaft ein mentaler Graben zieht, der den weltoffen-liberal denkenden Teil der Bevölkerung – Leser der Leitmedien – vom konservativ-liberal bis nationalistisch eingestellten Teil trennt. Unsere These lautet, dass#die in den zwanzig Punkten zusammengefassten Dysfunktionen diesen polarisierenden und insofern desintegrativen Prozess massiv gefördert haben.
Mit dieser These betreten wir das spekulative Feld der Medienwirkung. Einerseits verfügen wir über valide Befunde aus den Inhaltsanalysen. Doch sie allein erlauben keine Aussagen über das, was in den Köpfen des Publikums vorging. Um hier Deutungssicherheit zu gewinnen, müssen wir andererseits den demoskopisch ermittelten Einstellungswandel in den Blick nehmen. Und um beides – Medienaussagen und Einstellungswandel – in einen erklärenden Zusammenhang zu bringen, benötigen wir gleichsam als Brückenschlag ein plausibles Wirkungsmodell. Im Folgenden möchte ich deshalb zunächst einige demoskopische Befunde referieren und dann den Zusammenhang anhand erprobter Wirkungshypothesen herstellen und begründen.
Wie sich die Meinungen ändern
Ein fremdenfreundliches Deutschland? Zu Beginn des zweiten Teils haben wir den erstaunlich radikalen Einstellungswandel in der Erwachsenenbevölkerung Deutschlands geschildert. Noch vor sechs, sieben Jahren hatte das Meinungsklima ja noch deutlich anders ausgesehen. Laut den zitierten Erhebungsdaten der Migrationsforschung zeigte damals mehr als die Hälfte der Bevölkerung deutliche „Überfremdungsängste“, und mehr als ein Drittel hielt die„kulturellen Unterschiede“ vor allem der muslimischen Migranten gar für gefährlich (Zick/Küpper 2012: 171 f.). Dieser Stimmungslage stellten wir die von TNS Emnid drei Jahre später, Anfang 2015, durchgeführte Erhebung gegenüber, der zufolge die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen zuwandernde Fremde willkommen heiße und vom friedlichen Zusammenleben mit den Flüchtlingen überzeugt sei (vgl. S. 54).
Ein knappes Jahr später, im Winter 2015/16, zeichneten neue Erhebungen eine in Bezug auf Migranten/Flüchtlinge wiederum markant veränderte Einstellung. Jetzt fühlten sich zwei Drittel der Befragten eher bedroht (ZDF-Politbarometer Januar 2016), und 52 Prozent fanden die „Zahl der Asylbewerber und Flüchtlinge“ eher beängstigend (Forsa-Umfrage Februar 2016). Eine andere Erhebung ergab (TNS im Auftrag des Spiegels), dass „82 Prozent Merkels Flüchtlingspolitik ablehnen“ („Große Mehrheit fordert Korrektur der Flüchtlingspolitik“, Spiegel Online 09.09.2016).
Solche Daten sind volatil und ähneln Momentaufnahmen, in denen sich aktuelle Erlebnisse und Nachrichten spiegeln. Sie referieren darum auf die Medienberichterstattung Denn knapp drei Viertel der Erwachsenenbevölkerung informierten sich über Vorgänge zum Komplex Flüchtlinge/Willkommenskultur vermittels der klassischen Medien (Kröcher 2015). Und hier öffnet sich derselbe Graben, von dem oben in Bezug auf das Flüchtlingsthema die Rede war. Im Oktober 2015 untersuchte das Demoskopische Institut Allensbach die Einstellung der Bevölkerung zu den Informationsmedien.
Auf die Frage, ob „die Medien ein zutreffendes Bild der Flüchtlinge“ zeichneten, antworteten 53 Prozent mit Nein, 22 Prozent blieben unentschieden. Demnach war nur eine Minderheit von 25 Prozent überzeugt, dass die Medien zutreffend berichtet hätten. Fast jeder Zweite nannte die Berichterstattung einseitig. Zugleich fanden mit 95 Prozent praktisch alle Befragten, dass „Macht und Einfluss der Medien in Deutschland“ groß oder sehr groß seien (Köcher 2015).
Tiefe Zweifel an der Unabhängigkeit der Medien
Auch wenn oft abstrakt und insofern diffus gefragt wird und die hier zitierten Erhebungen wegen unterschiedlicher Fragestellungen und Befragungsmethoden entsprechend Unterschiedliches abbilden, so wird doch deutlich, dass im Herbst/Winter 2015/16 sehr viele Menschen auf das von den Medien gezeichnete Bild „Flüchtlinge/Willkommenskultur“ wie desillusioniert reagierten und generell über die Informationsmedien deutlich enttäuscht, auch misstrauisch urteilten.
Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung glaubt seither, der Journalismus werde offenbar gezwungen, systemkonform und insofern manipulierend zu berichten: Ende 2016 äußerten sich viele überzeugt, die Regierung würde festlegen, worüber die sogenannten Mainstreammedien berichten und worüber nicht. In einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung zum Thema: „Vertrauen Sie den Medien?“ der Universität Mainz hielten 55 Prozent der Befragten es für möglich, dass „die Bevölkerung in Deutschland von den Medien systematisch belogen“ werde (19 Prozent „eher/voll oder ganz“, 36 Prozent „teils, teils“). Dass in den Medien „neutrale Berichterstattung und wertende Kommentare oft vermischt werden“, trifft für 38 Prozent „eher/voll oder ganz“ zu, weitere 33 Prozent finden dies „teils, teils“. Und auch dies ist aufschlussreich: 37 Prozent stimmen „eher/voll oder ganz“ (und 38 Prozent „teils, teils“) der Ansicht zu, dass die Medien „grundsätzlich nicht über berechtigte Meinungen berichten, wenn sie diese für unerwünscht halten“. Und schließlich stimmen 26 Prozent „eher/ voll oder ganz“ und weitere 31 Prozent „teils,teils“ der Ansicht zu, „Medien und die Politik arbeiten Hand in Hand, um die Bevölkerungsmeinung zu manipulieren“.
Schweigespirale und Reaktanz
Um die mit dieser tiefgreifenden Enttäuschung verbundenen Effekte zu verstehen, bietet sich das Modell der Schweigespirale an. Es wurde von der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann Ende der 1970er Jahre ausgearbeitet – ein Makro-Konzept, das eine spezifische Dynamik in der öffentlichen Meinungsbildung erklärt. Ihm zugrunde liegt die sozialanthropologisch gestützte Auffassung, dass jedes Individuum Anerkennung in seiner sozialen Umgebung, also auch Anschluss und Respekt finden möchte: „Die Furcht vor Isolation erscheint als die treibende Kraft, die den Prozess der Schweigespirale in Gang setzt“ (Noelle-Neumann 1980: 20).
Wer eine gegenüber der tonangebenden Meinung abweichende Auffassung hat, der schweige lieber, aus Angst gemieden und isoliert zu werden. Dies geschieht natürlich kaum bei abstrakten oder belanglosen Themen, vielmehr dann, wenn – wie hier bei der Fremden- und Flüchtlingsfrage – der Meinungskampf ‚moralisch aufgeladen‘ ist und der Einzelne fürchtet, als moralisch schlecht zu erscheinen. Befunde stützen die These, dass dieses Verhalten bei unsicheren und sozial schwächeren Menschen verbreiteter ist als etwa unter selbstbewussten Entscheidern.
Die Dynamik („Spirale“) kommt in Gang, wenn die vermeintlich vorherrschenden Auffassungen nach und nach als feste Mehrheitsmeinung dargestellt und zugleich davon abweichende oder konträre Positionen im Mediendiskurs immer schwächer werden. Dabei bleibt in der Öffentlichkeit verborgen, welche Position die tatsächliche Mehrheitsmeinung abbildet (Noelle-Neumann bezog ihre Thesen auf das bei Befragungen geäußerte Wählerverhalten im Vergleich zur Entscheidung in der Wahlkabine – Diskrepanzen, die wohl auch im Zusammenhang mit der US-Präsidentenwahl 2016 offenbar wurden). Jedenfalls sind diejenigen, die sich ins Schweigen zurückziehen, die Frustrierten.
Gegen das Modell der Schweigespirale wurden gewichtige Einwände erhoben und differenzierende Studien durchgeführt. Für unsere Thematik sind jene Befunde brauchbar, die einen Schweigespiralen-Effekt dort aufgespürt haben, wo es (a) um moralisch besetzte Einstellungen sowie (b) um räumliche und/oder soziale Nähe geht. Dies trifft auf den Nachbar-, Vereins- und Kollegenkreis zu, mithin auf die lokale Lebenswelt, in der in erster Linie die Lokal- und Regionalzeitungen Orientierung bieten und das Meinungsklima prägen. Unter diesem Blickwinkel ist unser Befund bedeutsam, dass in der Flüchtlingsthematik – festgemacht am Narrativ Willkommenskultur – die Lokal-/Regionalpresse dem auf die Parteien und die Wirtschaftspolitik zentrierten „Frame“ der Leitmedien folgte und so als deren Verstärker funktionierte.
Von der Frustration zur Wut und zu „alternativen Ventilen“?
Eine mögliche Erklärung des Zusammenhangs zwischen Medienaussagen, Medienenttäuschung und Einstellungswandel ist, dass die Politiker in den Jahren nach 2012 – dies zeigten die Textanalysen im zweiten Teil – dem Narrativ Willkommenskultur zu einer persuasiven Macht verhalfen, die im medialen Diskurs zur Kampagne gesteigert wurde und Einwände als moralisch „unanständig“ erscheinen ließ.
Indem die mit dem „Frame“ Flüchtlinge/Willkommenskultur transportierte Bedeutung als quasi herrschende Meinung (man ist geneigt zu sagen: alternativlos) auftrat, sahen sich diejenigen, die anderer Auffassung waren, moralisch ins Unrecht gesetzt. Viele zogen sich frustriert zurück. Aber schwiegen sie?
Nun stammt das Schweigespiralen-Modell aus der Zeit der analogen Medien, als das Publikum als passiver Empfänger der Nachrichten gesehen wurde. Dies hat sich mit den sozialen Medien des Internets dramatisch verändert. Viele der Betroffenen wollen nicht verstummen, sondern suchen nach anderen Kanälen und Foren, um ihrer Frustration umso heftiger Luft zu machen. In den Medienwissenschaften verwendet man hierfür den aus der Verhaltenspsychologie entlehnten Begriff der Reaktanz (Brehm 1966; Brehm/Brehm 1981). Dieses Theorem geht davon aus, dass in der heutigen Gesellschaft die Individuen „eigentlich“ frei denken und handeln möchten (ungeachtet der Definition von Freiheit). Wenn sie sich moralisch unter Druck gesetzt fühlen, wirkt dies wie eine Art Freiheitsentzug, gegen den sie sich zur Wehr setzen. In der interaktiven Onlinewelt eignen sich hierfür vor allem Blogs und Postings auf den Web-Plattformen der Social Media (Facebook), die den Wütenden das Gefühl vermitteln, unter Gleichgesinnten zu sein (sogenannter Echokammer-Effekt) – was dazu führt, „dass beleidigende und strafrechtlich relevante Äußerungen hemmungsloser getätigt werden“ (Neumann/Arendt 2016: 252). Vielerorts eskalierte die zunehmend aggressiv ausgelebte Wut im Herbst 2015 zu Hasskommentaren, von denen manche zu Straftaten aufriefen. Die Bild-Zeitung reagierte Ende Oktober 2015 mit der Rubrik „Pranger der Schande“, indem sie Profilnamen und -bilder der Verfasser solcher Äußerungen publizierte. Auch dies bewirkte kein Verstummen, sondern führte dazu, „dass sich Personen des harten Kerns ein anderes, alternatives ‚Ventil‘ gesucht haben“ (ebd.: 262).
Dieser polarisierende Graben spiegelt, wie oben als These vertreten, die konträren Meinungen über die Glaubwürdigkeit der Medien. Die erwähnte Repräsentativbefragung der Universität Mainz hatte einige Fragen bereits 2008 und 2015 gestellt. Deshalb konnten zwei gegenläufige Trends nachgewiesen werden: Einerseits stieg der Anteil der Bevölkerung, der der Aussage „Man kann den Medien eher/voll und ganz vertrauen“ zustimmte, von 29 Prozent (2008) auf 40 Prozent (Ende 2016). Andererseits stieg auch der Anteil jener, die der Aussage zustimmten: „Man kann den Medien eher nicht/überhaupt nicht vertrauen“ von 9 Prozent (2008) auf 24 Prozent. Das Auseinanderdriften und die Ausweitung der zwei gegensätzlichen Auffassungen lassen sich als Indikator für die fortschreitende Segmentierung der Gesellschaft, in unserem Zusammenhang: für den Bruch im gesellschaftlichen Diskurs, lesen. Sie sind ein Indikator für den Trend, der die (in der Einführung genannten) isolierten Kommunikationsinseln gebiert, weil er das vielleicht Wichtigste verhindert: diskursiv funktionierende Verständigungsprozesse, wie sie der Informationsjournalismus erbringen soll.
„Ein guter Journalist redet mit jedem“
Im weiteren Verlauf des Jahres 2016 – dies soll nicht unterschlagen werden – haben sich verschiedene – darunter auch kleine – Zeitungsredaktionen mit Eigenleistungen nachzuholen bemüht, was sie während der langen Willkommenskultur-Euphorie-Ära unterlassen hatten: den Reden der Politiker mit Skepsis begegnen, bei den Wortführern kritisch nachfragen, den Darstellungen der Behörden genauer auf den Grund gehen, abweichende Positionen thematisieren, Betroffenen-Erzählungen hinterfragen, die Rechthaberei beenden, eigene Fehldeutungen eingestehen. Ob infolgedessen nun im misstrauisch gewordenen Teil der Bevölkerung ein Einstellungsumschwung in Gang kommt, wird sich wohl erst in den nächsten Jahren zeigen.
Als Zeichen, dass einige der in dieser Studie aufgezeigten Fehlentwicklungen inzwischen auch von publizistischen Meinungsführern erkannt worden sind, zitiere ich zum Abschluss aus einem Interview, das der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), Mathias Döpfner, im Februar 2017 der Deutschen Presseagentur gab.„Wir sehen einen wachsenden Graben zwischen politischen Eliten und den Medien auf der einen Seite und der sogenannten normalen Bevölkerung auf der anderen. Das muss man ernst nehmen. Ein guter Journalist redet mit jedem, auch mit halbseidenen Figuren, zur Not auch mit Verbrechern und Diktatoren, aber hält bei allen, selbst bei Idealisten und Weltverbesserern, den nötigen Abstand. Und dieser Abstand ist in einigen Fällen immer geringer geworden. Manche Journalisten verstehen sich inzwischen als Politikberater und betreiben einen Journalismus, der sich an ein paar Eingeweihte richtet, denen sie Codewörter zurufen. Der eigentliche Empfänger ist nicht mehr der normale, intelligente, aufgeschlossene, aber nur bedingt informierte Leser, sondern die Kollegen, Politiker, Künstler oder Wirtschaftsführer.“
Anm. d. Red.: Er muss es ja wissen.
Lesen Sie ergänzend dazu: “Die Medien lesen lernen“, Douglas Rushkoff im Interview der Jungle World.
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