von Dirk Reder

Sommer 2017. An den Rändern Europas drängen sich wieder die Flüchtlinge und wollen rein, aber im deutschen Wahlkampf spielte das Thema bis vor Kurzem fast keine Rolle. Auf dem Mittelmeer schlägt sich die italienische Marine mit Flüchtlingshelfern herum, Menschen kommen um Leben, aber hier schien das niemanden zu interessieren Solange die Flüchtlinge in Italien und Griechenland eingesperrt werden (oder im Mittelmeer ertrinken), aber nicht bis nach Deutschland kommen, scheint das Thema Flüchtlinge uninteressant zu sein.
Ein dramatischer Irrtum und eine feine Heuchelei.
Mit dem Pariser Flüchtlingsgipfel und den Wahlkampfdebatten scheint das jetzt anders zu werden. Jetzt überbieten sich alle in Vorschlägen, wie man die Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, die Kriminellen aus Nordafrika und die abgelehnten Asylbewerber möglichst schnell wieder los wird. Aber über nachhaltige Lösungen, die man die globalen Flüchtlingsströme verhindern kann, wird kaum debattiert.

Keine Lösung – kein Wahlkampfthema

Warum ist das so? Meine These: Das peinliche berührte Schweigen rührt daher, dass keine der Parteien – vielleicht mit Ausnahme der AfD, die aber nur gerne Mauern baut – ein Rezept gegen die Flüchtlingskrise oder gar eine Lösung für die globalen Flüchtlingsströme anzubieten hat. Wer will zugeben, dass das demokratische Europa sich gerade zu Festung ausbaut? Dass es dass möglicherweise tun muss? Dass wir in Afrika oder den arabischen Bürgerkriegsstaaten nichts ausrichten? Die einzige Partei, die bei dem Thema Stimmen gewinnen kann, ist die AfD, und deshalb lässt man das Thema lieber liegen. Aber das ist keine Lösung. Das Thema drängt und muss diskutiert werden.

Ein spätes Lob der Willkommmenskultur (und ihre Grenzen)

Merkels mutige und großzügige Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 hat meine ganze Bewunderung und meinen ganzen Beifall. Auch wenn sie möglicherweise mehr Versehen als Planung war. In dieser Situation – mit Hunderttausenden auf der Balkanroute – die Grenzen zu öffnen und die Flüchtlinge, die in den Randstaaten Europas keinen Aufenthalt gefunden hätten, aufzunehmen, war einfach großartig. Die deutsche „Willkommenskultur“ war ein Fest, es gab zehntausende freiwilliger Helfer, die großartige Arbeit geleistet haben (und bis heute leisten). Und hat ganz nebenbei hat diese Willkommenskultur der Welt gezeigt, dass Deutschland kein ausländerfeindliches oder rassistisches Land mehr ist, das wir uns geändert haben und zugleich bereit sind, globale Verantwortung zu übernehmen. Deutschland hat 2015 gezeigt, was mit guten Willen alles möglich ist.
Aber Deutschland hat auch gezeigt (oder erfahren müssen), dass auch der beste Wille an seine Grenzen stößt: Die 800.000 oder bis zu 1.000.000 Menschen 2015 aufzunehmen war richtig und es hat auch mit Ach und Krach funktioniert, aber die zweite Million in 2016 hätte die Bürger- und Zivilgesellschaft überfordert. Eine wunderbare einmalige Aktion, aber kein Dauerzustand. Bei aller Sympathie für die Träger von „Refugees welcome“-T-Shirts muss man konstatieren, dass wir letztlich schwer Glück gehabt haben, dass Österreich und die Balkanstaaten Ende 2015 die Balkanroute dicht gemacht haben. Da hat jemand uns die Schmutzarbeit abgenommen. Das sehen wohl auch die meisten Grünen so, wenn auch etwas ratlos. Denn allen ist doch klar: Eine zweite Million Flüchtlinge im Jahr 2016 hätte das Land zerrissen, hätte die AfD in sonst unerreichbare Höhen katapultiert, die Regierung gesprengt und auch die gutwilligsten Helfer (und Steuerzahler) an ihre Grenzen gebracht. So gerne wir auch helfen möchten: Die Aufnahme von mehreren Millionen von Flüchtlingen in Europa funktioniert ganz nicht (zumal die meisten großen europäischen Länder noch weniger als Deutschland zur Aufnahme bereit sind, weil sie bereits jetzt mit ihren muslimischen Minderheiten aus ihren Kolonialzeiten ausreichend Ärger haben.)

65 Millionen auf der Flucht

Aber ist die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in Deutschland und Europa denn überhaupt eine Lösung für die globale Flüchtlingskrise? Ist sie überhaupt hilfreich? Werfen wir einen Blick auf die Webseite der Grünen Bundestagsfraktion: „65 Millionen sind weltweit auf der Flucht, weil in ihrer Heimat Konflikte brodeln oder die wirtschaftliche Entwicklung stagniert.“ 65 Millionen (!) Menschen – die Zahl stammt von der UNO – sind weltweit auf der Flucht vor Bürgerkriegen, Hungersnöten, Dürren, blutrünstigen Diktatoren, politischer oder sexueller Unterdrückung und sicher noch vielen anderen Ursachen. Die meisten davon sind Binnenflüchtlinge oder schaffen es gerade mal in Nachbarländer. Lediglich einige hunderttausend Menschen (meist junge Männer) schaffen es bis an die Grenzen Europas und einige zehntausend jährlich in die EU hinein.

Die Starken und die Schwachen

Wer sind diese Flüchtlinge, die es über das Mittelmeer aus Afrika bis hierher schaffen? (bei den weiteren Überlegungen gehe ich v.a. von den afrikanischen Flüchtlingen aus, nicht von Syrern, Afghanen, Iranern und Irakern)
Bei aller Sympathie und allem Mitleid mit diesen verzweifelten, ausgemergelten, nur knapp dem Tode entronnenen Gestalten in ihren kaum seetüchtigen Schlauchbooten sind es vermutlich die Stärksten ihrer Familien, die man auf den Weg nach Europa geschickt hat, vielleicht sogar die Rücksichtslosesten, die den Weg geschafft haben. Es sind die noch halbwegs Wohlhabenden, deren Familien die hohen Summen für Flucht und Schlepperbanden zusammenkratzen konnten, es sind die Intelligentesten, sich mit dem Elend nicht abfinden wollen und es sind die gut Ausgebildeten, die sich Chancen in Europa ausrechnen.
Man muss hingegen befürchten, dass die wirklich Schwachen, Hoffnungslosen, Hilfslosen und Verzweifelten, Frauen und Kinder sich nicht den Weg über das Mittelmeer erkämpfen, sondern in afrikanischen Flüchtlingslagern vor sich hin vegetieren, Not, Gewalt, Hunger und sexuellen Ausbeutung preisgegeben. Und welche wirtschaftlichen und politischen Verheerungen richtet die organisierte Kriminalität der Schlepperbanden mit ihren Milliarden-Umsätzen in Afrika an? Und es gehen auch noch die Menschen, die Afrika am dringendsten braucht, z.B. Mediziner oder Ingenieure.

1:30 ist ungerecht

Der nächste Gedanke wird jetzt richtig fies: Für diese „happy few“ der Flüchtlinge, die es nach Europa und Deutschland geschafft haben, geben wir hohe Summen für Unterkunft, Ernährung, Bildung, Integration, medizinische Versorgung usw. aus. Ich habe eigentlich nichts dagegen, viele Milliarden für diese Menschen auszugeben (es ist letztlich alternativlos), aber wenn man überlegt, dass man mit diesen Summen vor Ort ungleich mehr erreichen könnte (zugleich würde das Geld nach Afrika fließen und die Entwicklung vor Ort vorantreiben und Fluchtursachen bekämpfen), sind diese Ausgaben zutiefst unsozial und ungerecht. Von den rund 12.000 Euro, die jeder einzelne Flüchtling in Deutschland jährlich kostet, ernähren Plan International oder SOS Kinderdorf rund 30 Kinder. Dieser Gedanke ist unangenehm, aber man muss sich ihm stellen: Wer den 65.000.000 globalen Flüchtlingen wirklich helfen will, kann nicht das allermeiste Geld für die wenigen Hunderttausend ausgeben, die es nach Europa und bis vor unsere Haustür geschafft haben. Mit den Milliarden der Flüchtlingshilfe könnten EU und UNO am Rande der Krisenregionen (nicht erst am Randes des Mittelmeers) menschenwürdige Flüchtlingslager bauen und verwalten, wie man die Menschen ernähren kann, sie vor Gewalt und Ausbeutung schützen und es Schulen, Krankenhäuser, Polizei und ein faires Rechtssystem gibt. So wäre das Geld sehr viel effizienter eingesetzt.

Lockruf Europa

Und es kommt noch schlimmer: Mit diesen in Europa statt in Afrika ausgegebenen Milliarden (die zurück in unsere eigene Wirtschaft fließen, statt in die Flüchtlingsregionen) locken wir vermutlich weitere Menschen an (deren Geld, Intelligenz und Kraft Afrika dringend braucht). Ich teile nicht die These, dass die Helferschiffe im Mittelmeer die Flüchtlinge anlocken, aber es könnte schon sein (oder es ist sogar offensichtlich), dass Europas offene Türen sie anlocken. Es ist brutal, aber um die Flucht nach Europa (wenn auch damit nicht schon die Fluchtursachen, hier sollte man Differenzen) zu bekämpfen und den tausendfachen Tod auf dem Mittelmeer zu verhindern, müssten Europas offene Türen in Afrika stehen und nicht in Italien, Griechenland oder Spanien. Hier vor Ort müssen Asyl- , Einreise- und Einwanderungsanträge gestellt werden (z.B. in den erwähnten gesicherten Flüchtlingslagern), aber nicht jenseits des Mittelmeeres. Nur so ist der lebensgefährliche Trip übers Mittelmeer, die organisierte Kriminalität der Schlepperbanden und der Sieg der Starken über die Schwachen zu stoppen. Indem konsequent niemand mehr nach einer teuren Flucht übers Mittelmeer noch Einlass nach Europa findet, sondern nur noch freundlich nach Afrika zurückgebracht wird. Das muss man dann in Afrika bekannt machen: Die Tür nach Europa ist in nur Afrika. Dazu brauchen wir ein Einwanderungsgesetz, das weder Wirtschaftsflüchtlinge zum Beantragen von Asyl zwingt noch die gut Ausgebildeten abschöpft. Wenn sich das herumspricht, wird der Flüchtlingsstrom vielleicht allmählich versiegen. Die Auffanglager (ganze Städte mit medizinischer Versorgung und Arbeitsplätzen – nicht für deutsche Entwicklungshelfer, sondern für Afrikaner) bieten dann nicht nur Sicherheit, sondern sind auch die Tür nach Europa, die fair allen gleich offensteht.

Asylrecht und Massenmigration

Damit stellt sich die Frage nach dem deutschen und europäischen Asylrecht („Wir Grüne im Bundestag stehen für eine Flüchtlings- und Integrationspolitik, in der der einzelne Mensch zählt. Wir verteidigen das Grundrecht auf Asyl, setzten uns für faire, qualifizierte und effiziente Verfahren sowie für eine nachhaltige Integrationspolitik ein.“). Nun will ich das Asylrecht keinesfalls abschaffen oder noch mehr verwässern, aber es ist nicht für die Bewältigung von globaler Massenmigration geschaffen worden, sondern nach der NS-Diktatur als individuelle Hilfe für politische Verfolgte. Daher auch die Einzelfallprüfung. Aber was soll eine Einzelfallprüfung bei massenhaften Bürgerkriegsflüchtlingen, bei Millionen Hunger- und Dürreflüchtlinge, ja sogar bei verfolgten Homosexuellen aus dem arabischen Raum oder Russland? Dafür wurde das Asylrecht nicht geschaffen, das kann es nicht leisten. Die 65 Millionen Flüchtlinge benötigen kein Asyl in Deutschland, sondern Schutz und Ernährung vor Ort! Wir können nicht alle Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kongo aufnehmen, sondern sie brauchen tatsächlich die Bekämpfung ihrer Fluchtursachen vor Ort und dann in einem zweiten Schritt die Chance für eine gesetzlich geregelte Einwanderung.

Können wir Fluchtursachen bekämpfen?

Noch einmal die grüne Bundestagsfraktion: „Statt mit einer guten Entwicklungspolitik Fluchtursachen zu bekämpfen, ziehen die westlichen Industrienationen die Grenzmauern hoch und lassen die Menschen auf gefährlichen Fluchtrouten alleine.“ Es ist völlig offen, ob eine „gute Entwicklungspolitik“ (was ein Widerspruch in sich sein könnte) überhaupt Fluchtursachen bekämpfen kann, oder ob Menschen, die ein Zipfelchen des Wohlstand erreicht haben, nicht vielleicht sogar noch mobiler & motivierter werden und sich dahin aufmachen, wo es besser ist. Wie im 19. Jahrhundert die Polen ins Ruhrgebiet. Dann kann so sein (schließlich wollen viele Menschen sicherlich lieber zu Hause bleiben), muss aber nicht. Ob die Beseitigung der Fluchtursachen die Migration nach Europa stoppt, ist völlig offen. Vielleicht würde die Bekämpfung der Fluchtursachen in noch größere Flüchtlingswellen münden. Vielleicht kann man sie auch gar nicht bekämpfen. Vielleicht ist es geradezu eine Hybris zu glauben, man könne von Deutschland aus die Flüchtlingsursachen in Afrika bekämpfen. Wir können entsetzlich wenig ausrichten gegen die Diktatoren, Bürgerkriege und selbstgemachten Hungersnöte in Afrika. Und letztlich werden alle entwicklungspolitischen Erfolge vom dramatischen Bevölkerungswachstum wieder aufgezehrt. Da hält kein Wirtschaftswachstum mit. Was wir immerhin könnten, wären die Billigexporte von Nahrungsmitteln oder Textilien nach Afrika endgültig zu stoppen (Gibt es die wirklich noch???) und den afrikanischen Fischern ihre Fischfanggründe zu lassen . Das muss die EU hinkriegen.
Die Idee der Fluchtursachenbekämpfung ist übrigens zweischneidig: Auch wenn wir mitgeholfen haben, die unmittelbaren Fluchtursachen zu beseitigen, werden Millionen Menschen vermutlich immer noch weg wollen ins gelobte Europa, aber wir könnten dann guten Gewissens sagen, dass sie dazu keine Grund mehr haben (keine Fluchtursache mehr) und ihnen die Aufnahme verweigern.
Ich bin überzeugt, dass Afrika seine Probleme weitgehend allein lösen kann und muss (wenn wir mit den genannten Behinderungen aufhören), und zugleich aufhören muss, die ehemaligen Kolonialmächte für das Versagen der eigenen Eliten, Misswirtschaft, Überbevölkerung, Stammesdenken, Aberglauben, Sexismus und wenig hilfreiche Wertesysteme (Männer arbeiten nicht, wer Geld verdient muss die gesamte Verwandtschaft durchfüttern, jeder denkt nur an sich und seinen Clan) verantwortlich zu machen. Viele Staaten Afrikas sind da bereits auf seinem sehr guten Weg des Wachstum und viele Staaten in Asien haben es auch geschafft Aber Afrika wird damit erst anfangen, wenn wir aufhören, die Retter zu spielen. Und nicht mit Zollschranken für afrikanischen Ware

Die Tür nach Europa muss offen bleiben.

Zuschließen dürfen wir die Tür nach Europa nicht, das wäre zutiefst unmoralisch. Europa kann aus unterschiedlichen Grünen Zuwanderung gebrauchen (die Ziele wäre zu definieren), und es kann auch ziemlich viel Zuwanderung aufnehmen. Immerhin es ist eine Folge der von Europa ausgehenden Globalisierung, dass es globale Bewegungen von z.B. Arbeitsmigranten gibt. Aber es geht nicht an, dass Europa Afrika seiner Ärzte, Krankenschwestern und Ingenieure beraubt, wie es jetzt passiert. Und das Flüchtlingsdrama Afrikas wird nicht in Europa gelöst, sondern nur in Afrika selbst. Und wir GRÜNEN müssen leider unsere schöne Illusion aufgeben, Deutschland könne per Asylrecht & Integrationspolitik immer weiter Flüchtlinge aufnehmen und würde damit global irgendetwas verbessern.

Statistik der Flüchtlinge
Herkunftsländer der meisten Flüchtlinge 2016
Syrien 5,5 Mio.
Afghanistan 2,5 Mio.
Südsudan 1,4 Mio.
Somalia 1,1 Mio.
Sudan 650.600
Kongo 537.500

Übers Mittelmeer kommem 2016
Nigeria 37.500
Eritrea 20.700
Guinea 13.382
Cote d’Ivoire 12.396
Gambia 12.000

In Deutschland kommen an (1-6/2017)
Syrien 26.896
Irak 11.127
Afghanistan 7.368
Iran 4.561
Eritrea 6.263
Nigeria 3.828
Somalia 3.592
Türkei 3.455
Russland 2.745

Alle Zahlen: UNO-Flüchtlingshilfe.

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