Wer ist Friedrich Merz wirklich?

Der gegenwärtige CDU-Vorsitzende bringt eine besondere Saite in mir zum Klingen – etwas, das tief in die innere Zeitrechnung hinabreicht und wohl nur bedingt mit der Person zu tun hat.

Bei Proust war es ein Keksgeschmack, der die Zeit aufschloß. Er führte den Ich-Erzähler zurück in eine jugendliche Welt der Groß-Dandys und des Hochadels. Vielleicht ist Friedrich Merz eine Art Madeleine-Gebäck für Menschen wie mich, die aus der Kleinen-Leute-Welt kommen?

Mich führt der Mann jedenfalls in die deutsche Kleinstadt der 1960er Jahre, mit ihren Ressentiments und Distinktionen, mit zwei Fußballvereinen in Konkurrenz. Und natürlich lagen auch „die Sozen“ und „die Schwarzen“ über Kreuz, und irgendwie auch Jung und Alt.

Wer damals jung war, setzte (so wie ich) auf Anglosaxia, also auf Beat (Anfang der Sechziger) bzw. Pop und Rock (Ende der Sechziger ff.). Und politisch natürlich auf Progressiv, was immer das war. Das war relativ einfach und die politisch-kulturell irgendwie natürliche Verkopplung, um sich die Welt zu erklären.

Für einen bestimmten Teil der damaligen Jungpopulation, die Anti-Progressiv tickte, war das nicht möglich. Für sie kam es zu einer schwierigen Begegnung zweier Welten mit geschlossener Sinnstruktur – und zwar im innersten Selbst (das gab es damals auch noch!). Lebenspraktisch wurde es zum Dauer-Widerspruch:

Jung-Sein, Konservativ-Sein …

Wie konnte man damit umgehen? Was ging, und was nicht? Mofafahren – das ging noch als Antiprogressiver, so viel Jugend-Lifestyle war möglich. Aber sonst? Schwierig, das Jungsein der eigenen Generation nicht wirklich mitmachen zu können.

Ich habe nun eine Theorie, was die Suche nach einer Lösung anbelangt. Sie bezieht eine kulturelle Randerscheinung mit ein, auf die man vielleicht nicht so leicht kommt, nämlich die Rolle des „Lords“ in der deutschen Kultur jener Zeit. Tatsächlich gab es damals eine Häufung des Ausdrucks. Es gab eine Zigarette, die so hieß, es gab (und gibt!) Lord-Pils (lecker!), und ein Schlager-Lord fuhr im Ford fort. Und es gab (und gibt!) „The Lords“, inzwischen dienstälteste Beat-Band der Welt! Ihr größter Hit war „Over in the Glory Land“ aus dem Jahr 1967. Das ist auch ungefähr der Soundtrack der Generation Lord. Ein paralleles zeithistorisches Wortfeld könnte man übrigens um den „Sir“ aufmachen: Sir Winston, Sir Irisch Moos …

Ich glaube, die Figur des englischen Adligen – und alles, was man in sie hineinprojizierte – hat die konservative Jugend von damals fasziniert. Der Lord (oder Sir) war etwas Englisches, so war man kulturell bei Anglosaxia dabei. Gleichzeitig war er aber politisch konservativ und distinguiert. So konnte man sich abheben. Aber nicht zu sehr, nicht so wie bei Proust. Gefühlt war der Lord nicht ganz Große Welt, sondern näher dran an Mittelklasse und Kleinbürgertum.

Von daher auch meine These: Der Lord war ein Distinktionstraum der jungen konservativen deutschen „Kleinen Welt“ der 1960er Jahre. Etwas Eleganz und Weltläufigkeit, und gleichzeitig ein Gegenentwurf zu den „Hippies“ und „Gammlern“ der Zeit, zu Janis Joplin und Mick Jagger (inzwischen selbst “Sir“). So sollte die Quadratur des Kreises gelingen. Man konnte (vielleicht) jung und konservativ zugleich sein.

Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen, fast wie im letzten Band von Prousts „Recherche“. Und viele aus der Generation Lord haben mehr als ein halbes Leben auf der halb vergessenen Grundlage des 1960er-Jung-Konservativseins zugebracht. Doch die Angehörigen der Generation – auch wenn sie auf der anderen Seiten standen (stehen) – erkennen noch den Geschmack von damals. Auch das Sticheln und Stechen, den ganzen Habitus, der aus einem besonderen Mit-sich-Uneins-Sein kommt. Und der es den Anderen in der Kleinstadt einmal richtig zeigen will, vor allem natürlich den Langhaarigen und Links-Versifften …

Große Teile der heutigen CDU sind über diese kulturelle Wackellage längst hinaus. Sie sind liberale Demokraten ohne besonderen Distinktionsbedarf. Das ist gut so. Dennoch haben sie sich einen Lord Mückenstich aufs Schild gehoben – zum Stechen gegen alte Feinde, die es so kaum mehr gibt.

Allerdings ahnt man auch, dass der Herbst für solche Stachelträger nicht die beste Jahreszeit ist. Ich würde daher sagen:

Noch einmal richtig Retro, und dann ists gut!

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.