Seit Jahren werden praktisch keine neuen Antibiotika mehr entwickelt. Dabei sieht sich die medizinische Welt einer schleichenden Pandemie ausgesetzt, die bereits in diesem Jahr genauso viele Tote gefordert hat, wie die Corona-Pandemie. Multiresistente Keime, die allen bekannten Antibiotika widerstehen, bedrohen die Existenz der Menschen und drohen die Welt in die Zeit vor der Erfindung des Penicillins zurück zu schicken, in der jede verschleppte Infektion einer winzigen Wunde, jede Operation, jede zunächst nicht beachtete Entzündung zu einem lebensgefährlichen Problem werden kann.

Diese Situation ist nicht zuletzt dem Stillstand bei der Pharmaforschung geschuldet. Seit etwa 20 Jahren sind die zunehmenden Resistenzen von Bakterien gegen Antibiotika bekannt. In den Niederlanden etwa wird dem systematisch entgegen gewirkt, indem die Verschreibung solcher Medikamente auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt wird, die Hygienevorschriften in Krankenhäusern ein Vielfaches strenger sind, als in Deutschland. Auch die WHO hat sich alarmiert zu den Antibiotika-Resistenzen geäußert, und beziffert die Zahl der jährlichen Toten weltweit auf etwa 1,3 Mio. Menschen, bei denen Antibiotika unwirksam blieben. In Deutschland sterben laut RKI jährlich mindestens 2.500 Menschen, andere Quellen halb soviel bis dreimal so viel wie an Corona. Aber die Resistenzen der Bakterienstämme steigen an, so auch die WHO und das Robert-Koch Institut, und damit werden auch die Zahlen der Opfer absehbar ansteigen.

Resistenzen aufgrund häufiger Verwendung

Weitgehend übereinstimmend äußern sich Expert:inn:en dahingehend, dass Antibiotika in Deutschland zu schnell und häufig gegen Krankheiten eingesetzt werden. So verschreiben niedergelassene Ärzt:inn:en diese Medikamente oft, ohne vorher zu prüfen, ob die gefundenen Bakterien überhaupt auf das verschriebene Medikament ansprechen – sozusagen ein Schrotschuß ins Dunkel.  Noch viel schlimmer aber wirkt sich aus, dass Antibiotika nach wie vor in der Massentierhaltung prophylaktisch eingesetzt oder als Masthilfe missbraucht werden. Die Wirkstoffe gelangen auf die Felder und in die Gewässer, wo z.B: Colibakterien ihre Resistenzen entwickeln. Besonders gewissenlos, geradezu verbrecherisch, ist angesichts des Stillstands in der Forschung der Einsatz von Reserveantibiotika in der Tiermast. Ein vom Weltärzteverband und den Grünen 2021 eingebrachter Antrag zum Verbot scheiterte an der Mehrheit des Europaparlaments.

Cem Özdemir will Einsatz der Reserveantibiotika halbieren

Der Bundestag hat eine Änderung des Tierarzneimittelgesetzes beschlossen. Als Ziel ist immerhin im Gesetz eine Halbierung der Antibiotikamenge bis 2030 verankert. Laut der Grünen im Bundestag bedeutet dies, dass im Fall von Reserveantibiotika wie Fluorchinolone, Cephalosporine der 3. und 4. Generation und Colistin Tierärzt:inn:en und Tierhalter:innen motiviert werden sollen, die Anwendung vor allem im Rahmen der Gruppenbehandlung auf das therapeutisch nicht vermeidbare Minimum zu beschränken. Allerdings wird etwa Colistin in der Geflügelhaltung immer noch eingesetzt, indem beispielsweise eine ganze Hühnerherde von mitunter 30.000 Tieren, also überwiegend gesunde Hühner, behandelt werden, wenn nur wenige Tiere Krankheitssymptome aufweisen. Dem soll nun mit einer obligatorischen Bestimmung der Keimresistenzen vor jedem Einsatz vorgebeugt werden. Ein Verbot der Umwidmung für Tierarzneimittel mit Colistin im Gesetz soll einen verantwortlichen Umgang mit dem Reserveantibiotikum erzwingen. Gleichwohl wird auch dieses Gesetz nichts daran ändern, dass die Resistenzen allgemein fortschreiten.

Warum wurde die Forschung eingestellt?

Die Entwicklung neuer Antibiotika ist äußerst kostspielig. Bis zur Marktreife eines einsatzreifen Arzneimittels vergehen durchschnittlich 10 Jahre und die Kosten schätzt die Pharmaindustrie auf jeweils etwa 2 Milliarden Dollar. Laut WHO wird derzeit weltweit in 22 Projekten an neuen Antibiotika geforscht. Nach den bisherigen Erfahrungen der WHO und ihrer Experten haben davon etwa sechs die Chance, wirkungsvolle Stoffe zu entwickeln und vielleicht zwei, Marktreife zu erreichen – in zehn Jahren. Gleichzeitig wird die Chance, dass sich ein entsprechendes Medikament ökonomisch rechnet, indem es die Entwicklungskosten wieder einbringt, als verschwindend gering eingeschätzt. Es sind also nicht wissenschaftliche, sondern ökonomische Erwägungen, die immer mehr Menschen das Leben kosten werden.

Welche Lösung gibt es?

Angesichts der Milliardengewinne, die Pharmakonzerne wie Pfizer, Merck, Bayer oder Roche erzielen, ist es nicht einzusehen, dass diese eine ernsthafte Forschung an Antibiotika weitestgehend eingestellt haben und nach dem Staat rufen. Der könnte zwar das tun, was er in der Corona-Pandemie zur Förderung eines Impfstoffs getan hat: Subventionen für die Entwicklung ausschreiben und funktionierende Medikamente anzukaufen. Allerdings sollen – anders als bei einer Impfung gegen Viren – Antibiotika ja gerade nicht in hoher Stückzahl eingekauft und verordnet werden, sondern würden möglichst gezielt eingesetzt, nicht dem Massenmarkt und schon gar nicht in der Tiermast eingesetzt und damit zwangsläufig zu exorbitant hohen Preisen abgegeben. Dies jedoch würde wiederum eine sozial ungerechte Verteilung, national wie international bedeuten, wie wir sie schon seit Jahrzehnten von wirkungsvollen Medikamenten gegen HIV kennen.

Die Gesundheitspolitik ist gefragt

Besteht eine offensichtliche Gemengelage, wie durch die Rahmenbedingungen des inzwischen weitgehend zur Profitorientierung gezwungenen Gesundheitssystems, stellt sich die Frage nach den Instrumenten, die dem Staat zur Verfügung stehen, um Forschung an lebensrettenden Medikamenten sicherzustellen. Ein weiterer Ansatz wäre demnach auch, diejenigen Pharmafirmen, die mit den Impfstoffen gegen Corona Milliardengewinne gemacht haben, wie z.B. Pfizer und Biontech, zu verpflichten, entweder Teile ihrer Gewinne in diesem Bereich einzusetzen oder freiwillig für entsprechende Projekte zur Verfügung zu stellen. Denkbar wäre auch, von Unternehmen, die in diesem Bereich gar nicht selbst forschen, Fördermittel und Gewinne zurückzufordern. Dieses Instrument ist aus der Filmförderung durchaus bekannt: Wenn Filme nur aufgrund von Fördermitteln entstehen können, sich dann aber als Kassenschlager erweisen, müssen die Produktionsfirmen Fördermittel zurückzahlen, wenn ihnen das zumutbar ist.

Gewinne bei mangelnder Kooperationsbereitschaft  Abschöpfen

Das Problem der Finanzierung von Gesundheitsförderung ist nicht vom Tisch, denn es gibt ja geförderte Unternehmen, die sich weigern, z.B. für Drittweltländer die Patente auszusetzen oder freizugeben. In diesen Fällen sind die Regierungen gefragt, entweder durch Gespräche zu motivieren oder Unternehmen auf gesetzlichem Weg zu zwingen, aufgrund der öffentlichen Förderung entstandene Gewinne in Fördertöpfe zurückzuführen, aus denen dann dringend notwendige Forschung wie die Entwicklung neuer Antibiotika finanziert werden kann. Zu diesen Förderungen gehört es auch, den Blick zu weiten. In einigen ehemaligen Ostblockländern wie Moldavien und vor allem Georgien haben sich die Forscher jahrzehntelang nicht zuletzt aus Kostengründen mit der Erforschung von Bakteriophagen beschäftigt. Die leben – nicht erschrecken! –  z.B. im Abwasser und sind vereinfacht die natürlichen Feinde von Bakterien – auch solchen, die Antibiotikaresistenzen aufweisen. Auch in Deutschland findet z.B. an der medizinischen Hochschule Hannover Bakteriophagenforschung statt und  bietet hoffnungsvolle Ansätze, einen weiteren gesundheitspolitischen Weg in Ergänzung zur lahmenden Antibiotikaentwicklung zu erschließen.

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net