Châlons-sur-Marne im Jahr 1953. Nichts ist mir in Erinnerung als der Eingang zur Kaserne der „Gendarmerie de la Marne“. Um junge Ausländer anzulocken, hing dort ein grosses Plakat: „Viens dans la Légion Etrangère. Tu deviendras un chef! – Komm in die Fremdenlegion. Aus dir wird ein Chef!“
Ich war ein halbwüchsiger Schweizer, den Kopf schon voll von gymnasialer Bildung. An die Fremdenlegion hatte ich nie gedacht, nach Châlons-sur-Marne wollte ich überhaupt nicht. Ins Louvre wollte ich, in das Museum aller Museen nach Paris. Mein knabenhafter Irrtum war, dass ich mir das Reisen per Anhalter in Frankreich zu einfach vorgestellt hatte. Von Strassburg kam ich unendlich mühsam bis nach Châlons-sur-Marne (heute Châlons-en-Champagne). Von dort war gar kein Fortkommen mehr. Gezwungenermassen schaute ich mich in Châlons um, einer kleinen Stadt so grau und trist wie damals fast alle französischen Städte, Paris nicht ausgenommen,
Doch dann die Erleuchtung fürs ganze Leben: die „Gendarmerie de la Marne“! Es war nicht nur der verheissungsvolle Text am Eingang zur Kaserne „Aus dir wird ein Chef!“ Packender war das Bild. Über dem Text nämlich prangte der Kopf eines offenbar höchst erfolgreichen Chefs: Aus den Augen ein Blick von gnadenloser Uneinsichtigkeit, darunter ein so herrisch vorgerecktes Kinn, wie wir es damals alle noch von Mussolini in Erinnerung hatten.
Respektvoll knapp hatte mein Vater das Wort „Chef“, „Chefsache“ gar, stets ausgesprochen. Jetzt sah ich am Eingang zur Gendarmerie, unvergesslich plakatiert, dem Inbegriff eines Chefs ins Auge. Und wie ich das herrisch vorgereckte Kinn anstarrte, durchfuhr mich wie ein Blitz die göttliche Erleuchtung: Alles will ich im Leben werden, alles nur das nicht: Auf gar keinen Fall wird aus mir ein Chef.
Lasset mich beten!
Barmherziger Gott, vor der Gendarmerie-Kaserne von Châlons-sur-Marne hast du mich einst in törichter Jugend dagegen gefeit, jemals ein Chef werden zu wollen. Bewahre mich jetzt in der Torheit des Alters davor, stolz zu sein auf das, was ich sonst alles geworden bin. Denn dies ist die göttliche Erleuchtung, die du mir vor jener französischen Kaserne geschenkt hast: Es wird am Jüngsten Tag nicht darauf ankommen, was einer im Leben erreicht hat. Für Gottes Richtspruch zählt allein, was einer nicht geworden ist.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner überaus freundlichen Genehmigung.
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