Jürgen Habeermas, vor einem Monat 95 geworden, wird in Deutschland von einer klaren Mehrheit links von der Mitte als weiser alter Mann respektiert und geachtet. Seine öffentlichen Interventionen sind sorgsam dosiert, und ich unterstelle: nicht nur wegen seines Alters, sondern mit Bedacht. Wohl aufgrund seines bayrischen Wohnsitzes und aus alter Gewohnheit hält er offenbar die Süddeutsche Zeitung für eine geeignete Stelle sich zu Wort zu melden.

Damit ist er schlecht beraten. Die verkaufte Auflage der SZ geht, wie überall, steil nach unten. Sie ist noch um 100.000 geringer, als Martin Sonneborns “Die Partei” bei der letzten Bundestagswahl (2021) Stimmen erhalten hat. Und wie viele reale Käufer*innen lesen dann auch tatsächlich einen Habermas-Text? Digital wird das erfasst – aber nicht veröffentlicht, Geschäftsgeheimnis.

Seien wir ehrlich. Habermas wird in zellenartigen Intellektuellen- und Publizist*inn*enkreisen zur Kenntnis genommen. Gesamtgesellschaftlich betrachtet kommt er über einen Sack Reis in China kaum hinaus. Ob die Mächtigen ihn beachten? Da müsste mann*frau sie einzeln befragen …

Ich habe die jüngsten Habermas-Texte in der SZ nicht gelesen, weil sie ausnahmslos digital eingemauert waren. Selbst wenn ich sie individuell lesen würde – ich könnte es mit meinem Paywallbohrer – kann ich sie urheberrechtlich nicht weiterverbreiten. Ihr politisches Gewicht tendiert so, s.o., gegen Null. Leider.

Denn heute habe ich zufällig ein Habermas-Interview gelesen. Die taz hat es fast verschämt versteckt, in der rechten Spalte, wo gewöhnlich auf anderen Portalen die Werbeanzeigen blinken und nerven. Aufmacher ist ein 55 Jahre altes Suchbild mit dem “jungen” disputierenden Professor in der Mitte. Das Interview ist auch schon wieder fast ein Jahr alt aus einer englischen Zeitschrift vom taz-Tochterunternehmen “Futurzwei” ins Deutsche übersetzt.

Es ist gut gealtert, nichts von Ereignissen überholt. Ich hätte es noch stundenlang weiterlesen können, weil so viel geballte gedankliche Vernunft heute in deutscher Publizistik nicht mehr aufzufinden ist.

Was machen eigentlich seine Schüler*innen heute so den ganzen Tag?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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