Die schmerzfreien Agendasetter*innen da hinten in Berlin-Mitte (und anderswo)

Die Mehrheit der Menschen ist an Kriegführung nicht interessiert. Sie hat andere Sorgen. In Medienbetrieben ist es umgekehrt: (Massen-)Mord, Totschlag, Sex geht immer; ohne das ist ein Medium vom Tod bedroht. Das Publikum frisst das giftige Zeug. Immerhin kann es sich so selbst versichern, dass die eigene Lage immer noch besser ist, als die Anderer. Aber sie ist nicht gut. Und sie wird nicht besser. Aber wen interessiert das? Wenn das Publikum in die Medien blickt, denkt es: keine*n interessiert das.

Dem deutschen Medienwind folgend, sind im Ukrainekrieg die ukrainische Regierung, sowie im Gaza- und Libanonkrieg die israelische Regiering die Guten. Die Mehrheit weiss jedoch: tot ist tot. Und das betrifft immer die armen Frontschweine und unschuldigen Zivilist*inn*en, in der Regel aber nicht die, die den Krieg wollen und führen. Was soll daran gut sein?

Besonders perfide wird das bei der Instrumentalisierung des Antisemitimsus. Die Mehrheit findet ihn scheisse, ist aber weit davon entfernt, ihn für “unser” Hauptproblem zu halten.

Ich nenne mal ein paar banale Beispiele für Probleme, die nicht bis Berlin-Mitte durchkommen. Wer die Bundestagswahl gewinnen will, sollte sich vielleicht doch besser für sie interessieren.

Wer wird uns später pflegen?

Immer mehr (wahlberechtigte!) Menschen werden 80 Jahre und älter. Schon jetzt fehlen hunderttausende professionell ausgebildete Pfleger*innen. Wo sollen die herkommen? Wer soll das bezahlen, wenn es keine Vermögenssteuer gibt?

Wo gibt es noch Wohnungen?

Teure Wohnungen gibt es mehr als genug, bezahlbare keine. Wer gründet noch Familien oder vergleichbare Gemeinschaften, wer will Kinder, wenn es keine Wohnung gibt? Grund und Boden sind nicht produzier- und vermehrbar. Warum also privatisiert? Millionen Alte wohnen in überdimensionierten behindertenungerechten Häusern und Wohnungen. Viele wollen, aber ebensoviele können nicht anders, weil es keine günstigere kleinere barrierefreie Angebote für sie gibt. Wo ist der Staat, das Bundesland, die Stadt, die sich darum kümmern?

Nahversorgung

Die Nahversorgung ist nicht nur auf dem Land, sondern auch in vielen Grossstadt-Stadtteilen zusammengebrochen. Dank Autogerechtigkeit, dank Amazonisierung, dank Kapitalkonzentration im Kapitalismus. In wenigen Dörfern und Stadtteilen versuchen Bürgerinitiativen mühselig, das zu reparieren. Wo ist der Staat, wenn mann*frau ihn mal braucht? Interessiert das irgendjemanden in Berlin-Mitte? Die haben “Spätkauf” an jeder Ecke, betrieben übrigens von Immigrant*inn*en – keiner von denen ist “illegal”.

Wo gibt es noch Handwerker*innen, wenn mal was kaputt ist? Von entsprechendem Luxus bei Lebensmitteln (Bäcker, Konditorei, Metzger, Gemüse, Wein) ganz zu schweigen. Antwort: im Internet (= Amazonisierung, Verpackungsmüll etc.). Ja gut.

Arzt ohne Digitalzwang?

Aber wie bekommen Ü80-jährige noch einen Arzttermin ohne Digitalzwang? Von Fachärzt*inn*en ganz zu schweigen, die sich oftmals offen weigern, noch Kassenpatient*inn*en anzunehmen. Ein Problem, das sich in nicht wenigen Einzelfällen als lebensgefährlich erweist. Von der Erreichbarkeit von Krankenhäusern will ich hier gar nicht erst anfangen …

Was ist noch erreichbar?

Obwohl: Erreichbarkeit ist ein gutes Thema. Die verwüstende Amazonisierung der Stadtteile richtet sich gegen die wachsende Zahl der Altwerdenden (“Boomer”). Ich habe hier in Beuel noch einen Edeka (plus einen Bäcker, einen Hausarzt und eine Apotheke) in Rollator-Entfernung. Wer von Ihnen noch? Bitte einmal aufzeigen!

Als ich letztens gestürzt war, befasste ich mich erstmals mit dem Thema Rollator für mich selbst. Mein 92-jähriger Vater kann fachberaten; er kennt die Modellqualitäten, wie früher bei den Autos. Ich begegnete einem Rollator auf dem Bürgersteig. Was, wenn ich da auch schon einen gehabt hätte? Eine*r hätte nachgeben müssen, weil der Gehweg selbstverständlich zugeparkt ist. Ich kann nicht feststellen, dass das irgendwo in der Kommunalpolitik (von lokalen Medien ganz zu schweigen) ein Thema ist. Kommunalwahl ist übrigens auch nächstes Jahr, im September.

Unsere Kinder sollen es einmal besser haben

Das sind Beispiele aus der Alten-, der Boomer-Perspektive. Was ist mit den jungen Menschen? Im Unterschied zu den Boomern haben sie nicht die Macht der Vielen. Sie wählen weniger, weil sie nicht wissen, wen. Ihre Zweifel sind berechtigt. Die Perspektive meiner Eltern war: unsere Kinder sollen es einmal besser haben. Das hat geklappt. Aber es war knapp. Unsere Eltern haben die grausame Wirklichkeit eines Krieges noch selbst erlebt. Wir nicht. Die Traumata sind geblieben. Sie haben sich vererbt.

Heute gibt es kaum noch Eltern, die ihren Kindern das “besser haben” anbieten können. Im Gegenteil. Die Bedrohungen erscheinen grösser als die Chancen. Nur ein Medienmanko? Auf jeden Fall als real existierendes Massengefühl ein Politikum. Welche Partei bearbeitet das?

Ignorierte Banalitäten

Für politisch und strategisch denkende Menschen – und ich kenne viele, die sich dafür halten – sind das alles Banalitäten. Dass die demokratischen Parteien sich mit ihnen kaum noch beschäftigen – das ist der Kern der Gefahr für die real existierende Demokratie.

Die aufgezählten Banalitäten betreffen alle gleich: Migrant*inn*en und biodeutsche Ureinwohner*innen, Frauen, Männer und andere Gender, Christ*inn*en, Muslime und Ungläubige. Hört auf, uns mit eurem ideologisierten Überbau abzulenken. Politik ist die Kunst der Kommunikation, der Bündelung (= Organisation von Bündnissen) gemeinsamer Interessen. Nicht jedes Anliegen braucht eine eigene Partei – am Ende sind dann sowieso Koalitionen erforderlich. Macht eure Arbeit!

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net