Vom Bahnhof in R. war es tatsächlich nicht weit bis zur Lokalredaktion. Der Bahnhof war typisch deutsch. Im schalterlosen Gebäude roch es flüchtig nach Urin. An den Wänden hingen diese antiseptischen Plakate mit Bahntouristen in der weiten Welt, meist vor den Alpen. Oder ein schlafender Autofahrer, dessen PKW im angehängten Wagenteil mittransportiert wurde, träumte von Strand, Sonne und Meer.

„Aha,” dachte Alwys, „so gemütlich begrüßt die Autostadt mit dem Theater ohne Ensemble ihre Besucher.“ Das große Werkstor war gleich links vom Bahnhofseingang und bildete das Zentrum der City.

„Hier wird sicher kein erarbeiteter Mehrwert der Bevölkerung rückgeführt,” befand Alwys und schlängelte sich zwischen den Betonkübeln mit undefinierbarer Bepflanzung der sogenannten Fußgängerzone hindurch zur Ausfallstraße Richtung Frankfurt Flughafen, wo die Redaktion sein sollte.

Das Gebäude war eines der hier typischen kleinen Bauernhäuschen in Reihe mit zweistöckigem Wohnbereich, einem kleinen Innenhof und einer kleineren Stallung. Eigentlich hatten die Menschen im weiten hessischen Ried und den endlosen Kiefernwäldern auf sandigem Boden früher nur von der Landwirtschaft gelebt.

Alwys musste von der Straße aus drei Stufen aufsteigen, klingelte und mit einem slapstickhaften Surren sprang die Tür auf. Im Flur roch es etwas nach Wurstbrot und Holzschutzmittel. Alwys ging eine kurze Treppe hinauf und stand, oben angekommen, schon im Büro von Dakell. Der, Ende dreißig, mit Ansatz zum Tränensack und hoher Stirn, las gerade die Sonderangebote in seiner Zeitung. Aus dem Radio dudelte der schmalzige Song „The last unicorn.”

„Das bin ich selbst,” dachte sich Alwys und klopfte mehr symbolisch als höflich an das Futter der nicht vorhandenen Tür.

„Tag!“

„Tag?,” kam es Alwys entgegen. „Ach ja, sie sind die Empfehlung von Nasser. Will der immer noch Gitarre spielen?“

Dakell lachte kurz auf, legte die Zeitung zusammen, wie ein Pförtner, der die Pause beendet und reichte Alwys seine feuchtwarme Hand zur schlaffen Begrüßung.

„Setzen Sie sich.“ Alwys nahm auf einer Art Küchenstuhl mit Armlehne Platz und wollte seine Belege zücken.

„Lassen Sie mal stecken,” bellte Dakell mit etwas zu hoher und dafür etwas zu druckvoller Stimme.

„Wir machen hier learning by doing.“ Dakell gluckste fröhlich, weil er sich mit dem Ausspruch auf der Höhe der Zeit wähnte.

„Also, wir haben hier Konzert, Opern und Sinfoniereihen im Theater und einmal im Jahr das europäische Blockflötentreffen. Das sponsert so ein reicher Spargelbauer aus Griesheim. Da kommen ca. tausend Blockflöter und bekannte Musiker, vor allem aus Holland. Dann brauchen wir von Ihnen ganz viel. Stimmungsberichte, Kritiken, Bildunterschriften. Da können Sie sich an einem Wochenende eine goldene Nase verdienen.“

Dakell gluckste erneut.

„Das machen wir dann mit Kürzel und Pseudonym, damit auf den Seiten nicht ständig nur ein Name steht. – Am Sonntagmorgen ist eine Matinee im Rathaus mit so einem Opernsänger aus Frankfurt, der präsentiert den ‚Ring‘ in zwei Stunden mit Klavierbegleitung. Können Sie den Termin mal für uns übernehmen? Pro Zeile gibt’s 29 Pfennig, sagte ich Ihnen schon am Telefon. Schreiben Sie schön viel, damit es sich für Sie auch lohnt.“

„Ja, Sonntag ginge bei mir. Was für einen Ring macht der?“

„Wagners Ring des Nibelungen natürlich, für eine Stimme mit Klavier. Er singt den Wotan. Der Rest wird erzählt. Müssen sie mal nachlesen, worum es da geht, in dem Gesamtkunstwerk.“

„Auch das noch, Gesamtkunstwerk,” dachte Alwys. “Der Blues ist die wirkliche unendliche Melodie.“

„Hier ist unser Saisonprogramm, da steht ein bisschen was drin.“

Alwys überflog die Seiten. Tatsächlich gab es viel Musik im ensemblelosen Theater. Prager Sinfoniker, Opernhaus Gdanzk aus Polen, sogar aus Kiew kam eine Truppe. Öfter(s) das Theater aus Kaiserslautern mit Musicals. Oklahoma und Anatevka. Ein Klavierabend. Da gab es einen Abend mit dem United Jazz & Rockensemble in Kooperation mit der Jazzinitiative in R.

„Ach du Schande,” sagte Alwys innere Stimme, „die aus Kiew sind total verstrahlt. Dass die überhaupt über die Grenze dürfen.“

„Ja, ist ganz gut gemischt. Ist OK, das Programm.“

„Ja, ganz gut gemischt. Wir machen es so: Sie faxen am Morgen nach der Veranstaltung bis 10 Uhr Ihren Text. Abrechnung am Ende des Monats. Wenn Sie wollen und können, “ – Dakell lachte wieder kurz auf – „dann können Sie die ganze Saison übernehmen. Fahrtkosten gibt’s keine. Wichtig ist jetzt mal der Sonntag. Den Sänger kenne ich gut und schätze seine Sangeskunst – dann das europäische Blockflötentreffen am Wochenende vor Pfingsten. Also in zwei Wochen. Da ist richtig was gebacken.“

„Echt?” fragte Alwys rhetorisch zurück und hatte schon einen Plan, wie er dieses Honorarproblem nach einiger Zeit in den Griff bekommen könnte, so dass sich die Termine tatsächlich für ihn rechnen würden. Bei schönem Wetter wollte er die S-Bahn sparen und die 15 Kilometer den Main hinauf mit dem Fahrrad fahren. Das musste landschaftlich eine schöne Strecke sein.

„OK. Matinee am Sonntag mit Gesamtkunstwerk Wagners und der Text kommt dann spätestens am Montagmorgen gefaxt.“

Alwys wusste nur nicht, von wo er das faxen sollte. Hoffentlich gab es im Winzerhof von Josh jemanden, der ein Fax-Gerät hatte. Zur Not müsste er eine Post in der Umgebung suchen.

„Dann schreiben Sie mir bitte auf das Zeilenpapier am Montag Ihre Bankverbindung, damit wir sie reich machen können.“ Dakell wollte witzig sein. War er aber nicht. Nicht für Alwys, der zum Thema Arbeit und gerechte Entlohnung seine eigene Theorie hatte. Offensichtlich wurde ja mit diesem Zeitungsableger Profit erwirtschaftet, wenn auch – offensichtlich – mit diesem kein großer.

„Dass die hier überhaupt eine Kulturseite hatten…,” wunderte sich Alwys angesichts der Betonkübel in der verbundsteingepflasterten sogenannten Fußgängerzone beim Rückweg zum Bahnhof. Hinter den Gleisen sah er eine steil ansteigende, sehr breite Dachschräge. „Das muss das Theater sein. Ist ja nicht weit weg.“

Alwys war froh, gleich wieder über den Rhein zu fahren. Beim neuerlichen Betreten des Bahnhofs in R. begrüßte ihn erneut der schnarchende Autofahrer im Zug, die Vorzeigefamilie vor Alpenpanorama und dieser flüchtige Uringeruch, der ihn jetzt mehr an diese Mischung aus Wurstbrot und Holzschutzmittel erinnerte.

„Das ist Absurdität,” dachte Alwys, „zwischen dieser Blend-A-Med-Familie vor Alpenpanorama und dem Uringeruch gab es keine sinnvolle Verbindung und dennoch stehen sie in Zusammenhang. Oder gab es einen: Der Urin ist die dialektische Kehrseite dieser Saubermänner.“

Alwys hatte während dieser Gedanken das Gefühl, er würde sein akademisches Wissen gewissermaßen anwenden zwecks Gesellschaftsanalyse oder sonstiger Art von Erkenntnis.

„Theater ohne Ensemble, Bahnhof ohne Schalter, das ist ja, als gäbe es die Neutronenbombe wirklich. Und Dakell ist nur ein Zombie oder das letzte Einhorn.“

Eine S-Bahn rauschte in den Bahnhof, die Türen schoben sich auf. Die Menschenleere war im nächsten Moment vorbei. Aus der S-Bahn quollen die Werktätigen an diesem Freitagnachmittag wie kurz vor der Panik heraus und durchzogen lemminghaft das Bahnhofsgebäude.

„Zum Meer geht’s da lang,” dachte Alwys. „Leider sind die Alpen dazwischen. Vielleicht bekommt die der saure Regen irgendwann auch einmal klein. Dann kannst du vom Feldberg aus in Bibione die Sonnenschirme zählen. – Scheiße! Das ist ja meine S-Bahn!“

Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.

Über Arthur Zupf:

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