Hurra, hurra, das neue Jahr ist angebrochen. Gleich am ersten Tag begann es heiter und windig. Einschlägige Untergangspropheten sind enttäuscht: Die Dunkelflaute war vorbei. Die Windräder drehten sich, und in den Solarzellen pulsierte der Strom. Da hat das Land, welches nach herrschender öffentlicher Meinung doofer ist als fast alle anderen Länder der Welt, weil es seine Atomkraftwerke aus sogenannten ideologischen Gründen abgeschaltet hat, wieder mal Glück gehabt. Unglaublich, aber wahr, schon wieder kein Engpass bei der Energieversorgung. Ohne Atomenergie strahlte die Weihnachtsbeleuchtung in diesem beinharten Winter. Und schon wieder hat der deutsche Staat ungefähr 15 Milliarden Euro gespart, die ein neues Atomkraftwerk, Stand heute, kostet. Schließlich haben wir auch keine weiteren Tonnen an radioaktivem Müll produziert, weil wir bereits genug davon besitzen.

Das alles verdanken wir der Standhaftigkeit des amtierenden Wirtschaftsministers, welcher zu der selten gewordenen Spezies von Politikern gehört, die noch wissen, was sie wollen. Denn Deutschland braucht das Geld für die Freiheit. Sie muss bekanntlich gegen Putin verteidigt werden, das erfordert Waffen, Rüstung, Militär. Somit schlägt Robert Habeck als grüner Spitzenkandidat eine Steigerung der Verteidigungsausgaben auf 3,5% des Bruttoinlandsproduktes vor.

Die Grünen muss man bekanntlich nicht zum Jagen tragen, wenn es um die militärische Zeitenwende geht. Daneben versucht Habeck mit seinem Vorstoß, den Türspalt aufzustemmen, den Friedrich Merz für eine schwarz-grüne Koalition offengelassen hat. Eine andere Bündnis-Option verfolgen die Grünen nicht mehr. Dabei gibt es allerdings ein Problem. Die Union geißelt in trauter Gemeinsamkeit mit AfD und FDP den Atomausstieg, den die noch amtierende Regierung im April 2023 finalisiert hat. Für verstockte, wenngleich größenwahnsinnige Unternehmer im Verbund mit deutschreaktionären Wutbürgern war es gleichsam der große Sündenfall, mit dem sich die Politik an der Wirtschaft vergangen habe. Seitdem geht es bekanntlich nur noch abwärts, die Preise steigen, die Unternehmen wandern ab statt zu investieren, die Automobilindustrie steckt fest in der Krise, nur die Aktienkurse steigen seltsamerweise unbeeindruckt.

Den vorläufigen Höhepunkt einer pausenlos anhaltenden pro-Atom-Kampagne markiert Elon Musks Wahlwerbung für die AfD. Eine angeblich verfehlte, “naive” Energiepolitik rangiert an dritter Stelle seiner Befunde für den todkranken Patienten Deutschland (an erster Stelle Bürokratie, an zweiter Migration). Musk lobt den “pragmatischen Ansatz” der AfD für Kernenergie, wobei er nicht vergisst, die Notwendigkeit von Batteriespeichern zu erwähnen, weil er sich ein Geschäft davon verspricht. Damit setzt er sich an die Spitze einer Legion von Lobbyisten, die in asozialen Netzwerken und Medien unermüdlich die Trommel für Atomenergie rühren. Stellvertretend seien ein paar Beispiele angeführt, ausgewählt mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die ihre Schadenfreude über jeden Tag Dunkelflaute kaum verhehlte, veröffentlichte im November eine Rede des Wirtschaftsveterans Hans-Werner Sinn, gehalten anlässlich der Entgegennahme des sehr wichtigen deutschen Mittelstandspreises. Auch Sinn sieht Deutschland in einer Krise, bei der es um Sein oder Nichtsein als “global tätige Wirtschaftsnation” gehe. Die wichtigste Ursache für diese misslichen Situation liege im Energiesektor. “Kein Land der Erde folgt Deutschland bei seinem Atomausstieg”, behauptet Sinn und irrt damit deutlich. Taiwan beispielsweise hat im letzten Jahr den fünften von seinen sechs Reaktoren stillgelegt.

Sinns auf den Atomausstieg bezogener Satz “Wir sind der Geisterfahrer auf der Autobahn” ist ganz im Tonfall Musks formuliert. Für den Volkswirtschaftler reicht es im Alter nur noch zum Volkstribun. Dass seine Eskapaden jeden Realitätsbezug verloren haben, zeigt sich, wenn er der Ampelregierung ökologischen Furor unterstellt: “Wie blindwütig die deutsche Politik voranschritt, sieht man daran, dass sie selbst noch während des Ukrainekrieges und nach der Zerstörung der deutsch-russischen Erdgasleitung weitere Kohlekraftwerke außer Betrieb nahm und die restlichen Atommeiler demolierte.” Die Einhaltung des Atomgesetzes und die Beachtung Jahrzehnte alter Beschlüsse gilt ihm bereits als blinde Wut, nur weil die Gesetzeslage ausnahmsweise nicht in seinen Kram passt. Hier haben wir ein klassisches Beispiel des volkswirtschaftlichen Verständnisses vom Rechtsstaat. Auf die “Demolierung” der AKWs kommen wir später noch zurück.

Subventionsabgreifer

Mit zeitweise täglich erscheinenden Meldungen über irgendwelche exotischen Nuklearprojekte, deren Namen schneller vergessen sind als sie gedruckt werden, versucht insbesondere die FAZ den Eindruck einer weltweiten nuklearen Renaissance zu wecken. Verfasst werden solche Artikel fast durchweg von Journalisten mit einem Studium der – Überraschung – Volkswirtschaft. Deswegen nutzt die Zeitung den Programmsprecher Energie des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), Walter Tromm, als fachkundigen Supervisor, jedenfalls darf er australische oder italienische Startups und andere Subventionsabgreifer unter dem Titel “Atom” gnädig kommentieren und einordnen. Das KIT-Zentrum Energie gehört nach eigener Einschätzung zu “Europas Spitze in der Energieforschung”, bahnbrechende Leistungen sind freilich bisher nicht bekannt geworden. Oder sie sind so wichtig, dass sie geheim gehalten werden müssen.

Wechseln wir ins Terrain der Politik. Um die AfD versammelt sich ein beachtliches Reservoir pensionierter Ingenieure, die ihr vierzig Jahre altes kerntechnisches Knowhow in einer Art Wiederholungszwang vortragen. Richtigerweise haben sie das Gefühl, dass ihre früheren Leistungen nicht gewürdigt werden. Hier wäre eine Stiftung hilfreich, welche die Pioniere des vergangenen Atomzeitalters mit Ehrenmedaillen, Plaketten und Orden an bunten Bändern überhäuft, damit sie eine Beschäftigung haben.

Atom, Wrestling, Tesla und milliardenschwerer Reichtum

Da dies leider versäumt wurde – man kümmert sich eben zu wenig um elementare menschliche Bedürfnisse -, dienten sich die nuklearen Altvorderen der AfD an, was auch kein Drama ist, denn hier findet zusammen, was zusammengehört. Bedenklich stimmt jedoch, dass diese Prinzengarde jene Jungrüden für sich einnehmen konnte, die eine hervorragende Expertise beim Bedienen von Computerspielen besitzen, sozusagen umgekehrt proportional zu ihren schulischen Leistungen. Diese Talente, denen altersbedingt – und das ist nun mal entscheidend – die Zukunft gehört, begeistern sich für Technik, Raumfahrt, Science Fiction, Superpower und körperliche Gewalt, also auch für Atom, Wrestling, Tesla und milliardenschweren Reichtum. Die Ärmsten, könnte man sagen, weil sie erstens an den Freuden des Lebens vorbeileben und zweitens früher oder später von Höckes Sturmtruppen abgeräumt werden. Aber sie richten beachtlichen Schaden an.

Im Buhlen um die Gunst solcher Wähler fährt die CDU ihre Spitzenkräfte auf, als da sind Jens Spahn (Bankkaufmann), Philipp Amthor (Studium der Rechtswissenschaft) und der rührige Carsten Linnemann (Betriebswirt). Man liegt wohl nicht falsch mit der Annahme, dass diese Nuklearexperten in ihrer Schulzeit das Fach Physik bei der ersten Gelegenheit abgewählt haben. Sei’s drum, jemand wie der CDU-Generalsekretär, der den Berliner Reichstag mit dem Präsidentenpalast von Tiflis verwechselte, weiß bestimmt, was bei einer Kernspaltung passiert. Wenn nicht, befragt er halt die künstliche Intelligenz. “Ich bin offen für Kernfusion”, sagt Linnemann mit stolz geschwellter Brust. Wer interessiert sich da noch für die Details?

Hass der Meute auf Merkel

Es gibt einige wenige Entscheidungen, die der rechte, längst mehrheitliche Flügel der CDU der früheren Kanzlerin Merkel nie verzeihen wird. Den größten Hass ihrer Partei zog sie 2015 mit der Aufnahme von Migranten auf sich, aber an zweiter Stelle folgt bereits der Beschluss zum Atomausstieg nach dem SuperGAU von Fukushima. Hier war eine konservative Parteichefin aus der Reihe getanzt – das duldet die Meute nicht. Folglich will die Union der Atomenergie wieder eine “bedeutende Rolle” zukommen lassen. Im Wahlprogramm von CDU/CSU heißt es:

“Dabei setzen wir auf die Forschung zu Kernenergie der vierten und fünften Generation, Small Modular Reactors und Fusionskraftwerken. Gleichzeitig streben wir schnellstmöglich eine fachliche Bestandsaufnahme an, ob angesichts des jeweiligen Rückbaustadiums eine Wiederaufnahme des Betriebs der zuletzt abgeschalteten Kernkraftwerke unter vertretbarem technischem und finanziellem Aufwand noch möglich ist.”

Bei beiden Zielen lohnt ein Blick ins Nachbarland Frankreich, der europäischen Atommacht. Dort hatte Präsident Macron 2021 die Fertigstellung eines ersten französischen Kleinreaktors (SMR) bis zum Ende des Jahrzehnts versprochen. Er nannte es “Réinventer le nucléaire” und stellte 1 Milliarde staatlicher Förderung in Aussicht, doch die Neuerfindung der Atomenergie ist in drei Jahren nicht vorangekommen. Beim SMR-Projekt des Elektrizitätsunternehmens EDF, genannt Nuward, wurde im vergangenen Juli ein komplettes Redesign beschlossen; ob die bisherigen Partner diesen Weg mitgehen, ist fraglich. Ferner hat die Regierung die Förderungswürdigkeit von zwölf weiteren SMR-Projekten prüfen lassen; nur zwei, höchstens vier davon sind nicht durchgefallen. Das Geld wurde natürlich trotzdem ausgegeben, und so wird es wohl auch hierzulande passieren – ohne dass irgendein Apostel der freien Marktwirtschaft daran Anstoß nehmen wird.

Es bleibt das Vorhaben, stillgelegte AKWs wieder in Betrieb zu nehmen. Das Kasperletheater, das der Öffentlichkeit hier vorgespielt wird, lässt sich am Beispiel des bayrischen AKW Isar-2 veranschaulichen. Es erhielt im März 2024 eine Rückbaugenehmigung durch Umweltminister Thorsten Glauber (Freie Wähler), also durch die bayrische Landesregierung. Das hindert Markus Söder, Chef dieser Landesregierung, nicht daran, “dringend einen Stopp des Rückbaus von Isar 2” zu fordern. Auch sein Vize und Energieminister, Hubert Aiwanger (Freie Wähler), befürwortet eine Wiederinbetriebnahme, aber anscheinend hört der Umweltminster nicht auf ihn und erst recht nicht auf Söder. Man kann der Berliner Ampel ja Chaos vorwerfen, aber was ist das denn? Während die Landesregierung anders spricht als sie handelt, zersägt der Betreiber von Isar-2, die Eon-Tochter PreussenElektra, unbeirrt den Primärkreislauf des Reaktors. Dabei weiß Jede*r, dass die CSU und PreussenElektra ziemlich beste Freunde sind, die sich durch nichts und niemanden auseinanderdividieren lassen.

Bayrische Landesregierung gleichzeitig dafür und dagegen

Um das bayrische Wirrwarr zu entflechten, müssen wir wiederum von Frankreich lernen. Dort waren Ende 2021 Korrosionsschäden im Rohrensystem von Reaktoren entdeckt worden. In den folgenden Monaten und Jahren wurden teilweise sehr tiefe und lange Risse an Schweißnähten von immer mehr Reaktoren entdeckt. Über die Hälfte des französischen Nuklearparks ist von diesen Schäden betroffen, darunter auch solche Reaktoren, die in Alter, Leistung und Design den letzten deutschen Meilern sehr ähnlich sind. Während in Frankreich aufwändige und langwierige Reparaturen vorgenommen werden, hat man in Deutschland derartige Probleme entschieden dementiert – freilich am Schreibtisch, nicht etwa nach Untersuchungen am Objekt. Denn die deutschen Reaktoren sollten ja ohnehin bald stillgelegt werden, wozu also noch die Mühe.

Bei einer Wiederinbetriebnahme würden die Kraftwerke allerdings auf Herz und Nieren geprüft werden. Dabei würde sich vielleicht – nein, ziemlich sicher – herausstellen, dass es um sie nicht besser bestellt ist als in Frankreich. Und dann würde man einräumen müssen, dass diese Hochrisikotechnologie in ihren letzten Betriebsjahren auf Sicht gefahren wurde, aber nicht nach Vorschrift. Was also tun? Schreddern! Die fraglichen Beweisstücke werden rasch entfernt – sie müssten ja ohnehin bei einer Wiederinbetriebnahme erneuert werden.

18 Reaktoren in China mit französischem Design

So sieht es mit der von Hans-Werner Sinn gegeißelten “Demolierung” aus. Sie geschieht nicht aus blinder Wut von Atomgegnern, sondern mit Bedacht der ehemaligen Betreiber. Atomgegner würden die stillgelegten AKWs lieber der internationalen Materialforschung zur Verfügung stellen. So könnte man bessere Erkenntnisse darüber erhalten, wie die Neutronenversprödung auf den Stahl einwirkt, womit natürlich die Frage verbunden ist, ob die üblich gewordenen Laufzeitverlängerungen von Atomanlagen vertretbar sind. Das wäre nicht nur für Frankreich, sondern auch für China interessant, wo achtzehn Atomreaktoren nach französischem Design errichtet wurden.

Der begonnene Abriss der AKWs macht eine erneute Inbetriebnahme nicht einfacher und schon gar nicht billiger. Vor der Realisierung der “bedeutenden Rolle”, die die Atomenergie wieder einnehmen soll, müssten beachtliche Probleme gelöst und qualifizierte Fachkräfte gefunden werden, die damit umgehen könnten. Die lassen sich auch nicht aus dem Hut zaubern, aber egal. Probiert’s halt mit künstlicher Intelligenz. Und findet dann ein Unternehmen, das zusammengeflickte alte Atomkraftwerke versichert.

Eines ist allerdings sicher, solche Fragen interessieren die derzeit wahlentscheidenden Mehrheiten nicht. Der Wähler sagt: Die Grünen haben sich einen Bonus für ihre Wärmepumpen genehmigt, jetzt will ich eine Förderung für meine Ölheizung. Und wenn ich die kriege, kann der Söder auch sein AKW haben. Das verstehen die Leute unter Gerechtigkeit.

Klimawandel muss mal Pause machen – für Deutschland

Weil die Verhältnisse so sind, wird eine Renuklearisierung kommen. Wir werden sie kritisieren, karikieren, dagegen protestieren und demonstrieren, bis neue Mehrheiten den Spuk wieder beenden. Im Ergebnis sind dann weitere wichtige Jahre beim Ausbau der erneuerbaren Energien, bei der Entwicklung von Speichertechnologien und einem intelligenten Stromnetz, bei neuen Antrieben, Heizungen und beim Energiesparen verloren gegangen. Es wäre schön, wenn der Klimawandel so lange innehalten würde.

 

1 In den USA gingen zuletzt (2023, 2024) zwei neue Reaktoren des AKW Vogtle mit jeweils 1,1 Gigawatt Leistung in Betrieb. Die Kosten werden mit 30 Milliarden Dollar angegeben. Im Probebetrieb befindet sich seit dem letzten September der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) in Flamanville mit 1,6 Gigawatt Leistung. Die Baukosten gibt Wikipedia mit 13 Mrd Euro an. Berücksichtigt man auch noch die Kreditkosten, kommt man auf 20 Mrd Euro.  

2 In der Bundesrepublik warten etwa 10 000 Tonnen abgebrannter Brennelement auf eine Endlagerung. Hinzu kommen weitere 6 500 Tonnen, die derzeit noch in den Wiederaufarbeitungsanlagen von Frankreich und UK lagern.

3 Der DAX-Kurs (Jahresende) stieg von 13 900 (2022) auf 19 900 (2024). Somit hat der Index in der bisher kurzen atomfreien Zeit der Bundesrepublik um 50% zugenommen. Dies hindert die wirtschaftsnahen Meinungsmacher nicht daran, Zeter und Mordio zu schreien.

Über Detlef zum Winkel / Gastautor:

Dipl.phys. Geb. 1949. 1967-1975 Studium der Physik, Diplomarbeit am Deutschen Elektronen-Synchroton (DESY); Lehrer an Hamburger Schulen; freier Autor; Arbeit in Bürgerinitiativen gegen Atomkraftwerke und gegen die Startbahn 18 West des Frankfurter Flughafens. Antifa. Seit 1991 Informatiker.