Trotz Mileis Kahlschlagpolitik treffen sich 80000 Frauen und Queers beim Plurinationalen Treffen in Argentinien
Einmal im Jahr wird eine Stadt in Argentinien zum Schauplatz von feministischen Protesten, Debatten, Performances und Party. Das 37. Plurinationale Treffen von Frauen und Queers fand im Oktober 2024 in San Salvador de Jujuy statt. Es ist die Hauptstadt der nördlichen Provinz Jujuy, die 2023 Schlagzeilen machte, weil sich die Einwohner*innen gegen eine undemokratische Verfassungsänderung wehrten. 80000 Feminist*innen unterstützten ihren Protest – und belagerten die Stadt.
Auf dem zentralen Platz vor dem Regierungspalast herrscht zwischen den vielen Verkaufsständen und Zelten der Teilnehmer*innen dichtes Gedränge. Verkauft werden vor allem Halstücher und Fahnen, mit dem Logo des Treffens und allen anderen gängigen Forderungen. Transparente und Plakate machen klar, dass die feministischen Bewegungen den Platz übernommen haben. Auch die ambulanten Straßenhändler haben sich der temporären Marktlage angepasst und bieten feministische Tücher an. In den Kneipen um den Platz sind kaum Männer zu sehen, dafür umso mehr Frauen und Queers. Selbst die Polizei hat fast nur nicht-männliches Personal auf die Straße geschickt und verhält sich dezent. Was für ein Moment! Rund um das Zentrum finden Performances und Kulturereignisse statt. Wenn wir uns in abgelegeneren Straßen begegnen und als Teilnehmer*innen erkennen, nicken wir uns komplizinnenhaft zu.
Das erste „Nationale Frauentreffen“ fand 1986 in Buenos Aires statt, angestoßen von Frauen, die im Vorjahr am von der UNO organisierten Internationalen Frauentreffen in Kenia teilgenommen hatten. Seitdem sind die Treffen nicht nur größer, sondern auch proletarischer, indigener und diverser geworden. Nach kontroversen Diskussionen wurde das Treffen 2022 umbenannt in „Plurinationales Treffen von Frauen, Lesben, Travestis, Trans und Nicht-Binären“. Kurz: „el Pluri“. Es gab schon größere Treffen. 2023 kamen 100000 nach Bariloche in Patagonien, und 2019 hatten in La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, 200000 am Treffen teilgenommen. Bei der Demo wurde damals sogar eine halbe Million gezählt. Aber angesichts der schwierigen Lage im Land ist das Organisationskomitee mit der Beteiligung in Jujuy zufrieden. „Was für ein Moment! Trotz allem machen wir das Treffen!“ Dieser Gesang ist immer wieder zu hören. „Trotz allem“ – damit ist vor allem der seit Ende 2023 amtierende Präsident Milei gemeint. Das Treffen wird zum antifaschistischen Aufschrei gegen diesen Rechtsradikalen. Er ist erklärter Feind von Frauen und Queers, und seine Politik des sozialen Kahlschlags hat noch mehr Menschen in Argentinien in Armut abstürzen lassen. Viele konnten die Kosten für die Fahrt in den Norden nicht mehr stemmen.
Jujuy: Extraktivismus und Femizide
Jujuy wurde aus zwei Gründen für das Pluri ausgewählt. Es ist eine der Provinzen mit den meisten Femiziden, Morden an Frauen, weil sie Frauen sind. 2020 wurden hier in 40 Tagen fünf Femizide verübt. Das ist fast einer pro Woche, in einer Provinz mit gerade einmal 800000 Einwohner*innen. Bei der Auftaktveranstaltung spricht die Mutter von Iara, die damals eine Woche verschwunden war, bis sie ermordet aufgefunden wurde. Iara ist zum Symbol geworden für machistische Gewalt, die Untätigkeit der Justiz und die Komplizenschaft der Polizei.
Der zweite Grund war der Aufstand in Jujuy 2023. Bewohner*innen protestierten gegen eine undemokratische Verfassungsänderung, die den Lithiumabbau erleichtern sollte. Der Aufstand wurde mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Die zentrale Bühne des Treffens steht auf einem Parkplatz am Flussufer, genau dort, wo damals mehr als hundert Demonstrierende festgenommen wurden. Die Verfahren gegen sie laufen während des Treffens immer noch, und kurz danach wird gegen 19 Personen Anklage erhoben. Diese Repression in der Provinz gilt als Modell für das, was Milei im ganzen Land durchsetzen will. Um die schlechten Energien von diesem Ort zu vertreiben, zelebrieren indigene Gemeinschaften bei der Auftaktveranstaltung ein Räucherritual. Bei den Reden geht es nicht nur um feministische Forderungen im engeren Sinn, sondern auch um die Verteidigung der Ressourcen, der Erde und der Territorien.
Am Freitagnachmittag trifft sich vor dem Regierungspalast eine große Menge zum „Pañuelazo“. Diese Aktion, bei der die Teilnehmer*innen die grünen Tücher (pañuelos) hochhalten, die für das Recht auf Abtreibung stehen, fand 2018 zum ersten Mal am Kongress in Buenos Aires statt. Ende 2020 konnte endlich das Gesetz zur Entkriminalisierung von Abtreibungen durchgesetzt werden. Milei möchte es wieder kippen. Das ist ihm noch nicht gelungen, aber wie in vielen anderen Bereichen verhindert er die Umsetzung, indem er die Mittel streicht. Abtreibungsmedikamente sind fast nicht mehr zu bekommen. Die Nationalregierung kauft keine mehr ein und die Provinzregierungen übernehmen die Verantwortung nicht.
Freitagabend findet die erste Großdemo statt, gegen Morde an Lesben und trans Menschen. Die Teilnahme von Trans und Travestis war bei den Nationalen Frauentreffen lange umstritten. Erst 2013 wurden sie mit eigenen Workshops zugelassen. Seit 2016 gibt es die eigene Demo, mit wachsender Beteiligung – allerdings ist sie immer noch um einiges kleiner als die zentrale Demo des Pluri am Samstag. Der Begriff Lesbizid wurde dieses Jahr in das Demo-Motto aufgenommen. Am 5. Mai 2024 wurden vier Lesben Opfer einer Hassattacke. Der Täter hatte einen Molotow-Cocktail in ihre Notunterkunft im Stadtteil Barracas von Buenos Aires geworfen. Andrea, Pamela und Roxana starben. Bei den Demos erinnern zahlreiche Schilder an dieses Verbrechen.
Kurz vor der Demo: wieder ein Femizid
Ein Herzstück des Pluri sind die zweitägigen Workshops. In 16 Themenblöcken werden 103 Workshops angeboten, die in Schulen und ähnlichen Räumen stattfinden. Diesmal gibt es auch besetzte Uniräume als Tagungsorte. Kurz vor dem Treffen in Jujuy hatte Milei mit einem Veto ein Gesetz verhindert, das die Finanzierung der Universitäten sichern sollte. Im ganzen Land wurden daraufhin Fakultäten besetzt. Einige angereiste Besetzer*innen nutzen das Pluri für ein Vernetzungstreffen.
Auch die indigenen Frauen und Queers aus Abya Yala (so der antikoloniale Name des Kontinents) veranstalten ihr eigenes Treffen am Ufer des Flusses Xibi Xibi. Sie sprechen darüber, wie sie ihre Territorien und das Wasser gegen den Extraktivismus verteidigen können.
Am Samstagabend findet die zentrale Demonstration des Treffens statt. Sie wird von einem schrecklichen Ereignis überschattet, das kurz vor Beginn bekannt wird. Wieder ein Femizid in Jujuy: Die 68-jährige Natividad Cañizares ist von ihrem Ex-Ehemann, einem ehemaligen Polizisten, erstochen worden.
Auf der sechs Kilometer langen Strecke zum Kundgebungsplatz zeigt sich die ganze Breite der Bewegung: Unabhängige Gruppen und Parteigruppierungen. Die rosa Perücken der Socorristas en Red, die solidarisch bei Abtreibungen helfen. Peronist*innen mit riesigen Bildern von Evita Perón. Arbeiter*innen mit Gewerkschaftsfahnen verschiedener Branchen und Betriebe. Justizangestellte, die sich als „Transfeministische Gewerkschafter*innen“ präsentieren (wo gibt es das außer in Argentinien?). „Feminismo villero“, Feminismus aus den Armenvierteln, den die Organisation La Poderosa vorstellt. Sexarbeiter*innen mit ihrer Gewerkschaft AMMAR. Die Koordination für feministischen Fußball. Las Fuegas, freiwillige Feuerwehrbrigaden, die in Sierras Chicas (Córdoba) die Wälder schützen und die absichtlich gelegten Waldbrände der Immobilienwirtschaft bekämpfen. Und so viele andere.
Abends enden die Aktivitäten mit großen Festen auf dem zentralen Kundgebungsplatz. Am Freitag gibt es ein Festival mit Tinkus, rituellen Kampftänzen aus Bolivien. Und Samstag ist Party. „Glücklich zu sein ist unsere Rache“, beschreibt das Medienkollektiv LaVaca die Stimmung.
Auf der Abschlusskundgebung am Sonntag muss noch der Ort für das Pluri 2025 festgelegt werden. Angebote, das Treffen zu organisieren, gibt es aus Buenos Aires und der Provinz Corrientes. Entschieden wird mit dem umstrittenen „Applausometer“: Die Stadt, deren Vorschlag mehr Applaus bekommt, gewinnt. Für Buenos Aires spricht, dass dort mit der Regierung Milei der Hauptfeind sitzt, der mit der ganzen Kraft der feministischen Bewegung konfrontiert werden soll. Einige Befürworter*innen sorgen für unschöne Szenen, als sie versuchen, sich mit Pöbeleien und Geschubse einen besseren Platz vor der Bühne zu sichern. Corrientes ist eine arme Grenzprovinz im Nordosten, mit rechter Regierung, in der besonders viel Menschenhandel stattfindet. Der Fall des seit Juni 2024 verschwundenen fünfjährigen Loan ist landesweit bekannt. Der Applaus ist eindeutig: 2025 geht es in Corrientes weiter. Trotz allem.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 482 Feb. 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.
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