Der mexikanische Konzeptkünstler Mario García Torres schaut in seiner Ausstellung „History of Influence“ im Fridericianum Kassel auf die Vergangenheit der Kunst, auch die der documenta. Daraus zieht er so trocken wie humoristisch seine eigene Erzählung

Was hat David Bowie mit den Pet Shop Boys, Electro mit Industrial und was hat Cardi B mit Bad Bunny zu tun? Wer im Fridericianum Kassel vor den weißen Schautafeln mit Diagrammen steht und sich einen Reim auf die Zusammenhänge zwischen Musiker:innen, Tänzen oder Genres zu machen versucht, die mit einem Gewirr von Pfeilen und Linien verbunden sind, dem dämmert: Die scheinbare Übersichten auf Mario García Torres’ schwarz-weißen Siebdrucktafeln stellen keine endgültige Musikgeschichte dar. Wer gleich in Lernhaltung verfällt, wenn etwas im Museum nach Schule aussieht, ist in diesem Institut falsch.

Auf den Tafeln hat der 1975 im mexikanischen Monclova geborene Künstler seine eigene musikalische Sozialisation aufgezeichnet, sein individuelles Universum der Wechsel­wirkungen zwischen Musikrichtungen und Interpret:innen, die ihn im Lauf seines Lebens geprägt haben. Eine finale Lektion gibt es hier nicht. Was aber bei den Betrachtenden hängen bleibt, ist ein Gefühl für Kanon, Einflüsse und Aneignungen.

Torres’ jüngste, in den letzten zwei Jahren entstandene, Arbeit wirkt wie ein Muster­beispiel der Konzeptkunst. Sie enthüllt zugleich das künst­lerische ­Selbstverständnis des 1975 ­Geborenen. „Kunst ist für mich kein Soloprojekt“, erklärt der Mann, der gern Partikel des Werks historischer Künst­­le­r:in­nen aus der Arte Povera oder der ­Konzeptkunst zu neuen ­Geschichten formt, „Kunst ist eine Mixtur aller Einflüsse“.

Wenn Torres seine Ausstellung „A History Of Influence“ nennt, ist damit nicht Unterordnung oder Unterwerfung gemeint, sondern eher das kreative Aufsaugen und Sich-Auseinandersetzen mit dem Kontext, in den jeder Mensch gestellt ist. Historische Quellen derart einfallsreich auszuschöpfen, muss nicht öde, sondern kann humorvoll sein. Die historischen Fotos des Schweizer Fotografen Balthasar Burkhard von dem Künstler Mario Merz, die Torres im Archiv des legendären Kurators Harald Szeemann im Getty-Center in Los Angeles aufgestöbert hat, hat der Künstler animiert und mit Techno-Sounds überlegt. Auf der wandgroßen Installation im Mittelsaal des Fridericianum tanzt der Altmeister der Arte Povera, Teilnehmer der documenta-Schauen 5 bis 7 und der documenta 9, in der heute nicht mehr existierenden Kasseler Bar „Zur Standuhr“.

Mit der documenta-Stadt verbindet Torres eine ganz eigene Geschichte. Im selben Saal wie bei der documenta 13, an der er 2012 teilnahm, zeigt er noch einmal seine Arbeit „¿Alguna vez has visto la nieve caer? – Haben Sie jemals den Schnee gesehen?“ In dem 74-minütigen Film-Essay, halb Dokumentation, halb Fiktion, dokumentiert er seine jahrelange Suche nach dem geheimnisvollen „One Hotel“, das der Arte-Povera-Künstler Ali­ghie­ro Boetti von 1972 bis 1979 im afghanischen Kabul betrieb, wo er auch einige seiner berühmten Bildteppiche „Mappa“ fertigen ließ. Als ­Carolyn Christov-Bakargiev, die damalige documenta-Chefin, von seiner Recherche hörte, lud sie ihn ein und ließ die Herberge renovieren. Es war ein historischer ­Moment in der Geschichte der documenta, als kurz nach der d13-Eröffnung in Kassel Torres in dem winzigen Haus in Kabul eine Ausstellung eröffnete.

Dass es ihm mit dieser Wiederaufnahme eines alten Motivs nicht um Nostalgie geht, zeigt er mit einer mithilfe von KI produzierten Zeichnung des leeren Hinterhofs des One Hotel. Er ruft den Zusammenhang von Konzeptkunst und figurativer Malerei und die Abwesenheit Boettis auf.

Auf der wandgroßen Installation tanzt der Altmeister der Arte Povera in einer Kasseler Bar

2025 feiert die documenta nach der mühsamen Auf­deckung der NS-Kontinuitätslinien der ersten documenta-Schauen und dem Antisemitismusstreit vor drei Jahren einen schwierigen 70. Geburtstag.

Torres’ Ausstellung komplettiert die kritische Aufarbeitung der „Weltkunstschau“ derzeit um die Erinnerung an ihre unbestreitbaren Verdienste. Deswegen hat Torres vor seine Diagramme die gleichen weißen, heute ikonischen Plastikvorhänge gehängt, mit denen Arnold Bode 1955 die Innenräume des ausgebombten Fridericianums auskleidete. Sollten Kunst­lieb­ha­be­r:in­nen einmal ihre „History Of Influence“ in Diagramme fassen: die heute umstrittene documenta zählte gewiss dazu.

Mario García Torres: A History Of Influence. Fridericianum, ­Kassel, bis 27. Juli. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).