Esskultur(en) in Lateinamerika
Die südamerikanische Küche ist vielseitig und superlecker. Eigentlich ist es komisch, dass in der deutschen Gastronomie vor allem die Tex-Mex-Küche vertreten ist, die Mexiko und die US-Südstaaten kombiniert. Höchste Zeit also, den kulinarischen Köstlichkeiten Brasiliens, Kolumbiens oder Guatemalas den Weg zu ebnen – oder? Ja und nein. Schließlich ist die gastronomische Geschichte Lateinamerikas nicht nur eine Geschichte von Transformation und Genuss, sondern noch mehr eine Geschichte von Vorurteilen und Verlust, von Hunger und Gift, von Ausbeutung und Gewalt.
Esskultur ist ein missverständlicher Begriff. Früher verstand man darunter die idealisierte Ernährung der Oberschicht: barocke Festmahle, preisgekrönte Restaurants, die französische Haute Cuisine. Schildkrötensuppe und Froschschenkel, das war Esskultur, Erbseneintopf oder Frikadellen nicht. Das hat sich geändert. Unter Ess- beziehungsweise Ernährungskultur werden, zumindest in der Kulturwissenschaft, alle Praxen verstanden, die mit der Ernährung zu tun haben, von Ackerbau und Viehzucht, der bäuerlichen Kultur und industrieller Produktion, von Handel und Verkauf zu Einkauf und Zubereitung, jedoch vor allem der Verzehr. All dies folgt in der Regel kulturellen Normen, ist historisch tradiert und symbolisch aufgeladen. Zudem waren esskulturelle und religiöse Sphären in den frühen Kulturen verschränkt. Essen steht für Heimat und Sehnsucht, für Wertigkeiten und Abwertungen. Wie sonst ist zu erklären, dass italienische Ravioli einen guten Ruf genießen, die polnischen oder russischen Piroggen aber kaum? Neben dem, was gegessen wird, ist aber vor allem die Verzehrsituation wichtig. Beim Essen manifestieren sich Gemeinschaft ebenso wie Hierarchie. Während sich Ersteres durch gemeinschaftliches Teilen und Essen der vorhandenen Speisen beschreiben lässt, werden die Hierarchien nicht nur im Essen deutlich, etwa das bessere oder größere Fleischstück zu bekommen, sondern auch daran, wer mit am Tisch sitzt oder wer sprechen darf. Vom Rheinland bis in die argentinische Pampa bestehen solche Muster.
Vom Paradies und seiner Vernichtung: Das präkolumbianische Amerika
Vor über 20000 Jahren wanderten Vertreter*innen indigener nordasiatischer Gruppen über Sibirien auf den amerikanischen Kontinent und erschlossen ihn bald bis hinunter nach Feuerland. Analog zu den Entwicklungen im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, am nordafrikanischen Nil oder auch zur Indus-Kultur entwickelten sich nicht nur komplexe Hochkulturen mit Staatlichkeit, Religion und Geld- und Handelswirtschaft, sondern auch hocheffiziente Agrarsysteme. Die trafen allerdings vor allem im Süden des amerikanischen Kontinents auf ganz andere Vorbedingungen. Hier bildeten nicht die frühen Getreide Emmer und Urkorn und die späteren Derivate Weizen und Roggen die Grundlage der neuen Bauernkulturen, sondern Kartoffel und Mais, die sich vielfältiger anbauen lassen und je nachdem mehr Kalorien pro Flächeneinheit produzieren. Damit war die Grundlage für vergleichsweise großen Reichtum gelegt. Und auch die Geschmacksrichtungen konnten sich ganz anders entwickeln: Kakao, Tomaten, Avocado und die scharfen Chilischoten schufen ein ganz anderes kulinarisches Grundkonzept als die damals öde europäische Küche: schärfer, süßer, weicher, reichhaltiger und besser verdaulich. In Europa aß man im Mittelalter bis zum Columbian Exchange robust, im vorkolonialen Amerika filigran, vor allem nachdem die Kulturen der Inka, Moche, Nazca oder Chachapoya ihre Blüte erreicht hatten.
Trotz aller Unterschiede gab es Gemeinsamkeiten. Mais bildet die Basis für stärkehaltige Gerichte oder auch das fermentierte Maisgetränk Chicha, die aus den Anden stammenden Kartoffeln, von denen es etwa 3000 Arten gibt, waren vielfältig verwendbar und in gefriergetrockneter Form (Chuño) gut haltbar, die proteinreichen Körner Quinoa und Amaranth ergänzten den Speiseplan und Alpakas und Lamas waren wie die europäischen Pferde Arbeitstiere sowie Lieferanten für Fleisch und Wolle. Das komplexe Agrar- und Ernährungssystem war den europäischen vormodernen Formen insofern überlegen, als es vielfältiger war, genussvoller und vor allem auch im Hochgebirge einsetzbar. Und das alte Südamerika hatte noch einen Pfeil im kulinarischen Köcher: die Blätter des Coca-Strauches, die je nach Anwendung nicht nur eine stabile Calciumversorgung garantieren, sondern auch lokalbetäubende und psychotrope Wirkungen entfalten.
Auch die vorkolumbianischen Gesellschaften wurden von Krisen und Kriegen heimgesucht, sie waren hierarchisch und oft hungergeplagt. Aber diese Kulturen verfügten über weit bessere agrarische Voraussetzungen, um eine ausreichende, vielfältige und genussvolle (und damit gesellige) Esskultur zu entwickeln. Wenn der Topos vom dunklen und dumpfen Mittelalter für Europa zutrifft (in Sachen Essen ist das so), können wir zeitgleich von einem hellen und kulinarischen Südamerika ausgehen.
Kolonisierung als kulinarische Einbahnstraße
Im Jahr 1492 erreichte eine europäische Flotte unter der Führung von Christoph Kolumbus die dem amerikanischen Kontinent vorgelagerten Bahamas. Damit war der Startschuss gegeben für eine dauerhafte Kolonisierung und Besiedlung des amerikanischen Doppelkontinents durch Europäer*innen, der sogenannte Columbian Exchange. Der Profiteur dieses Austauschs war Europa. Nicht nur Gold und Silber machten die alte Welt reich, sondern vor allem Kartoffel und Mais. Sie verhalfen der europäischen Landwirtschaft zu enormen Ertragssteigerungen, reduzierten den Hunger und ließen die Bevölkerung wachsen. Tomaten und Tabak, Coca und Kakao (mit Chili und Gewürzen das heilige „Getränk der Götter“, gleichzeitig als Zahlungsmittel verwendet) waren Dreingaben. Und was bekam das kulinarisch überlegene, aber technologisch unterlegene Südamerika? Feuerwaffen, Pferde, Bier, Wein und Schnaps. Das entlarvt den Columbian Exchange zunächst als Einbahnstraße. Der Feldzug gegen die indigenen Menschen und Kulturen war erbarmungslos. Systematische Unterwerfungen und Ermordungen drängten viele vorkoloniale Elemente der alten Esskultur zurück und überlagerten sie und in der Karibik oder in Patagonien wurden mit den Indigenen auch deren kulinarische Traditionen ausgelöscht. Für die neue agroindustrielle Sklavenhaltergesellschaft, die Europa zunächst mit Rohrzucker, später mit Kaffee und Fleisch überschwemmte, wurden weite Gebiete gerodet und in Farmland umgewandelt sowie Millionen Afrikaner*innen zur Zwangsarbeit verschleppt. Wo die koloniale Plantagenwirtschaft Raum griff, entstand etwas Neues: Die indigenen Esskulturen verschränkten sich mit jenen der afrikanischen Sklav*innen.
Besonders kreativ wurde die afrobrasilianische Küche. Gerichte wie Acarajé (frittierte Fladen aus Schwarzaugenbohnenteig und unterschiedlichen Füllungen), stark beeinflusst von der westafrikanischen Yoruba-Kultur, oder Vatapá (ein cremiger Eintopf aus Brot, Shrimps, Kokosmilch, Erdnüssen und Palmöl) prägten die Alltagskost. In den Anden nahmen die Kolonialreiche die fruchtbaren Flächen des Tieflands in Besitz, während die angestammte Bevölkerung in unwirtliche Bergregionen abgedrängt wurde, die an karge Böden und große Höhe angepasst war. Pachamanca zum Beispiel war ein im Erdofen zubereitetes Gericht, dem Fleisch, Kartoffeln, Mais und Kräuter, oder was gerade verfügbar war, hinzugefügt wurden. All diesen Mustern war gemein, dass die meisten Menschen immer wieder über längere Phasen hinweg kalorienunterversorgt waren.
Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wurde in Brasilien in großem Stil Zuckerrohr angebaut. Die Arbeitsbedingungen für die Sklav*innen waren mörderisch, die Ernährung katastrophal, während Europa nun mit Zucker versorgt, später davon überschwemmt wurde. Weiter im Süden, in Uruguay und Argentinien, gab es ein ähnliches Muster: Der Export von erst gesalzenem, seit den 1880er-Jahren gekühltem Fleisch drückte den Ländern einen monokulturellen Stempel auf.
Gegenwart und Zukunft
Mit dem Ende der Kolonialherrschaft erreichten die lateinamerikanischen Esskulturen ruhigeres Fahrwasser. Sie führten indigene, afrikanische und europäische Muster zu einer oft harmonischen Synthese, die aber abhängig von der wirtschaftlichen Konjunktur blieb. Argentinien erlebte im frühen 20. Jahrhundert ein Wirtschaftswunder; Buenos Aires wurde zum Vorposten einer europäisch-südamerikanischen Avantgarde. Im Kalten Krieg unterstützen die USA Diktaturen, etwa in Paraguay, Chile, Argentinien. Die Exportorientierung nahm zu, die Landbevölkerung verarmte, das Essen wurde eintöniger.
Heute haben im Vergleich zu den Einkommen gesunkene Lebensmittelpreise dazu geführt, dass der Hunger zurückgedrängt wurde, wenngleich enorme soziale Ungleichheiten samt Mangelernährung weiterbestehen. Südamerikanisches Essen ist zwar zunehmend süß, Fertigprodukte sind auf dem Vormarsch und Übergewicht ist ein Massenphänomen, aber die Küche ist stets unverwechselbar. Weil Lateinamerika immer noch ein Kontinent ist, auf dem das Leben vermehrt in der Gruppe (Familie, Nachbarschaft etc.) stattfindet, sind Essen und Feiern oft synonym. Lateinamerika hat Europa nachhaltig geprägt, durch Kartoffel, Mais und Schokolade sowie die Agrarerzeugnisse Zucker, Kaffee und Fleisch. Die lateinamerikanische Küche hat dagegen deutlich weniger Exporterfolge vorzuweisen. Außerhalb der Iberischen Halbinsel, wo Empanada, Arepa oder der Eintopf Sancocho verbreitet sind, bleibt südamerikanisches Essen in der sozialen Nische der Migrierten. Europa ist eben geschmackskonservativ. Und die besondere Eigenheit südamerikanischen Essens, nämlich gemeinsames und geselliges Kochen in Partystimmung, das ist Europa oft zuwider.
Die lateinamerikanische Küche ist vielfältig, innovativ, traditionell und kulinarisch großartig, dabei auch melancholisch. Kein Wunder, bei den Geschichten, die sie zu erzählen hat! Ihre große Zeit in Europa kommt aber erst noch.
Der Autor ist Professor für Vergleichende Kulturwissenschaften an der Universität Regensburg. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 487 Juli/Aug. 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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