In der grandiosen Inszenierung von Tschechows Ivanow am Bochumer Schauspielhaus unter der Regie von Johan Simons spricht der brillante Jens Harzer seine Verzweiflung sich selbst an den Kopf fassend, fast schlagend, mit der keine Antwort erwartenden Frage aus: Was ist das nur? Was ist das nur? Ivanow versteht sich selbst und die Welt nicht mehr. Am Schluss der Tragödie sagt Ivanow, man müsse wissen, wann man zu gehen habe und erschießt sich.

Diese Zeilen können und wollen der Komplexität des Stücks nicht gerecht werden, sondern nur eine Annäherung an die Bedeutung dieser einen Frage für ein mögliches Verständnis der Geschichte und Geschichten unserer Zeit versuchen. Was ist das nur, das die Gewissheiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinwegfegt, als hätte es sie nie gegeben? Stabile Demokratien in Europa und den USA, Frieden und Verständigung zwischen Ost und West. Das Zeitalter des Lichts war im 19. und 20. Jahrhundert mit kolonialen Völkermorden, zwei Weltkriegen, Holocaust, Atombombe und Chemiewaffen nüchtern betrachtet wahrscheinlich schon eine Illusion. Eine schöne Idee für eine kleine Minderheit der Menschen auf diesem Planeten. Rückblickend jedenfalls nicht mehr als eine kurze Epoche mit keinesfalls selbstverständlichen Errungenschaften. Wer in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren ist, kennt nichts anderes und gerät leicht in Versuchung, die Zeit seines Lebens als Normalfall zu betrachten, was aber historisch gesehen natürlich nicht der Fall ist.

Der Mensch hat im Laufe seiner evolutionären Entwicklung viele Fähigkeiten entwickelt, die ihm scheinbar grenzenlose Freiheit und Macht verliehen haben. Schaut man sich die Geschichte ausgestorbener Lebewesen an, kann einem der Verdacht aufkommen, dass meist nicht die vermeintlichen Schwächen sondern die tatsächliche Stärken schuld am Untergang der jeweiligen Spezies waren. Die gängige Theorie für das Aussterben der Dinosaurier vor ca. 66 Millionen Jahren ist die durch einen gigantischen Asteroideneinschlag verursachte Klimakatastrophe und die damit bewirkte massive Veränderung der Lebensbedingungen auf der Erde.

Die großen und starken Dinos starben aus, während andere Lebewesen sich anpassen und so überleben konnten. Die Dinos waren einfach zu groß.

Die Menschheit geht gerade einen anderen Weg, als den der Anpassung. Die Gier nach immer mehr von allem, grenzenlose Technikgläubigkeit und ungebremste Allmachtsfantasien scheinen den Blick darauf immer mehr zu vernebeln, worauf es im Leben und zum Überleben ankommt. Selbstmord ist auf jeden Fall nicht die Lösung.
Weder individuell noch kollektiv.

Der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal schrieb lange vor Tschechow Mitte des 17. Jahrhunderts: Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen (Pensées).

Richtig Fahrt aufgenommen hat dieses Unglück mit der Erfindung des Internets, das es dem Menschen möglich macht, in seinem Zimmer sitzen zu bleiben und von dort aus seine Mitmenschen zu terrorisieren und sich freiwillig terrorisieren zu lassen. Die Stärke des Menschen ist seine Fähigkeit zu logischem Denken und Reflektion. Sein Gehirn ist ein absolutes Wunder.

Immerhin erlaubt diese Stärke, sich für verschiedene Möglichkeiten entscheiden zu können. Wir können uns also auch dafür entscheiden, ruhig nebeneinander zu sitzen und uns nicht gegenseitig mit echten oder falschen Neuigkeiten zu malträtieren. Wir tun es meist jedoch nicht.

Zurück zur Ausgangsfrage: Was ist das nur? Vielleicht nur ein genetischer Defekt, der den Menschen den Ausweg versperrt. Die bodenlose Angst vor der dunklen Einsamkeit am Ende des Lebens.

Vielleicht ist es gerade diese Angst, die ironischerweise Menschen dazu treibt, während ihres Lebens zu vergessen, dass sie auf diesem Planeten in einer Schicksalsgemeinschaft leben, statt genau das Gegenteil von dem zu tun, was nötig ist.

Dr. jur. Hanspeter Knirsch, Jahrgang 1950, war Mitglied der Deutschen Jungdemokraten, deren Bundesvorsitzender er 1976/77 war. Er war Mitglied der FDP, die er anlässlich des Koalitionsbruchs 1982 verließ. Er bekleidete verschiedene berufliche Funktionen im kommunalen Bereich. So war er u. a. von 1988 bis 1996 Stadtdirektor in Emsdetten, wo er heute noch lebt und als Rechtsanwalt tätig ist. Er ist Autor zahlreicher Fachpublikationen im kommunalrechtlichen Bereich.

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