Wie und warum stellt Dr. Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach mit richtigen Zahlen falsche Behauptungen auf?

I.

Dr. Thomas Petersen ist Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach. 2009/2010 war er Präsident der internationalen Fachgesellschaft „World Association for Public Opinion Research“ (WAPOR). Immer wieder schreibt er in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über die monatlichen Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach, zuletzt am 21. August 2025. In diesem Artikel stellt er dar, welche Änderungen in Wirtschaft und Sozialsystemen die Menschen in Deutschland erwarten und welche dieser Änderungen sie „akzeptabel“ finden.

Dr. Petersen ist ein Mann, der bei vielen Gelegenheiten auf die Bedeutung empirischer Sozialforschung hinweist und darauf, wie verlässlich die Ergebnisse sie sind. In dem von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Jugendmagazin „fluter“ erklärt er im Februar 2025:

„Für mich ist es ein Privileg, Meinungsforscher zu sein, denn wir haben unsere eigene Informationsquelle. Wir können herausfinden, was die Menschen denken und fühlen, was sie umtreibt, und wie sie sich verhalten, ohne dabei auf die Interpretationen von Journalisten oder anderen Beobachtern angewiesen zu sein, die die Lage aus ihrer subjektiven Sicht beschreiben.“

Auch im Februar dieses Jahres hat er im digitalen Diskussionsformat des HANDWERKNRW „#hum12“ erklärt, anders als Politik und Medien „verfüge die Umfrageforschung über ein wissenschaftlich erprobtes Instrument, aus dem das Volk selbst spreche – und das gerade deshalb sehr verlässlich sei.“

Gemessen an diesen von ihm selber formulierten Anforderungen ist es mehr als bemerkenswert, was Dr. Petersen in seinem Artikel in der FAZ vom 21. August schreibt.

Man kann getrost unterstellen, dass das Allensbacher Institut methodisch sauber arbeitet. Die Zahlen werden korrekt sein. Was aber macht Dr. Petersen mit ihnen?

II.

Allensbach hat in seiner monatlichen Befragung für die FAZ  jeweils zwei Fragen zu sechs  Themen gestellt:

„Was wird auf Deutschland zukommen?

Was davon finden Sie akzeptabel?“

Das ist eine doppelte Fragestellung, die interessante Ergebnisse verspricht. So ist es auch.

84 Prozent der Befragten sehen eine „Anhebung des Renteneintrittsalters“ auf Deutschland zukommen. Nur 23 Prozent halten das für „akzeptabel“.

78 Prozent rechnen damit, dass es „in Zukunft weniger Rente“ geben wird. Nur 7 Prozent halten das für „akzeptabel“.

58 Prozent der Befragten rechnen damit, dass die „Qualität des Gesundheitswesens sinkt“. Nur 5 Prozent halten das für „akzeptabel“.

57 Prozent rechnen damit, dass der „Staat Leistungen ein(schränkt)“. Nur 33 Prozent halten das für „akzeptabel“.

55 Prozent rechnen mit der „Einschränkung sozialer Absicherung“. Nur 15 Prozent halten das für „akzeptabel“.

50 Prozent rechnen mit einer „längere(n) Wochenarbeitszeit“. Nur 23 Prozent halten das für „akzeptabel“.

Das sind bemerkenswerte Ergebnisse, die eine Grundlage sein könnten darüber nachzudenken und öffentlich darüber zu sprechen, was es bedeutet, wenn die Erwartungen der Menschen über künftige Entwicklungen in wichtigen Bereichen so weit von dem weg sind, was sie für akzeptabel halten. Grosse Mehrheiten lehnen ab, was sie kommen sehen.

Was heisst das für das Vertrauen in politische Institutionen und in politisch Verantwortliche?

Was bedeutet das für das praktische politische Handeln von Regierung und Opposition?

Was bedeutet das für die öffentliche Diskussion und die veröffentlichte Meinung?

II.

Dr. Petersen stellt sich diese Fragen nicht. Stattdessen interpretiert er die Unterschiede zwischen dem, was die Menschen auf sich zukommen sehen und dem, was sie für  akzeptabel halten, höchst eigenwillig.

Wenn 84 Prozent der Befragten sagen, die Anhebung des Renteneintrittsalters werde kommen. aber nur 23 Prozent ein höheres Renteneintrittsalter für „akzeptabel“ halten, dann behauptet Dr. Petersen : „Die Bevölkerung erkennt durchaus, was notwendig wäre, um das Sozialsystem zu stabilisieren, doch sie weigert sich, die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis  zu akzeptieren.“

Zusammenfassend stellt Dr. Petersen fest: „Es gibt einen auffallenden Kontrast zwischen der weitverbreiteten Erkenntnis, dass in der Wirtschaft und bei den Sozialsystemen grundlegende Änderungen vorgenommen werden müssen, und der Bereitschaft eben diese Änderungen zu akzeptieren.“

Diese Aussagen haben nichts mit den Ergebnissen der Allensbach-Umfrage zu tun. Die Menschen sind ja nicht danach gefragt worden, ob aus ihrer Sicht das Renteneintrittsalter angehoben werden müsse oder ob die Qualität der Gesundheitsversorgung sinken müsse. Sie wurden danach gefragt, was sie für die Zukunft erwarten, womit sie rechnen. Dann wurden sie gefragt, ob sie das, womit sie rechnen, für akzeptabel halten.

Ob grundlegende Änderungen in Wirtschaft und bei den Sozialsystemen nötig sind, danach hat Allensbach gar nicht gefragt. Dr. Petersen tut aber so als ob.

Das Verbot, Gewalt anzuwenden sollte nicht nur gegenüber Menschen und Sachen gelten, sondern auch für den Umgang mit Zahlen. Dr. Petersen tut den Zahlen Gewalt an. Was er behauptet, ist durch die Zahlen nicht gedeckt.

Es ist ein grundlegender Unterschied, ob man etwas für nötig hält oder damit rechnet, dass etwas kommen wird. Da haben die meisten eigene Erfahrungen.

Wer damit rechnet, dass er wegen Managementfehlern oder dauerhafter Störung von Lieferketten seinen Arbeitsplatz verliert, muss das weder für nötig noch für akzeptabel halten.

Wer damit rechnet, dass der Vermieter die Miete erhöhen wird, muss das weder für nötig noch für akzeptabel halten.

Wer damit rechnet, dass die Ziele des Pariser Klimaabkommens nicht erreicht werden, muss das weder für nötig noch für akzeptabel halten.

Wer damit rechnet, dass es auch in zehn Jahren noch Minderheiten geben wird, die diskriminiert werden, muss das weder für nötig noch für akzeptabel halten.

Wer damit rechnet, dass der Präsident der USA aus weiteren internationalen Organisationen und Verträgen austreten wird, muss das weder für nötig noch für akzeptabel halten.

Wer damit rechnet, dass die Einkommen der Vorstandsvorsitzenden der grossen Unternehmen auch in Zukunft deutlich stärker steigen als die Einkommen der in diesen Unternehmen Beschäftigten, muss das weder für nötig noch für akzeptabel halten.

Das weiss natürlich auch Herr Dr. Petersen. Sein Problem ist, dass die Ergebnisse der Umfrage nicht zu seinen Vorstellungen und Vorurteilen passen. Sein Problem ist, dass die Menschen nicht so denken, wie er das gerne hätte, wie er das für das richtig und nötig  hält, und deshalb natürlich auch für akzeptabel.

III.

Der Artikel von Dr. Petersen in der FAZ ist ein Beispiel dafür, wie man auch mit richtigen Zahlen falsche Behauptungen aufstellen kann, weil es keinen Zusammenhang zwischen Zahlen und Behauptungen gibt. Das ist ein Fall von Zahlen-Missbrauch. Dr. Petersen will mit der Autorität von Zahlen, die nach allen Regeln der empirischen Sozialforschung zustande gekommen sind, seine persönlichen Vorstellungen stützen von dem, was an Veränderungen angeblich nötig ist.

Auffällig ist, wie gut das zu dem passt, wofür seit Monaten Arbeitgeberverbände, „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, Markt-gläubige Ökonominnen, die meisten Medien und andere die Trommel rühren. Sie wollen, dass die Menschen für weniger Rente länger arbeiten. Sie wollen, dass die Gesundheitsversorgung für die grosse Mehrheit der Menschen in Deutschland schlechter und teurer wird. Sie wollen weniger soziale Absicherung und weniger staatliche Leistungen für die grosse Mehrheit, die darauf angewiesen ist.

Die Ergebnisse der aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigen, dass die grosse Mehrheit der Menschen in Deutschland eine solche Politik ablehnt, aber trotzdem damit rechnet, dass sich die Dinge zum Schlechteren verändern werden.

Wenn grosse Mehrheiten von Menschen Dinge auf sich zukommen sehen, die sie mit grosser Mehrheit für nicht akzeptabel halten, dann ist das ein Alarmzeichen.

Könnte das nicht ein wichtiger Grund dafür sein, dass das Vertrauen der Menschen in Deutschland, und nicht nur bei uns, in die Handlungsfähigkeit des Staates so sehr gelitten hat?

Könnte das nicht ein wichtiger Grund dafür sein, dass das Vertrauen in die politischen Institutionen und in die Parteien so gering ist wie noch selten?

Könnte das nicht ein wichtiger Grund dafür sein, dass die Unzufriedenheit mit politisch Verantwortlichen ausserordentlich gross ist und der neue Bundeskanzler schon nach 100 Tagen fast so unpopulär wie sein Vorgänger nach drei Jahren?

Das sind Fragen, mit denen sich alle politisch Verantwortlichen auseinandersetzen müssen. Neue Antworten sind gefragt statt in alte Muster zu verfallen.

Wer in gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch schwierigen Zeiten die soziale Ungleichheit verstärken will statt sie zu verringern, wer ökologisches Handeln auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben will statt entschlossener zu handeln, wer öffentliche Dienstleistungen streichen will statt sie besser zu organisieren, der gefährdet mit der sozialen auch die politische Stabilität der Bundesrepublik Deutschland.

IV.

Im Februar 2025 hat Dr. Petersen im Jugendmagazin „fluter“ der Bundeszentrale für politische Bildung geschrieben:

„Die Meinungsforschung macht aus Ideologiefragen Sachfragen. Wir ziehen einen Boden der Fakten unter die weltanschaulichen Auseinandersetzungen, die gesellschaftlich und politisch ausgehandelt werden.“

Beim Talk des NRW-Handwerks sagte er: Meinungsforscher seien „keine Werbeleute und keine Propagandisten.“

Beiden Aussagen wird vernünftigerweise niemand widersprechen. Beide Aussagen hat Dr. Petersen mit seinem Artikel in der FAZ vom 21. August 2025 aber leider widerlegt.

Es ist wie so oft: Sein und Sollen fallen nicht automatisch zusammen. Das gilt doppelt: Für das, was Menschen erwarten und für das, was Meinungsforscher darüber schreiben.

Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz. Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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