Eine Rezension des Buches von Felix Jaitner
Das allgemeine Wissen über die politischen Abläufe und vor allem über die wirtschaftlichen Strukturen und über die innenpolitischen Machtkonstellationen sowie über die Entscheidungsfindungsprozesse in der Regierung Russlands ist hierzulande gering und meist oberflächlich. In der öffentlichen Debatte – verschärft durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine – ist Putin ein diktatorischer Schurke, der autokratisch und seinem ideologisch verbrämten „Imperialismus“ entsprechend entscheidet. In den Medien überwiegend und in der Politik der meisten europäischen Staaten (nicht mehr allerdings von Trump) wird Russland als ein „totalitärer“, „imperialer“ Terrorstaat mit einer gewissenlosen und kriminellen Clique um den mit einem Gewaltapparat (Geheimdienste, Polizei, Armee) herrschenden Putin beschrieben. Soziale Auseinandersetzungen werden in der Berichterstattung vernachlässigt bzw. nur dann aufgegriffen, wenn sie sich gegen die Regierung richteten, wie etwa 2011ff. als hunderttausende Menschen erst gegen Putins Kandidatur und danach gegen seine Wahl für eine zweite Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation auf die Straße gingen.
Felix Jaitner analysiert in seinem Buch „Russland: Ende einer Weltmacht“, wie auch schon in seiner früheren kleineren Schrift „Russlands Kapitalismus“ einerseits die russische Wirtschaftsentwicklung und er geht zum anderen der Frage nach, warum das russische Modernisierungsprojekt letztlich gescheitert ist und sich stattdessen eine auf Rohstoffexport (vor allem Öl und Gas) basierende, oligarchische Wirtschaft herausgebildet hat.
Vielfache Wirtschaftskrisen und die periphere Lage Russlands begründeten die autoritär-expansive Entwicklung des Landes seit der Auflösung der UdSSR ab 1990
Die kapitalistische Transformation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe tiefgreifende Widersprüche erzeugt, die Russland bis heute prägten. Letztlich seien es diese Widersprüche – und dazu gehöre auch die periphere Eingliederung Russlands in die internationale Arbeitsteilung -, die dazu geführt hätten, dass die russische Elite mit aller ihr zur Verfügung stehen Macht um einen Platz als anerkannte Großmacht kämpfe. Vielfache Wirtschaftskrisen und die periphere Lage Russlands begründeten die autoritär-expansive Entwicklung des Landes seit der Auflösung der UdSSR ab 1990.
Der für die Mehrheit der westlichen Politiker und der Medien unerwartet erfolgte militärische Angriff Russlands auf die Ukraine ist nur ein Beispiel für das begrenzte Instrumentarium bei der Analyse des Handelns der russischen Regierung. Die Fixierung auf die Person Putins und sein meist männliches Beratungsumfeld reduziert die Entwicklung Russlands auf die Launen oder die psychische Verfassung dieses autoritären Herrschers nach innen und eines großrussisch denkenden Expansionisten nach außen. Vielfach wird durch eine Niederlage im Krieg gegen die Ukraine auf einen Regime-Change gehofft, der auf eine Entmachtung Putins setzt, Jaitner meint hingegen, dass eine bürgerlich-demokratische Entwicklung die unwahrscheinlichste Perspektive für Russland sei, eine Machtübernahme nationalistischer Kräfte im Bündnis mit neoliberalen Fraktionen des Machtblocks sei weitaus realistischer.
„Der russische Angriff auf die Ukraine und die sich verschärfende innenpolitische Repression stehen in einem krassen Gegensatz zu der durch die Perestroika ausgelöste Aufbruchstimmung in den späten 1980er-Jahren. Damals schien nicht nur eine dauerhafte Aussöhnung mit dem Westen möglich, sondern auch eine stabile demokratische und friedliche Entwicklung des postsowjetischen Raums. Dies wirft die Frage auf, wie das Umschlagen der demokratischen Aufbruchstimmung in autoritäre Herrschaft und Krieg erklärt werden kann. Gab es in den vergangenen 30 Jahren Alternativen zu dieser Entwicklung und lässt sich der skizzierte Gegensatz zwischen Aufbruch und Restauration aufrechterhalten?“ (S. 247)
Diesen Fragen geht Felix Jaitner in seinem Buch „Russland: Ende einer Weltmacht“ nach.
Entwicklungskonflikte im russischen Machtblock
Jaitner hebt in seiner Analyse der Entwicklungskonflikte im russischen Machtblock zwei Aspekte hervor, nämlich einmal Russlands verspätete kapitalistische Entwicklung und zum anderen die mangelnde Hegemoniefähigkeit der russischen Bourgeoisie, deren wirtschaftlicher Erfolg und deren ökonomische Konsolidierung sowie die Erschließung ausländischer Märkte in hohem Maße von den Verbindungen zu den Staatsapparaten und deren Schutz abhängig blieb. (S. 16)
Der sowjetische Staatssozialismus habe nicht nur ein vom Westen unterschiedliches Wirtschaftssystem – nämlich die Planwirtschaft – hervorgebracht, sondern sei bis in die 1960er Jahre vom kapitalistischen Weltmarkt weitgehend abgekoppelt gewesen. Das habe sich ab den 1970er Jahren mit der Ausbeutung der sibirischen Öl- und Gasvorräte geändert. Mit der ab dieser Zeit sich entwickelnden Rolle Russlands als globalem Rohstofflieferanten sei es zu einem Bedeutungsverlust der einheimischen produzierenden Industrie gekommen, der zu einer schleichenden ökonomischen Abhängigkeit von den kapitalistischen Ländern, speziell Westeuropas geführt habe, insbesondere im Hochtechnologiebereich.
Schon anfangs der 90er Jahre, also seit dem „radikalen Bruch“ mit der staatssozialistischen Planwirtschaft und der „Schocktherapie“ einer radikalen Marktwirtschaft sei Russland unter dem ersten demokratische gewählten Präsidenten Boris Nikolajewitsch Jelzin geradezu zu einem „Labor des Neoliberalismus“ geworden und die damals eingeschlagene neoliberale Linie ziehe sich – jedenfalls in der Sozialpolitik – bis heute fort. (S. 237ff.) Jelzin habe ab 1993 ein „bonapartistischen Regimes“ errichtet (S. 99) mit der Etablierung eines autoritären präsidentiellen Regimes.
Der Anteil der Exporterlöse am Bruttoinlandsprodukt mit einem überwältigenden Anteil aus dem Handel mit Öl und Gas lag teilweise bei 30 %. Diese Außenorientierung war allerdings abhängig vom Freihandel und damit auch anfällig für externe Krisen, was sich besonders in der Wirtschafts- und Finanzkrise im Westen nach 2008 zeigte. Der Absturz des Ölpreises und eine einsetzende Kapitalflucht aus Russland zeigte die Anfälligkeit des ressourcenextraktiven Entwicklungsmodells. (S. 155ff.)
Ein „peripheres“, „ressourcenextraktivistisches Entwicklungsmodell“, das zu einer Westorientierung führte
Jaitner spricht aufgrund dieser Exportabhängigkeit von einem „peripheren“, „ressourcenextraktivistischen Entwicklungsmodell“ (also einer Entwicklung die von der Ausbeutung und dem Export von (unverarbeiteten) Rohstoffen und Agrarprodukten geprägt ist), das auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die politische Ordnung des Landes prägte.
Aufgrund dieser Exportabhängigkeit sei die erste Putin-Administration ab den 2000er Jahren darum bemüht gewesen, durch neue außenpolitische Bündnisse eine Modernisierung der russischen Wirtschaft einzuleiten. Im Mittelpunkt dieser Strategie sei die Europäische Union, dem mit Abstand größten russischen Handelspartner gestanden. Innerhalb der EU hätten wiederum die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich eine Schlüsselrolle in der außenpolitischen Strategie Russlands eingenommen.
Auch auf politischer Ebene sei es zu einer deutlichen Annäherung zwischen Deutschland und Russland gekommen. Die Rede Putins im deutschen Bundestag im Jahr 2001 sei von russischer Seite mit großen Hoffnungen auf eine enge politische Anbindung verknüpft gewesen. Es sei zu Kooperationen im Bereich der Rohstoffgewinnung, speziell im Energiesektor, durch Gemeinschaftsunternehmen wie z.B. zwischen Gazprom, Wintershall und E.ON gekommen. Beim Bau der North Stream Gaspipeline nahm deutsches Kapital eine entscheidende Rolle ein. Diese handelspolitische Westorientierung habe allerdings den „semi-peripheren Status“ als globaler Rohstofflieferant zementiert. (S. 136)
Der russischen Seite sei jedoch anfangs des neuen Jahrtausends erkennbar geworden, dass vor allem Deutschland – trotz des Dissenses mit den USA im Irak-Krieg 2003 – kein Interesse daran hatte, die Orientierung auf das transatlantische Bündnis aufzugeben. Die Bundesregierung verhinderte sogar eine Intensivierung der Beziehungen zu Russland. Dies wurde spätestens mit dem Ende der rot-grünen Koalition deutlich. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beendete die unter ihrem Vorgänger Gerhard Schröder ausgerufene „Modernisierungspartnerschaft“. (S. 136)
Ein Bündnis zwischen Staat und den Oligarchen
Die sogenannte Oligarchie – und hierin liege ein spezifisches Merkmal des russischen Kapitalismus – sei in erster Linie durch die Umwandlung von Staats- in Privateigentum entstanden, das heißt, die Oligarchen profitierten von den engen Verbindungen zu Staat und Regierung. Das Privatkapital sei bis heute vom staatlichen Schutz abhängig, wodurch die dominante Position der Staatsbürokratie erhalten geblieben sei. Andererseits sei der Staat durch seine Firmenbeteiligungen (Gazprom, Rosneft) an das ressourcenextraktivistische Entwicklungsmodell gebunden, was das Bündnis zwischen Staat und den Oligarchen förderte und zu einer engen personellen Verflechtung zwischen Regierung und Wirtschaft führte. (S. 29)
Die nach Jelzin etablierte oligarchisch-etatistische Ordnung unter Wladimir Putin verkörperte ein Bündnis zwischen den zentralen gesellschaftlichen Akteuren des Machtblocks – ein enges Bündnis aus Staat und Oligarchie. Es handele sich um ein autoritäres Projekt zur Stabilisierung der aus dem Chaos des Transformationsprozesses hervorgegangenen Herrschaftsverhältnisse. (15f.) Putins protektionistische Politik erschwerte Übernahmen russischer Firmen durch ausländische Unternehmen. Ein wichtiger Bestandteil des oligarchisch-etatistischen Konsenses sei das Stabilitätsversprechen der Regierung gewesen. Putin, der diese neue oligarchisch-etatistische Ordnung politisch repräsentierte, verkörperte dabei einen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des herrschenden Blocks.
Die Personifizierung der russischen Politik, begleitet durch aufwendige mediale Inszenierungen, habe das Bild Putins als eines charismatischen Führers und Vaters der Nation geschaffen, der über den gesellschaftlichen Klassen, Widersprüchen und Konflikten stehe. Dies sei auch eine Erklärung dafür, warum Putin – obwohl durch eine schon von Jelzin verfolgte neoliberale Sozialpolitik die Verarmung und die Einkommensunterschiede zunahmen (S. 146) und obwohl sich die regionalen Entwicklungsunterschiede vertieft hätten (S. 148) – in der Bevölkerung mehrheitlich großes Vertrauen genoss, während die politische Klasse und das politische System als korrupt und verlogen galten.
„Großrussischer Nationalismus“
Mit der globalen Wirtschaftskrise ab 2008 und der dadurch ausgelösten politischen Krise des russischen Regimes hätten sich auch die Beziehungen zum Westen verschlechtert und damit sei auch die Modernisierungsstrategie gescheitert. Die Regierung habe von da an verstärkt einen „großrussischen Nationalismus“ propagiert und dazu eine Umdeutung der russischen Geschichte im Sinne eines staatszentrierten Entwicklungsweges vorangetrieben. Dies ermöglichte unterschiedliche historische Phasen des Zarismus (Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Katharina die Große), den Stalinismus und den Sieg im Zweiten Weltkrieg in einer gemeinsamen historischen Tradition zu sehen. Im Mittelpunkt dieses „großrussischen Nationalismus“ seien die Größe Russlands und der russischen Nation, Entwicklungserfolge und Siege in kriegerischen Auseinandersetzungen gestanden. (S.108)
Tatsächlich habe Putin mit diesem „großrussischen Nationalismus“ sowohl sozial als auch national oder liberal orientierte Bevölkerungsschichten angesprochen. Er galt als Retter des russischen Staates, Förderer der Wirtschaft, aber auch als Präsident, der die Oligarchen als Klasse auszurotten versprach. Dieses klassenkämpferische Image sei sogar in Teilen der europäischen Linken reproduziert worden. Dabei sei die Oligarchie als Klasse gerade in die ersten beiden Amtszeiten Putins konsolidiert worden. (S. 110) Mit dem Schlagwort der „souveränen Demokratie“ (S. 112) habe die Putin-Administration den eigenständigen, vom Westen abweichenden Weg Russlands zu einer Demokratie betont. Zwar seien weder die Verfassung noch demokratische Verfahren offiziell ausgesetzt worden, die Einschränkung von Freiheitsrechten oder eine Stärkung der Exekutive seien bis heute immer wieder mit der Notwendigkeit der staatlichen Souveränität begründet worden. (S. 112) Dabei habe Putin auch die antikapitalistischen und nationalistischen Strömungen in der Bevölkerung zur Durchsetzung eigener Interessen benutzt. (S. 122) Die Duma (also das Parlament) habe sich immer mehr von einem Organ der Volksvertretung zu einer Aushandlungsarena der unterschiedlichen Fraktionen des herrschenden Blogs gewandelt – was sich nicht zuletzt in der extremen Reichtumskonzentration der Abgeordneten zeigte. (S.105)
Abkehr vom „Westen“
Angesichts von wiederkehrenden Wirtschaftskrisen gab es immer wieder auch öffentliche Debatten über die Grenzen des „ressourcenextraktivistischen Entwicklungsmodells“. Mit dem Schlagwort „Modernisierung“ sei die Rohstoffabhängigkeit des Landes durch Exportdiversifizierung und den Aufbau einer konkurrenzfähigen Industrie zu überwinden versucht worden. (S. 159) Dies habe zu einer ideologischen Abkehr vom „Westen“ geführt.
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 habe Wladimir Putin die NATO-Osterweiterung sowie die Interventionen des westlichen Militärbündnisses im Nahen Osten und im ehemaligen Jugoslawien scharf kritisiert, da sie aus russischer Sicht den Ideen einer multipolaren, auf gegenseitigen Interessensausgleich ausgerichteten Welt nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes unterminierten und die nationale Sicherheit Russlands bedrohten. Die russischen Zugeständnisse im Zuge der deutschen Einigung seien dazu genutzt worden, so Putin, die Position der NATO zu stärken, was Kooperationen Grenzen setze. Außerdem kritisierte Putin die Barrieren für einheimisches Kapital in wirtschaftlichen Schlüsselsektoren westlicher Länder, obwohl die russische Wirtschaft für ausländisches Kapital weitgehend offen sei. (S. 161)
Mit nationalkonservativer Propaganda wurde der Weg in eine innere Liberalisierung verbaut
Ähnlich wie bei den sog. „Farbenrevolutionen“ (in Georgien, Kirgisen oder Ukraine) sei es auch in Russland zwischen 2011 und 2013 zu heftigen Protesten gekommen. Während dieser Protestwelle seien bis zu hunderttausend Menschen auf die Straße gegangen. (S. 163) Im Ausland seien die Proteste überwiegend als Aufstand der Mittelschicht gegen das autoritäre „System Putin“ dargestellt worden, man sprach von den „zwei Russlands“, nämlich einem fortschrittlichen urbanen Zentrum und einer peripheren, rückständigen Provinz.
Die damalige Opposition habe allerdings vielmehr aus zwei unterschiedlichen Strömungen bestanden, nämlich aus der politischen Linken einerseits und dem nationalistischen, rechtsradikalen Spektrum andererseits. Im Zuge der Angliederung der Krim und dem Krieg im Donbass traten die Spaltungslinien innerhalb der Opposition offen zutage. Zu Beginn der Proteste reagierte die Regierung auf die Protestbewegung mit einer Strategie aus Zuckerbrot (selektive Übernahme der Forderungen) und Peitsche (Repression). Putin habe sich als Verteidiger der Interessen „des Volkes“ und Garant gesellschaftlicher Stabilität inszeniert (S. 166) und sei gleichzeitig zu einem offen repressiven Kurs übergegangen (S.167), der mit einer verstärkten ideologischen Ausrichtung auf nationalkonservative Inhalte und mit einem Diskurs über die Besonderheit der russischen Zivilisation einher ging. Die euro-atlantischen Länder leugneten – so die Propaganda – „moralische Prinzipien und traditionelle Identitäten: nationale, kulturelle, religiöse und sogar sexuelle. Sie verfolgen eine Politik, die kinderreiche Familien mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, den Glauben an Gott mit dem Glauben an Satan gleichsetzt“, sagte Putin in einer Rede im September 2013. (S. 168)
Die Regierung habe die National-Konservativen als Reaktion auf die Proteste als staatstragende Akteure systematisch integriert und deren Vertreter hätten hohe Posten im Staat bekommen. Die Übernahme national-konservativer Inhalte diente vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Krise der oligarchisch-etatistischen Ordnung und angesichts umkämpfter Lösungsstrategien als wichtige Legitimationsstrategie staatlicher und politischer Souveränität und um den Rückhalt in der Bevölkerung für die Regierung zu stärken. Damit sei der Weg in eine innere Liberalisierung des Putinismus verbaut worden.
Die „Eurasische Union“ als Kernstück der dritten Amtszeit Putins
In den Konzeptionen der „nationalkapitalistischen Entwicklungsstrategie“ komme der im Jahr 2015 gegründeten „Eurasischen Union“ eine zentrale Rolle zu. Die „Eurasische Union“ sei ursprünglich als ein Bündnis der entwickeltesten postsowjetischen Staaten (Belarus, Kasachstan, Russland, Ukraine) gedacht worden, das einen Re-Industrialisierungsprozess einleiten und den ökonomischen Bedeutungsverlust der Region stoppen sollte. (S. 192) Als Antwort auf die sich verschärfende internationale Konkurrenz (S. 188) und auf die geopolitischen Umwälzungen – etwa dem NATO- und EU-Beitritt der baltischen Republiken und der Orientierung der zentralasiatischen Länder nach Südostasien, insbesondere auch China – sei die „Eurasische Union“ zum „Kernstück“ der dritten Amtszeit Putins geworden. Die national-konservativen Kräfte hätten basierend auf spirituelle Werte, auf nationale Tugenden und kulturelle Eigenheiten eine ökonomische Modernisierung angestrebt und Russland dabei eine „historische Rolle“ zugeschrieben. (S.187)
Eine zentrale Rolle in der Konzeption der „Eurasischen Union“ sei der Ukraine zugekommen. Denn die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Donbass-Region und den Regionen Donezk und Lugansk – den Zentren der ukrainischen Industrieproduktion im Osten des Landes – und Russland seien besonders eng gewesen. (S. 191f.) Ein Großteil der russischen Betriebe des militärisch-industriellen Komplexes und der Elektrotechnik, die im Zentrum der neuen Entwicklungsstrategie standen, seien nach wie vor auf eine enge Kooperation mit Firmen aus dem „nahen Ausland“, vor allem mit Belarus und der Ukraine, angewiesen gewesen. Dementsprechend seien russische Firmen intensiv für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit der Ukraine eingetreten. Mit den Maidan-Protesten sei es zu Aufständen in diesen Regionen gekommen. Dabei sei es in beiden Ländern zu einer Stärkung konservativer Werte gekommen. Seit dem Sturz der Regierung Janukowitsch 2014 sei jedoch ein Beitritt der Ukraine zur „Eurasischen Union“ endgültig vom Tisch gewesen.
Die national-konservativen Konzeptionen des autoritären Entwicklungsprojektes hätten in Russland vor allem durch den Krieg zwischen den separatistischen Volksrepubliken Donezk und Lugansk und der ukrainischen Regierung und den darauffolgenden westlichen Sanktionen des Westens an politischem Gewicht gewonnen. Die Vertreter der Gewaltapparate und sowohl die orthodoxe Kirche als auch Kräfte, die auf traditioneller Werte setzten, drängten auf eine politische und ökonomische Alternative zum Westen. Dem sei noch entgegengekommen, die historische Erfahrung, dass der russische Staat eine zentrale Rolle bei der Umsetzung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse seit den Reformen Peters des Großen hatte.
Ökonomische und sicherheitspolitische Erwägungen für die Annexion der Krim und den militärischen Angriff auf die Ukraine
Jaitner liefert in seinem Buch noch keine genauere analytische Begründung für die Annexion der Krim und den von Russland zumindest unterstützten Aufständen in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk 2014, die nach einem zweifelhaften Referendum im September 2022 annektiert und völkerrechtswidrig in die Russische Föderation eingegliedert wurden. In einem Interview zwei Jahre nach dem militärischen Angriff sieht Jaitner sowohl ökonomische Rationalitäten als auch sicherheitspolitische Erwägungen, die eine unmittelbare Rolle für den Einmarsch gespielt hätten. In extraktiven Ökonomien sei einerseits die direkte territoriale Kontrolle über Rohstoffvorkommen oder über das Pipelinenetzwerk eine zentrale Voraussetzung für eine stabile Kapitalakkumulation und in Russland sei der Staat durch seine Beteiligung an Öl- und Gasfirmen sogar direkt mit der extraktiven Wirtschaft verwoben. Andererseits seien die sicherheitspolitischen Interessen aufgrund der geostrategischen Lage der Ukraine (Flottenstützpunkt auf der Krim, Puffer zur NATO) mit den ökonomischen Dispositiven Russlands verschränkt.
Westliche Sanktionen führten zu Importsubstitutionspolitik und eine Ausrichtung auf den südostasiatischen Raum
Der im Februar 2022 erfolgte militärische Angriff auf die Ukraine und die Verschärfung der westlichen Sanktionen als Reaktion darauf hätten weitreichende Auswirkungen auf die politökonomische Entwicklung Russlands gehabt. Zwei Prozesse, die sich schon in den zurückliegenden Jahren abzeichneten, hätten dabei an Bedeutung gewonnen:
Die staatliche Importsubstitutionspolitik mit protektionistischen und industriepolitischen Maßnahmen des Staates und die Ausrichtung auf den südostasiatischen Raum.
Trotz der Versuche des Westens, Russland politisch und ökonomisch zu isolieren, sei der russische Staat bislang handlungsfähig geblieben. Die westlichen Sanktionen hätten nicht dazu geführt, „Russland zu ruinieren“, wie es die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte, vielmehr hätten sie den Zerfall der Welt in konkurrierende geopolitische Lager beschleunigt.
Dies habe die staatliche Autonomie gegenüber (privaten) Kapitalfraktionen gestärkt, die vorläufig geschwächt aus diesem Krieg hervorgingen. In naher Zukunft dürfte sich das Kräfteverhältnis sogar noch weiter zugunsten des Staates und der Exekutive verschieben, denn durch dirigistische Markteingriffe oder die selektive Vergabe von Subventionen würden die negativen ökonomischen Auswirkungen des Krieges für Unternehmen abgeschwächt. Der kriegsbedingte Rückzug westlicher Firmen aus Russland stärke zudem die regulatorische Rolle des Staates. Die Importsubstitutions- und Lokalisierungsstrategie der russischen Regierung habe dazu beigetragen, das ressourcenextraktivistische Entwicklungsmodell zu modifizieren.
So paradox es klingen mag, meint Jaitner: Durch eine konfrontative außenpolitische Strategie könnten periphere Kapitalfraktionen ihre Wettbewerbsfähigkeit langfristig verbessern. (S. 246) Der russische Überfall auf die Ukraine und das daraufhin ausgeweitete westliche Sanktionsregime machten die Importsubstitutionen zum offiziellen Ziel staatlicher Politik und führten dazu, dass sich die russischen Handelsströme von Westen nach Osten verschoben. Letzteres führte zu einer geopolitischen Orientierung auf den eurasischen Raum, die sich in einer wirtschaftlichen Entkopplung vom Westen und dem Entstehen eines russisch-chinesischen Blocks manifestierte, was eine Aussöhnung Europas mit Russland immer schwieriger mache und die Gefahr neuer Konflikte mit sich bringe. Je länger die westlichen Sanktionen in Kraft blieben, desto mehr würden die nationalkonservativen Kräfte gestärkt.
Hinsichtlich einer friedlicheren Zukunft mit Russland liefert Jaitner einen düsteren Ausblick, denn die weitere Verschmelzung von staatlichem und privatem Kapital und eine verschärfte Monopolbildung im Inneren, lasse eine aggressive Expansion nach außen auch in Zukunft eher wahrscheinlich werden. (S. 241) Binnenorientierte Kapitalfraktionen und mit ihnen verbundene Kräfte in der Regierung und den Staatsapparaten könnten durchaus ein Interesse an der Aufrechterhaltung der westlichen Sanktionen haben, da auf diese Weise die Importsubstitutionsstrategie weitergeführt werden könne. Eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ist für Jaitner daher in näherer Zukunft genauso unwahrscheinlich wie eine Friedenslösung im Krieg in der Ukraine. (S. 258f.)
Auch eine Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse im Inneren sowie dauerhafte Friedenslösungen für die vielfältigen Konflikte im postsowjetischen Raum kann sich Jaitner unter den gegebenen Voraussetzungen kaum vorstellen. Dagegen spreche auch die systematische Zerschlagung oppositioneller Strukturen und die Flucht von über einer Million Menschen seit Kriegsbeginn, darunter vieler politisch Aktiver. Auch die in westlichen Medien beliebte Spekulation über eine Spaltung des Machtblocks, die in einem Sturz Putins münden könnte, hält er für unwahrscheinlich.
Das Fazit im Buch von Felix Jaitner liegt zwar schon zwei Jahre zurück und er konnte die jüngeren Entwicklungen, die sich durch die zweite Amtszeit von Trump ergaben, und dessen Verhältnis zu Putin nicht vorhersehen, daher kommt er im Jahr 2023 zu folgendem Fazit:
„Vor diesem Hintergrund erscheint ein baldiges Ende des Krieges weder wahrscheinlich noch im Interesse des Machtblocks. Mit dieser Haltung macht die Regierung ihre eigene Zukunft immer mehr vom Ausgang des Krieges abhängig. Ein russischer Sieg über die Ukraine hätte fatale Folgen, denn er würde das expansive und rechtsautoritäre Regime vorerst stabilisieren. Eine Niederlage hätte jedoch nicht automatisch die von westlichen Experten prognostizierte Demokratisierung des Landes zur Folge. Eine Regierungsbildung durch extrem rechte Kräfte oder ein drohender Staatszerfall mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen seien durchaus wahrscheinlichere Szenarien. In beiden Fällen würden die bestehenden Konflikte im postsowjetischen Raum verschärft und die Region – einschließlich Russlands und der Ukraine – weiter langfristig destabilisiert“. (S. 262f.)
Mögliche Entwicklungen Russlands je nach Ausgang des Krieges gegen die Ukraine
Der „Kriegskeynesianismus“ sei nichts anderes als die fortgeführte national-kapitalistische Entwicklungsstrategie und habe das national-konservative gegenüber dem neoliberalen Lager gestärkt. Die National-Konservativen erhofften sich einen größeren Einfluss des Landes in einer sich entwickelnden multipolaren Weltordnung.
In einem im Jahre 2024 geführten Interview fügte Jaitner hinzu, dass der Westen aktiv zu dieser Blockbildung beitrage, indem die – weniger von den USA, sondern inzwischen vor allem von der EU – verfolgte Politik, Russland zu isolieren und Friedensverhandlungen zu erschweren, die Blockbildung des Kremls etwa mit China, Indien und den BRICS-Staaten – wie sich etwa auf dem Gipfel der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zeigte -begünstige.
Das Versäumnis eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands aufzubauen, hätten maßgeblich dazu beigetragen, dass das Narrativ der Einkreisung Russlands durch den Westen verfangen konnte und es verstärke die autoritären, national-konservativen Kräfte, die zur Wahrung ihrer eigenen Interessen zunehmend auf einen konfrontativen Kurs gegenüber dem Westen setzten. Damit werde eine Aussöhnung mit Europa immer schwieriger.
Das Schicksal des Putin-Regimes sei eng mit dem Ausgang des Krieges in der Ukraine verknüpft. Ein Sieg über die Ukraine würde Russland nicht nur stabilisieren, sondern auch die national-konservativen, aggressiv-reaktionären Kräfte im Machtblock stärken. Als das unwahrscheinlichste Szenario erscheint Jaitner eine bürgerlich-demokratische Entwicklung – eine These, die von einigen westlichen Russland-Experten, aber auch von Anhängern der liberalen Opposition in Russland vertreten wird. Eine Machtübernahme der nationalistischen Kräfte, möglicherweise im Bündnis mit neoliberalen Fraktionen des Machtblocks, sowie eine gewaltsame Eskalation der eingefrorenen Konflikte im Nordkaukasus, hält Jaitner für wahrscheinlicher. In einem solchen Szenario sei jedoch auch ein Zerfall Russlands nicht auszuschließen.
Andererseits könnten bei einem endlosen Krieg und den damit verbundenen hohen Kriegskosten die Gefahr einer Krise der russischen Staatsfinanzen mit sich bringen, was wiederum bei der russischen Regierung ein Interesse an einem absehbaren Ende des Krieges und die Hoffnung auf Sanktionserleichterungen wecken könnte. Dieses Dilemma zwischen hohen Kriegskosten und dem Risiko eines Staatsbankrotts könnte möglicherweise die Chancen für diplomatische Lösungen des Krieges in der Ukraine erhöhen.
Keine einfache Lektüre
Die vielen Details der ökonomischen und machtpolitischen Entwicklung nach dem Umbruch der Sowjetunion in die Russische Föderation machen die Lektüre nicht ganz leicht und die Rückgriffe auf die 90er Jahre oder auf die Krisenjahre 1998, 2008 oder 2014 in einzelnen Kapiteln machen es manchmal schwer größere Entwicklungslinien zu erkennen. Dennoch ist die Lektüre ein Gewinn, zumal die wirtschaftlichen und innenpolitischen Entwicklungsprozesse in der Medienberichterstattung höchst selten eine Rolle spielen.
Felix Jaitner, ein Politikwissenschaftler, der schon zu Entwicklungskonflikten des russischen Machtblocks an der Universität Wien promoviert hat, ist Senior Researcher beim „Institute for Global Reconstitution“ (IGRec), einem Think Tank in Berlin, der darauf abzielt hinter die Oberfläche von Krisen zu schauen und deren Hintergründe zu analysieren https://www.igrec.io/.
Literaturangaben:
- Felix Jaitner, Russland: Ende einer Weltmacht, Vom autoritär-bürokratischen Staatssozialismus mit Ressourcenextraktivismus und Kriegswirtschaft der Zukunft, Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, VSA: Verlag Hamburg, 2023;
- Felix Jaitner, Russlands Kapitalismus, Die Zukunft des „Systems Putin“, VSA: Verlag Hamburg, 2023
- Der Schein von Russlands Stabilität trügt. Interview mit Felix Jaitner geführt von Arman Spéth, im JACOBIN v. 24. Februar 2024.
Wolfgang Lieb ist ein deutscher Jurist und Publizist. Nach dem Studium der Politik und Rechtswissenschaften an der FU Berlin, in Bonn und in Köln arbeitete er in der Planungsabteilung des Kanzleramtes in Bonn(Helmut Schmidt war Kanzler), wechselte als Leiter in das Grundsatzreferat der Landesvertretung NRW in Bonn, war Regierungssprecher des Ministerpräsidenten Johannes Rau und Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium. Zusammen mit Albrecht Müller war Lieb Mitherausgeber und Autor der politischen Website “NachDenkSeiten” und wurde mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet. 2015 gab er seine Mitherausgeberschaft wegen unüberbrückbarer Meinungsdifferenzen mit Müller über die redaktionelle Linie des Blogs auf. Heute arbeitet Wolfgang Lieb als freier Autor. Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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