Fünf Wochen vor der NRW-Wahl wird der Wahlkampf plötzlich spannend. Nicht, weil Konzepte der schwarz-gelben Koalition die Wähler bewegen oder die Konzepte der Opposition die Landesregierung in Bedrängnis bringen. Für Spannung sorgt die Regierungspartei CDU. Sie legt es darauf an, sich mit aller Kraft zu zerlegen. Den Auftakt machte ihre Umwelt- und Landwirtschaftsministerin Heinen-Esser. Sie erklärte vor zwei Tagen ihren Rücktritt. Sie hat ihn sich hart erarbeitet.

Schöne Tage auf Mallorca

Vom 14. auf 15 Juli 2021 gerieten große Teile des Landes unter Wasser. Städte und Dörfer wurden verwüstet. Viele Menschen verloren ihr Leben, viele Menschen wurden verletzt. Die meisten Überlebenden der Sturzfluten standen über Nacht verzweifelt vor den Ruinen ihrer Existenz.

Zur gleichen Zeit, als die Umweltkatastrophe über das Land hereinbracht, ihr Grauen entfaltete und die Republik erschütterte, weilte die NRW-Umweltministerin mit ihrer Familie für ein paar schöne Tage im Zweitwohnsitz auf Mallorca. Die Ministerin kehrte zwar am 15. Juli heim, flog aber am 16. Juli zurück auf die Insel und blieb dort neun Tage lang. Am 24. Juli feierte sie dort den Geburtstag ihres Mannes.

In einer Partei, die etwas auf sich hält, und in einer Koalition, die sich die Modernisierung des Landes auf die Fahne geschrieben hat, wäre wohl schon allein Heinen-Essers Mallorca-Trip während der Flutkatastrophe mit ihren riesigen Ausmaßen ein hinreichender Grund zum Rücktritt oder Rauswurf.

Unwahrheiten aufgetischt

Nicht in der NRW-CDU. Sie akzeptierte, dass ihre Umweltministerin die Nähe der vielen Bürger scheute, die von der Umwelt geschlagen worden waren. Die Partei nahm auch hin, dass die Ministerin dem Untersuchungsausschuss, der die Umstände ihres Mallorca-Urlaubs ermittelt, über Wochen eine Unwahrheit nach der anderen auftischte und sich immer wieder korrigieren musste.

Mal war sie nur wenige Tage auf der Insel, dann doch fast zwei Wochen. Mal war sie dort, um ihre urlaubende Tochter und deren Freundeskreis nach Hause zu bringen. Dann kam heraus, dass sie auf Mallorca für ihren Mann auch eine Geburtstagsfeier ausrichtete.

Heinen-Esser verbreitete vor dem Untersuchungsausschuss unablässig Halbwahrheiten. Unablässig sah sie sich gezwungen, ihre Darstellungen gerade zu rücken und zu ergänzen. Dass auch Halbwahrheiten Lügen sind, weil sie vortäuschen, die ganze Wahrheit zu sein, scheint ihr bis heute nicht bewusst zu sein. Auch nicht, dass U-Ausschüsse das Parlament repräsentieren.

Mangel an Einsicht

Führt man diese beiden Defizite Heinen-Essers zusammen, hat die CDU-Umweltministerin nicht nur den Gesetzgeber Landtag über die Wahrheit getäuscht, sondern auch das Landeskabinett, die Koalition, ihre Partei, die Wähler und die Medien.

Dass sie in der ärgsten Not der Katastrophe auf Mallorca Urlaub machte und dort feierte, ist nicht nur pflichtvergessen und politisch instinktlos. Mit ihren wahrheitsscheuenden Auftritten vor dem U-Ausschuss disqualifizierte sich die Ministerin, die für den nächsten Landtag kandidiert, auch als Parlamentarierin. Ihr Rücktritt vom Ministeramt war überfällig. Er kam viel zu spät.

Noch heute fehlt es Heinen-Esser an Einsicht. Sie begründet ihren Rücktritt damit, dass sie ihr Verhalten der Öffentlichkeit nicht vermitteln könne. Trotz ihres Fehlverhaltens und Scheiterns strebt sie bei der NRW-Wahl einen Platz im nächsten Landtag an. Auch diesen Wunsch dürften sie und die NRW-CDU der Öffentlichkeit nur schwer vermitteln können.

Weitere Geburtstagsgäste

Mangelnde Einsicht ist dieser Tage in der NRW-CDU nicht nur auf Heinen-Esser beschränkt. Mangelnde Einsicht scheint im CDU-Landesverband epidemisch zu grassieren. Heinen-Essers politische Heimat, die CDU in der Karnevalshochburg Köln, stellt sich hinter ihre abgestürzte Ex-Ministerin. Offenbar ist Kölns CDU entgangen, dass mit den Grünen eine zweite bürgerliche Partei heranwächst, die nur darauf wartet, von Fehlern der CDU zu profitieren.

Unter führenden CDU-Kräften in NRW ist mangelnde Einsicht viel weiter verbreitet als gedacht. Über den Kölner Stadtanzeiger wurde jüngst bekannt, dass sich zur mallorquinischen Geburtstagsfeier von Heinen-Essers Ehemann kurz nach der Flutkatastrophe in der NRW-Heimat weiteres Führungspersonal der NRW-CDU eingefunden hatte.

Die zweite CDU-Ministerin des NRW-Kabinetts, deren Amtsbereich wie der von Heinen-Esser direkt mit der Flutkatastrophe und denen Folgen verbunden ist, zog es ebenfalls vor, den Trümmern, Toten und Verzweifelten in NRW den Rücken zu kehren, um auf der Insel Geburtstag zu feiern.

Der Kernschmelze nahe

Es handelt sich um Ina Scharrenbach. Sie ist Ministerin für Heimat, Kommunales, Bauen und Gleichstellung. Sie flog zu der Feier auf Mallorca mit der damaligen Staatssekretärin im NRW-Familienministerium, Serap Güler, im Schlepptau. Komplettiert wurde die Runde der Geburtstagsgäste vom Europaminister der NRW-CDU, Holthoff-Pförtner.

Lange war der Mallorca-Skandal eine Angelegenheit der Solistin Heinen-Esser. Nun stellte sich heraus, dass es sich bei dem Skandal um die Veranstaltung eines Quartetts handelte. Das Trio Scharrenbach, Güler und Holthoff-Pförtner macht den Skandal um Heinen-Essers Mallorca-Urlaub für die Opposition, die Medien und die Wähler erst richtig dick und fett.

Heinen-Esser verschwieg dem U-Ausschuss, dass an der Geburtstagsfeier auf Mallorca Kabinettskollegen teilgenommen hatten. Schlimmer noch: Scharrenbach, Güler und Holthoff-Pförtner behielten ihre Teilnahme an der Fete auf Mallorca ebenfalls für sich. Dieser Umstand heizt den Skandal für die NRW-CDU bis nahe zur Kernschmelze auf. Alle drei CDU-Politiker schauten und hörten über Wochen taten- und sprachlos zu, wie Heinen-Esser dem U-Ausschuss, den Medien und den Wählern am laufenden Band Märchen erzählte.

Verschleierung begünstigt

Alle drei hätten ihre Parteifreundin früh zur Wahrheit anhalten und sie beim ersten Märchen stoppen müssen. Alle drei haben geschwiegen. Sie nahmen in Kauf, dass Heinen-Esser mit ihren Geschichten den Skandal zu einem Problem der NRW-CDU im Landtagswahlkampf machte.

Dass die drei Geburtstagsgäste Scharrenbach, Güler und Holthoff-Pförtner geschwiegen haben, wird der NRW-CDU mehr schaden als das ignorante Verhalten Heinen-Essers und deren Rücktritt. Dass Politiker Fehler machen, sind die Wähler gewöhnt. Heinen-Esser hat einen Schlussstrich gezogen. Sie ist Geschichte.

Das Trio aber, das es während der Flut in NRW nach Mallorca drängte, steht nach wie vor auf der politischen Bühne. Alle drei brachten sich mit ihrem Schweigen in den Verdacht, Heinen-Essens jämmerliche Verschleierungs- und Täuschungsversuche vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags geduldet, wenn nicht gar begünstigt oder an ihnen sogar mitgewirkt zu haben. Auch diese drei Politiker sind rücktrittsreif.

Vom Lenker zum Gelinkten

Das Quartett, das nun zum Trio geschrumpft ist, bringt auch den CDU-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl, Ministerpräsident Wüst, in schiefes Licht. Schon stellt die Opposition die Frage, seit wann er von der Mallorca-Fete und ihren Umständen wusste.

Ist das alles mit Wüsts Wissen geschehen? Dann ist er Teil des Skandals. Dann können die Wahlkämpfer der CDU einpacken. Trifft seine Versicherung zu, dass er erst kürzlich von den Vorgängen erfuhr, macht es die Sache für ihn und seine Partei nicht besser. Dann nämlich hätte ihn das Trio Scharrenbach, Güler und Holthoff-Pförtner ins Messer laufen lassen.

Statt ihn frühzeitig zu warnen, hätten sie zugelassen, dass ihm der Skandal kurz vor der Wahl um die Ohren fliegt. Sie hätten sein Vertrauen gebrochen, seine Autorität untergraben, ihn vom Lenker zum Gelenkten und Gelinkten gemacht und seine Wahlchancen wie die der Partei kräftigt schmälert. Dass die NRW-CDU ihren Spitzenkandidaten für die NRW-Wahl in eine derart zwielichtige Lage bringt, ist die nächste Seite dieses Skandals.

Ein Geschenk des Himmels

Der ganze Vorgang erinnert an den Wahlkampf 2010. Damals versuchte CDU-Ministerpräsident Rüttgers, die Wiederwahl zu erreichen. Er schaffte es nicht, weil Intriganten in der NRW-CDU mit der SPD und SPD-nahen Journalisten kollaborierten und es Rüttgers nicht fertig brachte, diese Angriffe abzuwehren. Wüst droht in Rüttgers Rolle des hilflosen Ministerpräsidenten abzurutschen und bei der NRW-Wahl wie sein Vorgänger zu enden.

Sollte die NRW-CDU glauben, die Wähler würden den Vertrauensbruch der CDU-Führungskräfte nicht verstehen und nicht nachvollziehen können, wäre sie auf dem Holzweg. Der Auftritt des CDU-Chaos-Quartetts ist für die Opposition im Wahlkampf ein Geschenk des Himmels. Es kommt wie bestellt punktgenau zur rechten Zeit, als wären ein kluger Drehbuch-Autor und ein tüchtiger Regisseur am Werk gewesen.

Alle Parteien haben es im Wahlkampf gerade schwer, ihre Inhalte publik zu machen. Dieses Handicap liegt nicht nur daran, dass Putins Krieg die Schlagzeilen beherrscht, sondern wohl auch an der dürftigen Qualität der Wahlkonzepte. Trotz der schlechten Wahlkampfbedingungen kann die Opposition sicher sein, genügend Aufmerksamkeit zu finden, um den CDU-Skandal gewinnbringend auszuschlachten. Sie wird diese Gelegenheit nach Kräften nutzen. Hoffnungen wird sich vor allem die NRW-SPD machen.

Die SPD beflügeln

Ihr wird der CDU-Skandal bis zur Wahl helfen, den Wählern zu erklären, dass die NRW-CDU desolat ist und dass ihre Führungskräfte überfordert und führungsschwach sind. Genügend Anschauungsmaterial hat das CDU-Chaos-Quartett der SPD bereits geliefert. Gut möglich, dass die CDU bis zur Wahl noch mehr Stoff produziert, der sie diskreditiert. Schon heute kann der Wähler den Eindruck gewinnen: Die CDU ist drauf und dran, der SPD zu helfen, den nächsten Ministerpräsidenten zu stellen.

Landtagswahlen sind für die NRW-CDU offenbar eine Last. 2000 verhagelte Kohls Spendenskandal Rüttgers den Wahlsieg. 2010 wurde er Opfer von Intriganten in der Partei. Röttgen scheiterte 2012, weil er nicht dem Land, sondern seinem Ehrgeiz dienen wollte. Nun droht die Mallorca-Eskapade des CDU-Quartetts der Partei den Wahlkampf zu verhageln.

In diesem Zusammenhang warten noch mindestens zwei Fragen auf Antworten. Seit wann weiß die Opposition von den Gästen der Geburtstagsfeier auf Mallorca? Sie fand statt, als in der NRW-CDU noch darum gerungen wurde, ob Wüst oder Scharrenbach den damaligen Ministerpräsidenten und CDU-Landeschef Laschet beerben sollte. Dieser Sachverhalt wirft die zweite Frage auf: Was wurde wohl bei der Geburtstagsfeier des CDU-Quartetts auf Mallorca besprochen?

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.