Vorgestern Abend sass ich in Beuel mit politisch sehr verständigen klugen Menschen bei qualitativ hochwertigem Speis und Trank zusammen. Allen tat es gut. Nur Eine war U60. Diskutiert wurde dies und das, die Weltlage im allgemeinen und im besonderen. Dabei fiel der Satz: “Es gibt viel zu viele Blogs.” Es war schon so spät am Abend, dass ich zu sehr dem Wein zugesprochen hatte, als dass ich noch Lust zum Widerspruch gehabt hätte. Das hole ich hier nach.

Blogs sind ein Internetmedium. Sie werden nicht auf Papier gedruckt, kein Baum stirbt für sie. Sie sind auch nicht schwer zu tragen, weil sie alle in meinem Tablet drin sind. Niemand muss in Schnee oder Regen hinaus, um sie zu Empfänger*inne*n zu tragen, kein Moped oder LKW muss dafür angelassen werden, auch kein E-Fahrrad des Postboten. Serverrechenleistung ist der Ressourcenverbrauch. Der ist jedoch auch durch Unterlassen eines Blogs nicht aufzuhalten. Und worauf ich Wert lege: sie machen keinen Lärm. Sie belästigen niemanden, die*der sie nicht anklickt. Nichts klingelt, summt oder vibriert, was die*der Leser*in nicht selbst bestellt hat.

Auf der anderen Seite steht das Grundgesetz, das der Aussprechende o.g. Satzes übrigens besser kennt, als viele andere. Dieses Grundgesetz schützt Meinungs- und Pressefreiheit, und zwar nahezu unbegrenzt. Der Aufruf zu Gewalt oder anderen Straftaten ist verboten. Eine Vorschrift zugunsten vernünftiger gegenüber bescheuerten Meinungen existiert dagegen nicht. Es darf ausserdem jede*r all das äussern, was schon gesagt ist, aber noch nicht von allen. Es entsteht jede Menge Meinungsmüll und Desinformation – es ist aber nicht Staatsaufgabe, das zu entsorgen. Das muss jedefraus und jedermanns Hirn selbst erledigen. Unterricht darin, wie das geht, ist übrigens erlaubt, aber leider nicht in jeder Schule verfügbar. Das immerhin wäre Staatsaufgabe. Aber ich schweife ab …

“Zu viele Blogs” sind jedenfalls kein Schaden, sondern ein Segen. Es kann gar nicht genug geben für den Fluss von Informationen und Meinungen, zumal deren kommerzielle Produktion immer weiter zurückgeht.

Wenn es etwas “zu viel” gibt, dann sind es Parteien links der CDU/CSU, sowie deren Vorfeldorganisationen und Lobbyinitiativen. Jede*r mit ausreichend Ego gründet seinen eigenen Verein, um nach Möglichkeit keine Widerworte mehr ertragen zu müssen. Was am Ende zum Mord am öffentlichen Diskurs führt.

Was fehlt ist die Fähigkeit
– zur Konfliktaustragung
– zur Priorisierung zwischen wichtig und unwichtig, bzw. weniger wichtig
– zum dialektischen Denken
– zum Prozessdenken (“vom Ende her” oder “entscheidend ist, was unten rauskommt”)
– zur Empathie für potenzielle Bündnispartner*innen
– zur materialistischen Analyse
– zur Identifikation von Interessen, gemeinsamer vs. gegensätzlicher
– zur Kenntnisnahme differenzierter Analysen komplizierter Sachverhalte
– zu konditionsstarker Aufmerksamkeit für eine Sache oder Person oder Story oder Analyse oder Strategie

Würden diese Fähigkeiten erlernt und gelehrt, entstünde Bündnisfähigkeit und Fähigkeit plus Bereitschaft zu kollektivem Handeln statt nur individuellem Räsonieren. Letzteres ist nicht wertlos, im Gegenteil, aber nicht hinreichend. Es müssen auch nicht alle das Gleiche machen. Jede*r nach eigener Lust und Fähigkeit. Arbeitsteilung ist eine sinnvolle Erfindung. Sie bedarf in der Regel der Organisation. Organisationen gibt es, wie gesagt, mehr als genug, “zu viele”. Aber s.o.: wichtig, weniger wichtig, unwichtig. Gewerkschaften sind wichtig und aus gutem Grund vom Grundgesetz geschützt. Aus gleichem Grund werden sie in autoritären Systemen als erste verboten (oder gleichgeschaltet). Oft sind sie nicht gut genug, oft zu schwach, oft auch selber daran schuld. Aber das müssen die Mitglieder selbst ändern, auch wenns anstrengend und nervig ist.

Die Parteien links der CDU/CSU hätten auch dann einen Sinn, wenn sie arbeitsteilig arbeiten würden. Das schaffen aber selbst Koalitionsparteien nicht mehr. Sie bekämpfen sich gegenseitig. Und je weniger mächtig, umso eliminatorischer ziehen sie Befriedigung daraus, wenn sie eine Andere vernichten. Das ist nicht oppositionell, sondern systemnärrisch – das Fallen in die neoliberale Grube der “selbstoptimierenden” Individualisierung. Die ICH-AGs leben weiter – als Politzombie. Gruselig.

Sie putzen die Landebahn für Elon Musk, Peter Thiel, Jeff Bezos, Jack Ma, Mark Zuckerberg oder die hier. Denn die werden leider alle von ihren Mars-Expeditionen zurückkehren …

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net