Wer von Ihnen weiss noch, was sich hinter dem Begriff “NATO-Nachrüstung” verbirgt? Zunächst handelte es sich um die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen Pershing 2 und US-Cruise Missiles (eine frühe Form der “Taurus”-Lenkwaffen) in Europa, die alle mit atomaren Sprengköpfen von 25 Kilotonnen aufwärts ausgerüstet waren und bis zu 2.500 km fliegen, also Moskau erreichen konnten. Damit katapultierten sie den Ost-West-Konflikt des “Kalten Krieges” in eine massive Krise, die 1962 die Welt an den Rand des 3. Weltkrieges gebracht hat.
Am Rand des Abgrunds 1962
Was war damals passiert? Nikita Chruschtschow hatte als Generalsekretär der KPdSU beschlossen, das Cuba Fidel Castros mit atomaren Mittelstreckenraketen auszurüsten. Das bedeutete im “Kalten Krieg” zwischen USA und UdSSR, in dem sich beide Seiten ständig bedrohten und belauerten, eine Verkürzung der “Vorwarnzeit”, also der Zeit vom Beginn eines atomaren Angriffs bis zum Einschlag der Raketen beim Gegner von über 20 auf etwa vier Minuten. Da die Atommächte sich schon bewusst waren, dass gegenseitige Abschreckung nur beherrschbar sein kann, wenn z.B. die Präsidenten noch miteinander sprechen und schlimmstenfalls in letzter Minute die völlige Zerstörung des Planeten noch abwenden könnten .., war diese Reduzierung der “Vorwarnzeit” 1962 blockübergreifend ein “No Go”. Deshalb setzte John F. Kennedy alles daran, dass diese Raketen abgebaut wurden und nach der Cuba-Blockade 1962 war dies erfolgreich und eine Warnung. Seither gab es das “rote Telefon” der Präsidenten zwischen Washington und Moskau, um die Vernichtung der Menschheit zu vermeiden.
Reduzierte Vorwarnzeit als atomarer Wahnsinn
Das änderte sich 1982 mit dem Beschluss der Bundesregierung und der USA, als angebliche “Gegenreaktion” gegen die sowjetische Mittelstreckenrakete SS 20 “nachzurüsten” und in der Bundesrepublik Deutschland Pershing 2 und Cruise Missiles zu stationieren. Dadurch wurde die Vorwarnzeit wieder auf unter 6 Minuten verkürzt, wodurch die gegenseitige Vernichtungsgefahr dramatisch anstieg. Etwas relativiert wurde die damalige dramatische Lage für die USA. Interkontinentalraketen brauchten nach wie vor etwa 20 min. bis in die US-Provinz, und Europa möge bereits zerstört sein, der nukleare Gegenschlag der USA wäre noch möglich und damit die Drohung für die Sowjetunion aktuell und seriös. Darüber hinaus war die damalige Stationierung seitens des Westens mit einem Verhandlungsangebot über Abrüstung gekoppelt. Mit der Wandlung der Sowjetunion im Zuge von Gorbatschows Politik des “Glasnost” und der “Perestroika” entspannte sich die Blockkonfrontation und mündete in eine Phase der Abrüstung – zumindest bis Mitte der 2000er Jahre und dem Beginn der Ära Putin. Tausende von Atomwaffen wurden auf beiden Seiten zerstört. Gleichwohl reicht ihre Sprengkraft bis heute aus, um den Planeten vielfach in eine wasserlose Srahlenwüste zu verwandeln.
Braucht Europa neue, eigene Atomwaffen?
Im Zusammenhang mit der drohenden Entsolidarisierung einer möglichen Trump-beherrschten USA gegenüber der Ukraine und Europas geistert das Gespenst einer europäischen Atommacht durch die Zeilen der demokratischen Öffentlichkeit. Nun sind die französische “Force de Frappe” und die Nuklearpotenziale Großbritanniens im Rahmen der NATO klare Statements. Zu fragen, ob der Nuklearschild der USA im Sinne der Zweitschlagskapazität im Falle eines nuklearen Angriffs Russlands auf Europa noch gilt, oder nicht, ist müßig. Würde Joe Biden wegen eines Überfalls Putins auf einen baltischen Staat den “red button” drücken? In der Unsicherheit über die Antwort liegt die Unberechenbarkeit und Abschreckung für Putin. Die Folgen eines solchen Angriffs wäre jedenfalls die Totalvernichtung Europas – eine Drohung, von der heute niemand mehr glaubt, dass irgendjemand glauben könnte, dadurch irgendetwas zu gewinnen. Sämtliche Abrüstungsabkommen mit Ausnahme von den historischen “START”-Abkommen über die Begrenzung der strategischen Interkontinentalraketen sind gekündigt und laufen aus. Das ist potenziell bedrohlich für den Weltfrieden.
Putins Drohungen mit Nuklearwaffen …
In seinen Reden zum Überfall auf die Ukraine hat Vladimir Putin immer wieder unverhohlen mit dem Einsatz nuklearer Waffen gedroht. An sich waren diese Formulierungen nach der Entspannungspolitik der 90er und 2000er Jahre schon ein Tabubruch an sich, ein Trauma für das Vertrauen, das jahrelange Ostpolitik der Entspannung und Kooperation einst aufgebaut hatte. Putin musste aber auch wissen, dass diese nukleare Drohung hohl beibt, solange die europäischen Partner der USA deren NATO-Solidarität und der Garantie des nuklearen “Zweitschlagsfähigkeit” sicher sein können. Das ist nun durch den faschistischen Präsidentschaftskandidaten Trump und seine Tiraden gegen die NATO im allgemeinen und die EU-Partner im speziellen in Frage gestellt. Nun stellt sich für Europa die Frage, diese nukleare Zweitschlagsfähigkeit selbst sicherzustellen. Das Vereinigte Königreich verfügt über vier Atom-U-Boote der Vanguard-Klasse mit Nuklearwaffen – je 16 Trident-Interkontinentalraketen – die durch sieben neue U-Boote bis 2028 abgelöst werden sollen. Frankreich und seine “Force de Frappe” verfügt über U-Boote der “Triomphant” Klasse und etwa 290 nukleare Raketen auf U-Booten, darüber hinaus mindestens 48 bodengestützte Atomraketen vermutlich mit Mehrfachsprengköpfen. Über die Zahl der von Mirage IV Atombombern und die Zahl abzuwerfenden Atomwaffen werden keine Informationen verbreitet. Ob sie bis Moskau fliegen könnten, ist fraglich, denn ihre Reichweite liegt bei nur 1.240 km.
…und Europas Zweitschlagsfähigkeit
Trotzdem gibt es deshalb keinen Grund zur Panik in Europa, dass es nach einer Machtübernahme des Faschisten Trump in den USA keine glaubhafte atomare Abschreckung mehr gäbe. Allerdings wäre es Aufgabe der beiden Atommächte Frankreich und Großbritannien, dies in der EU und der NATO einmal gemeinsam deutlich zu machen. Eine nukleare Teilhabe Deutschlands ist dabei nur so denkbar, wie sie schon mit den USA besteht: Die Deutschen dürfen in Ramstein oder in BücHel die US-Atomwaffen an ihre Tornados oder F 35 hängen, aber nur unter Aufsicht des US- oder der britischen oder französischen Armierungsoffiziere. Der französische Präsident oder der britische Premierminister drücken allein auf den roten Knopf. Eine deútsche Atommacht bleibt auf jeden Fall aufgrund internationaler Abkommen ausgeschlossen. Das ist gut so und das hat übrigens die gleichen historischen Gründe, aus denen es ein entscheidender politisch-historischer Unterschied wäre, wenn z.B. die Krimbrücke durch britische oder französische Cruise Missiles zerstört würde oder etwa durch die deutschen “Taurus”. Die politischen Folgen für die Propaganda der Herrschenden und das Denken der Bevölkerung – nicht nur in Russland – wären unter Umständen unabsehbar. Denn das ist ein weiterer Teil des historischen “Nie Wieder”, als Verpflichtung eines demokratischen Deutschland, das weder Agnes Strack-Zimmermann und Toni Hofreiter noch Friedrich Merz und Markus Söder verstanden haben, weil sie geschichtlose Gesellen sind.
Es geht im Kern um innereuropäische Hackordnungen
Genau an diesem Punkt treffen unterschiedliche Interessen der europäischen NATO-Partner aufeinender. Charles de Gaulle hat es bei aller Freundschaft zu Konrad Adenauer immer abgelehnt, den Westdeutschen Zugriff auf Atomwaffen zu gewähren. Er trat sogar aus der NATO aus. Die Atomwaffen unter “Starfighter” und “Tornado” in Deutschland waren und sind US-amerikanische Atomwaffen unter Schirmherrschaft der US-Army. Heute geistert eine Lösung für die europäische Atombewaffnung durch die Brüsseler (oder eher Berliner?) Planungsgehirne, dass der “Koffer mit dem roten Knopf” im Turnus zwischen den wichtigsten Staatpräsidenten, Kanzlern oder Präsident*innen der EU als “Wanderpokal” weitergereicht werden sollte. Welch ein Unsinn! Absurder geht es gar nicht.
Nukleare Abschreckung ohne die USA gibt es schon
Artikel fünf NATO-Statut, das die Teilnehmer zum Beistand verpflichtet, wird ein Mitglied angegriffen, regelt auch diesen Fall. Auch ohne die USA ist die atomare Zweitschlagsfähigkeit zweifellos gegeben, reicht aus, um Europa von Russlands Westgrenze bis weit hinter den Ural bis Wladiwostok in Schutt und Asche zu legen. Ob die nukleare Zweitschlagsbereitschaft besteht, ist genauso sicher oder unsicher, wie Putins bisherige Drohungen mit einem atomaren Angriff oder Erstschlag. Also gilt es mit kühlem Verstand und ohne ideologische Scheuklappen, diese höchst brisante Situation zu analysieren und daraus Konsequenzen zu ziehen. Auch wenn es sich viele nicht klar machen: Europa und Russlands stehen bereits am atomaren Abgrund! Und das bei einer Vorwarnzeit von 4-6 Minuten. Ohne dabei allzu Kölsch zu werden, könnte man daraus auch ableiten: “Et hätt noh emmer jotjejange!” Natürlich weiss das Vladimir Putin auch. Und die Kalkulation, dass die Situation bei Nuklearwaffeneinsatz jeder Art schnell außer Kontrolle geraten könnte, hat den Kontrollfreak Putin bisher sicher davon abgehalten. So wie er mit der nuklearen Karte gedroht hat, sollte die NATO ihn über diese Option keinesfall im Unklaren lassen. Nicht um zu eskalieren, aber um auf die vorhandenen Folterwerkzeuge hinzuweisen.
Kurze Vorwarnzeit ein reales Problem
Die Vorwarnteit von 4-6 min. aus Nachrüstungszeiten gilt inzwischen für beide Seiten und ist ein reales Sicherheitsproblem. Aber weil es für beide Seiten gilt, könnte es durchaus sein, aus dieser Lage nicht nur als Drohung Nutzen zu ziehen, sondern eine Garantie in zukünftigen Verhandlungen dahingehend anzubieten, im Falle von Verhandlungen über den Ukrainekonflikt einen zeitlichen Kommunikationskorridor zu vereinbaren, der eine beiderseitige Vernichtung aus Versehen unmöglich macht. Und schon haben wir einen wichtigen Punkt für mögliche Verhandlungen in der Zukunft identifiziert. Nachdenken lohnt sich immer, lieber Rolf Mützenich, auch wenn beim “Einfrieren” nicht immer klar berechenbar ist, wer wann den Konflikt wieder “auftaut”.
Keine ausufernde Aufrüstung
Es ist zweifellos geboten, dass sich Europa und die NATO aufgrund des Überfalls von Putin auf die Ukraine und der drohenden Abkoppelung der USA aus allen Sicherheitssystemen durch einen debilen Wahl-Potentaten Trump einer eigenen Verteidigungsfähigkeit – auch der nuklearen Abschreckung – versichert. Eine rationale, vernuftgesteuerte Verteidigungsfähigkeit ist so notwendig wie selbstverständlich. Dazu gehört Ersatz und Modernisierung der an die Ukraine abgegebenen Waffen wie auch neue, nicht militärische Überlegungen. Zum Beispiel über soziale Verteidigungsfähigkeit – aber dies ist ein anderes Thema. Was Europa nicht braucht, sind Thesen von Ideologen und Feinbildarchitekten, die mit Horrorgeschichten über Putins Pläne aufgrund seines Geschichtsrevisionismus mit militärischen Mitteln eine tiefgreifende Militarisierung der europäischen Gesellschaften fordern. Von der Schulbildung bis zur Granatenproduktion. Dabei sind noch immer die Rüstungsaufwendungen und ökonomischen Fähigkeiten des Westens, Russland und seine Bündnispartner in Schach zu halten, mehrfach überlegen – wenn sie es denn wollen. Europa ist auch ohne den atomaren Schirm der USA in einer möglichen Zeit von Trump nicht wehrlos. Um so mehr ist es entscheidend, nicht ständig wie das Kaninchen auf die US-Wahlen zu starren und damit aus einem vor diversen Pleiten stehenden Regenwurm eine Schlange zu machen.
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