… statt FDP im Rückwärtsgang

I.

Immer stärker muss man den Eindruck gewinnen, dass in der Bundesregierung zusammen arbeitet, was nicht zusammen gehört. Das gilt in besonderer Weise für alle Fragen, bei denen es um sozialen Ausgleich und um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen geht. Die FDP, die doch erklärt hatte, Teil einer „Fortschritts-Koalition“ werden zu wollen, hat den Rückwärtsgang eingelegt. Rückschritt ist genügend Fortschritt scheint die Linie zu sein.

Ein Lieferkettengesetz, das die Verantwortung von Unternehmen für die sozialen und ökologischen Folgen ihrer Produkte verankert, hat sie aufzuhalten versucht. Nachdem sie damit in der EU gescheitert ist, will sie das geltende deutsche Lieferkettengesetz aussetzen.

Das Klimaschutzgesetz wurde auf ihren fast schon erpresserischen Druck so aufgeweicht, dass Deutschland seine internationalen Verpflichtungen schwerer wird einhalten können.

Die Förderung der erneuerbaren Energien, ohne die Deutschland die Klimaziele nicht erreichen kann, will sie „schnellstmöglich beenden“.

Mindestens drei Jahre soll die Politik keine neuen Sozialleistungen beschliessen. Stattdessen soll der Solidaritätszuschlag abgeschafft werden, den nur noch wenige Prozent der Steuerpflichtigen bezahlen, die mit den allerhöchsten Einkommen.

Der Markt löset alle Probleme, so lautet das neue alte Mantra. Der Staat soll sich raushalten, ausser wenn er Steuern für Unternehmen senkt, Subventionen zahlt oder Menschen, die Sozialleistungen bekommen, unter Generalverdacht stellt.

II.

Es gibt aber auch Mitglieder der FDP, die andere Vorstellungen davon haben, was Politik in Zeiten ökologischer Krisen und gewachsener sozialer Ungleichheit leisten muss. Einer von ihnen ist Stefan Brunnhuber, Chefarzt in Sachsen und Professor für Nachhaltigkeit und Sozialmedizin an der Hochschule Mittweida. Er sieht sich als Schüler von Ralf Dahrendorf, der wie er ein nicht ganz konventionelles Mitglied der FDP war.

Im Oktober letzten Jahres hat Brunnhuber das Buch „Freiheit oder Zwang. Wer kann Nachhaltigkeit besser – offene Gesellschaften oder Autokratien“ veröffentlicht.

Brunnhuber hat den Anspruch, Grundsätze eines „aufgeklärten politischen Liberalismus 2.0 im 21. Jahrhundert“ zu formulieren. Was er schreibt, unterscheidet sich grundsätzlich von den gedanklichen Schablonen, derer sich die real existierende FDP in Bundesregierung und Bundestag bedient. Brunnhuber ist Mitglied der FDP und zugleich ein moderner Liberaler. Deshalb ist er so frei, die Aufgaben, vor denen die Menschheit in einzelnen Ländern und weltweit steht, Ernst zu nehmen. Sein Buch lohnt das Lesen, auch wenn man seine schematische Entgegensetzung von „offenen Gesellschaften“ und „Autokratien“ für irreführend oder überzogen hält und auch anderes für diskussionswürdig oder nicht überzeugend.

Wie es sich für einen guten Liberalen gehört, stellt er in den Mittelpunkt seiner Überlegungen die Frage, was „Freiheit“ heute bedeutet. Damit müssen sich alle auseinandersetzen, die verantwortlich Politik machen wollen.

„In mehrfacher Hinsicht stellen die ökologischen Herausforderungen die Freiheitsfrage also neu. Aus einer zeitlichen Perspektive lautet sie: Ist es erlaubt, dass ich meine Freiheiten auf Kosten zukünftiger Generationen durchsetze? Aus einer geografischen Perspektive muss gefragt werden: Ist es erlaubt, dass ich meine Freiheiten auf Kosten der Freiheiten anderer Menschen in anderen Regionen der Welt durchsetze… Es geht also um neue Spielregeln des Liberalismus.“

III.

Dafür müsse es offenen Gesellschaften gelingen, „den einseitigen ökonomischen Liberalismus der vergangenen 30 Jahre zu überwinden“.

Der wurzelt nach Brunnhubers Auffassung in einem falschen Verständnis von „Freiheit“:

„Persönliche Freiheit heisst nicht, dass jeder macht, was ihm gerade in den Sinn kommt, oder sich stumpf und ständig bereichern muss, sondern vielmehr, dass man wählen darf, weniger zu brauchen und weniger zu wollen. Die Kunst des Neinsagens und Weglassens, der Genügsamkeit und der Veränderung sowie die Kritik am Status quo sind wesentliche Bausteine der Freiheit.“

Er hat einen klaren Blick auf die ökologischen Krisen und spricht davon, dass die „Bausteine und Komponenten neu ausgerichtet (werden), so dass sie im Ergebnis anders zueinander in Beziehung stehen. Ein solcher Wechsel des Aggregatzustandes steht uns als Gesellschaft jetzt bevor. Dabei geht es nicht um den ewigen Frieden´(I. Kant), sondern darum, dass wir die Hölle auf Erden verhindern.“

Diese Feststellung hat handfeste Folgen: „Wir müssen uns jetzt unser Leben innerhalb von unverrückbaren Grenzen völlig neu und vor allem selbst organisieren. Dabei handelt es sich um zwei Formen von Grenzen: die planetaren äusseren und die psychologisch inneren Grenzen unseres Denkens, Handelns und Entscheidens.“

Während Deregulierung, die Freistellung unternehmerischen Handelns von sozialen und ökologischen Verpflichtungen nicht nur in Deutschland und nicht nur in der FDP wieder und noch immer Konjunktur haben, plädiert Brunnhuber nüchtern für eine „Renaissance von Governance, Verwaltung und Regulierung“.

Es gehe darum, eine „neue wirtschaftspolitische Agenda auf den Weg zu bringen. Mit ihr könnten systemrelevante Industrien – Gesundheitswesen, Pharmazie, regionale Landwirtschaft – und öffentliche Angelegenheiten (Forschung und Bildung, öffentliche Infrastruktur) zum Wohle der Bürger angemessen reguliert werden.“

IV.

Gleichermassen fern von Markt-Gläubigkeit und Staats-Fixierung fragt und antwortet er:

„Was ist ein privates Gut, und was sollte besser als öffentliches Gut verwaltet werden? Gesundheitsversorgung, Bildung und Infrastruktur sind Beispiele für Letzteres. Dazu würde eine Verlagerung unseres Energiesektors weg von der zentralisierten fossilen Industrie hin zu stärker dezentralisierten und regionalisierten erneuerbaren Energien gehören.“

Für Brunnhuber ist klar: „Eine Offene Gesellschaft sollte, …, gegenüber der Frage, ob wir mehr Markt oder mehr Staat benötigen, neutral bleiben. Bedeutsam sollte vielmehr die Frage sein, welche Interventionen und welche Sozialmechanismen ein Höchstmass an personalen Freiheitsgraden möglich machen und nachhaltig garantieren. Die traditionelle Gegensatzbeziehung von Staat und Markt verliert im 21. Jahrhundert an Bedeutung, sie stellt in Teilen einen falschen Widerspruch dar.“

Genau dieser falsche Gegensatz hat aber die politischen Debatten und die praktische Politik der Jahrzehnte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und mit der immer grösseren Macht der Finanzmärkte bestimmt. Deshalb hält Brunnhuber weit über Deutschland hinaus nicht nur eine „Wirtschaftswende“ für nötig, die sich ganz anders liest als aktuelle Präsidiums- und Parteitagsbeschlüsse der FDP:

„Das 21. Jahrhundert beginnt als ein Jahrhundert der Unordnung. Von 179 Staaten tragen 117 die Merkmale von Failed States. Gleichzeitig haben wir die Friedensdividende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts verspielt, weil wir auf einen Automatismus von Demokratie und dereguliertem Markt gesetzt haben. Frieden, Wohlstand und Nachhaltigkeit sind jedoch keine Selbstläufer, und der Liberalismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat vielmehr in eine Überdehnung (overstretch) geführt, die offenlegt, dass Interventionen nicht nur wertebasiert, sondern vor allem interessengeleitet waren.“

Was das bedeutet, sagt Brunnhuber auch klar und unmissverständlich:

„…der westliche Werteuniversalismus wird Propaganda bleiben, solange er nicht zeigen kann, dass die selbsteingesetzte Technologie und die selbstrealisierte Wirtschaftsform wirklich universalisiert werden können. Derzeit gehen sie auf Kosten des globalen Südens, der Natur und der Zukunft. Es gibt kein Recht auf einen SUV oder einen Pool, aber eines auf Unversehrbarkeit, Würde und Grundbedürfnisse.“

Wie eine ganz aktuelle Warnung an die Verantwortlichen der FDP liest es sich, wenn Brunnhuber schreibt: „Wir haben in den 1990er Jahren den Fehler gemacht, Privatisierung und Liberalismus gleichzusetzen. Diesen Fehler sollten wir nicht noch einmal machen.“

V.

Brunnhuber hat auch eine realistische Vorstellung davon, dass die ökologischen Probleme bei weitem nicht von allen gleichermassen verursacht werden und dass in vielen Fällen die am stärksten darunter leiden, die am wenigsten dafür verantwortlich sind.

„Umweltkrisen beginnen häufig am unteren Ende der Gesellschaft und werden dort am stärksten negativ wahrgenommen. Hohe Nahrungs- und Energiepreise, verschmutzte Luft, Lärm, schlechte Infrastruktur sowie Umweltkatastrophen treffen die Ärmsten am meisten.“

Das gilt sowohl im weltweiten Vergleich als auch in den einzelnen Ländern und Gesellschaften.

Gegen den Kern eines falsch verstandenen Verständnisses von Freiheit und Liberalismus geht es, wenn Brunnhuber schreibt:

„Ständiger Konsum, Dauerbespassung und eine fortwährende quantitative Steigerung gehören nicht zum Kernbestand einer Offenen Gesellschaft. Sie kann niemals alle glücklich machen, aber sie leistet einen Beitrag dazu, das Leid ihrer Mitglieder zu verringern…

… es geht darum, Schmerz, Armut, Hunger, Krankheit, soziale Ausgrenzung zu verringern, das Fehlen von Grundsicherungen und Grundgütern zu reduzieren, eingeschränkte Menschenrechte und schlechtere Lebenschancen oder auch die flächendeckende Umweltzerstörung zu minimieren.“

Bemerkenswert ist, wie deutlich Brunnhuber die systemischen Voraussetzungen und Folgen des herrschenden Wirtschaftsmodells sieht und kritisiert:

„Solange ökonomische Unterschiede nur durch hohe soziale und ökologische Externalitäten erwirtschaftet werden, gehen sie auf Kosten Dritter oder des Gemeinwesens und sind dann sicherlich nicht nachhaltig. Zudem bergen hohe monetäre Unterschiede immer die Gefahr, dass sie sich in ungleiche politische Einflussnahme und Macht übersetzen. Eine kritische Ordnung der Freiheit kann das so nicht wollen.“

Brunnhuber weiss, dass individuelle Freiheit an Voraussetzungen gebunden ist, die nur gesellschaftlich geschaffen und garantiert werden können:

„In jedem Fall gilt: Es gibt in einer Offenen Gesellschaft kein Anrecht auf einen SUV, einen Pool oder einen privaten Gärtner, aber es gibt eines auf Kleidung und Nahrung, Bildung und Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Kindergarten, Pflege und Teilhabe an Kulturleistungen, also auf eine Grundausstattung, die individuelle Freiheit ermöglicht. Was zu einer solchen Grundausstattung zählt, unterliegt dem Konsens der Mitglieder einer Offenen Gesellschaft.“

Eine solche Einstellung ist für den Vorsitzenden der FDP, wenn er meint, was er immer wieder sagt, ein Zeichen von Anspruchs- oder Gratismentalität, weil die Menschen mehr vom Staat erwarteten als von sich selbst.

VI.

Stefan Brunnhuber hat ein Buch geschrieben, das Menschen zum Nachdenken anregen kann, die nicht schon seit langem für eine sozial-ökologische Transformation eintreten, aber mit wachem Sinn wahrnehmen und beobachten, vor welchen grossen Aufgaben wir nicht nur in Deutschland stehen.

Vor das Inhaltsverzeichnis sind Zitate gesetzt, die den Autor und seine Überlegungen loben. Darunter ist auch der Vorstandsvorsitzende der FDP-nahen „Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“ Karl-Heinz Paqué, der von 2002 bis 2006 Finanzminister in Sachsen-Anhalt war. Er sagt: „Stefan Brunnhuber stellt grosse Fragen und gibt liberale Antworten. Lesenswert.“

Meint er das Ernst? Ich kenne von der Naumann-Stiftung jedenfalls keine Initiative, keinen programmatischen Anstoss, der aufnimmt, was Brunnhuber über einen „aufgeklärten Liberalismus 2.0 im 21. Jahrhundert“ schreibt. Vielleicht kommt das ja noch.

Hätte Brunnhuber mit seinen Analysen, mit seinen Orientierungspunkten Einfluss auf die Politik der FDP in Bundestag und Bundesregierung, dann wäre in vielen Bereichen mehr Fortschritt möglich: gesellschaftlich, sozial, ökologisch und auch wirtschaftlich.

Die drei Parteien,die die Bundesregierung bilden, hätten dann noch immer genügend Stoff für politische Auseinandersetzung und eigenes Profil. Eine FDP à la Brunnhuber wäre aber Teil einer wirklichen Fortschritts-Koalition.

Stefan Brunnhuber „Freiheit oder Zwang. Wer kann Nachhaltigkeit besser – Offene Gesellschaften oder Autokratien?“ oekom Verlag, München ISBN 978-3-98726-036-0.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Blog der Republik, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Einige Links wurden nachträglich eingefügt. Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz.

Korrekturhinweis: durch einen Klickfehler des Redakteurs war in der Dachzeile zunächst in der Nacht von Sonntag auf Montag der falsche Autor angezeigt, 

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