Er hat es schon wieder getan: Der türkische Ministerpräsident Erdogan instrumentalisiert die türkische Armee und nun auch die NATO für seine politischen Zwecke. Was steckt hinter den Angriffen gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK? Nach außen hat der türkische Präsident, der eigentlich keine Regierungsgewalt hat, angekündigt, sowohl gegen den Terrror des Islamischen Staats wie der PKK vorgehen zu wollen. Schon die Verhaftungszahlen des ersten Tages zeigen, worum es ihm wirklich geht. Während über 1.100 Menschen verhaftet wurden, darunter 850 Kurden, die angeblich mit der PKK sympathisierten, sind von ganzen 137 festgehaltenen IS-Verdächtigen gleich wieder 120 auf freiem Fuß gesetzt worden.

Im türkischen Parlament, wo die sozialliberale kurdische Partei mit 13% vertreten ist und damit verhindern konnte, dass die APK Erdogans über die absolute Mehrheit verfügt, die er anstrebte, um sein Präsidentenamt noch absolutistischer ausüben und die Verfassung ändern zu können, wurde die kurdische Opposition gestern von Erdogans Marionette, dem Ministerpräsidenten diffamiert und in die Nähe des Terrorismus gerückt. Mit dieser Politik verfolgt Erdogan zwei Ziele:

Innenpolitisch sollen bald Neuwahlen ausgerufen werden, zu denen er hofft, die unbequeme demokratische Kurdenpartei entweder unter die 10%-Hürde zu drücken oder gar im Vorfeld zu verbieten. Außenpolitisch ist Erdogan entschlossen, das immer wahrscheinlichere Entstehen eines kurdischen Staates mit allen Mitteln zu verhindern.

Frieden als Mogelpackung

Der Friedensprozess, den er vor zwei Jahren mit der PKK eingeleitet hat, entpuppt sich derzeit als taktisches Manöver. Dabei geht er nach der Devise “divide et impera” vor, indem er die konservativen Stammeskämpfer der Kurden im Nordirak unter Barsani und Talabani – noch – weitgehend schont, um gegen die Kurden in Syrien, die in den vergangenen Monaten tapferen Widerstand gegen den IS geleistet haben und denen zehntausende Jeziden ihr Leben verdanken, um so härter vorzugehen, sie zu bombadieren und niederzumachen. Es sind mitnichten nur “PKK-Terroristen”, die von der türkischen Luftwaffe beschossen werden, sondern die Kurden in der Osttürkei und in Syrien, deren Verbrechen es in seinen Augen ist, dass sie mit ihrem Widerstand gegen die Terrormiliz IS auch ihre eigene Hoffnung auf politische Einheit, möglicherweise staatliche Souveränität verbinden. Damit stehen sie den Plänen Erdogans, der von einem post-osmanischen Reich träumt, massiv im Weg.

Erdogan unterstützt den IS

Erdogan duldete, möglicherweise sogar unterstützte heimlich seit Monaten den IS im eigenen Land, weil er glaubte, dass die sunnitischen Extremisten seinen Zielen eines panarabischen Großreiches dienlich sein könnten, indem sie ein Machtvakuum im Irak und in Syrien schaffen könnten, in das die Türkei früher oder später politisch oder militärisch nachstoßen könnte. Immer wieder gibt es Berichte von Ausbildungslagern der IS-Kämpfer, die sogar unbehelligt in den Bergen hinter Istambul ihr Unwesen treiben dürfen. Von Anfang an wurden verwundete IS-Kämpfer in den türkischen Krankenhäusern entlang der Grenze zu Syrien und dem Irak behandelt und die Türkei hat praktisch nichts unternommen, um den Strom des Nachschubs an Waffen, Munition und vor allem Pickups voller Freiwilliger zum IS zu unterbinden. Nach wie vor ist die Türkei das Haupt-Transitland für die inzwischen schätzungsweise über 4.000 Extremisten aus Europa, die sich an Mord, Vergewaltigung und Zerstörung des IS beteiligen.

Anschläge zum Dank

Verrechnet hat sich Erdogan nur insofern, als die selbsternannten Gotteskrieger inzwischen nicht mehr davor zurückschrecken, auch in der Türkei Anschläge zu verüben. Aber kreativ, wie der machtbesessene Islamist in Nadelstreifen ist, nutzte er die Anschläge des IS für eine militärische Offensive möglicherweise gegen den IS, vor allem aber gegen diejenigen Kurden, die sich gerade in der Augen der internationalen Gemeinschaft durch ihren Kampf gegen die islamistischen Terrorbanden um die Zivilisation verdient gemacht haben. Die Bomben der türkischen Kampfflugzeuge treffen nun jene, die sich angesichts den Wirren der terroristischen Warlords und Splittergruppen anschickten, sich zum ernstzunehmenden Stabilitätsfaktor zu mausern. Hierzu, glaubt man etwa dem “Kölner Stadtanzeiger”, haben die USA und die NATO Erdogan praktisch einen Freibrief gegeben, um zu erreichen, dass er überhaupt etwas gegen den IS unternimmt.

EU ohne gemeinsame Strategie

Welche Sicherheitsinteressen hat die Europäische Union im Nahen Osten? Neben Frieden und Sicherheit für Israel und die arabischen Staaten ist es ein immer dringender werdendes existenzielles Interesse der EU, den Krieg in Syrien zu beenden, Libyen und die anderen Mittelmeerstaaten zu stabilisieren und einen friedlichen Wandel zu unterstützen sowie im Irak, Somalia und Äthiopien wirtschaftlich und politisch gemäßigte Kräfte zu unterstützen, damit den islamistischen Terroristen der Nährboden entzogen wird. Gleichzeitig würden damit auch die wichtigsten Fluchtursachen bekämpft, die aktuell Flüchtlinge zu tausenden zwingt, die lebensgefährlichen Fluchtwege vor allem über das Mittelmeer auf sich zu nehmen. Alles gute Gründe, dass sich die EU in dieser Region stärker engagiert und einmischt. Aber das klappt nicht, wenn 28 Außenpolitiken gemacht werden, sondern erfordert eine gemeinsame Strategie. Leider ist die EU mit ihrer schwächlichen und immer blasseren Außenbeauftragten dazu wohl kaum fähig. Solange sich dies nicht ändert, wird die Erdogan der EU in dieser Region politisch weiter auf der Nase herumtanzen.

Interessen von NATO und EU entgegengesetzt

Aus Sicht der Europäischen Gemeinschaft, um deren Sicherheitsinteressen es im Nahen Osten geht, ist das Vorgehen der NATO und der Vereinigten Staaten kontraproduktiv, ja sogar höchst gefährlich. Es zeigt aber auch, wie erpressbar und untauglich ein Bündnis geworden ist, das einst gegen den kommunistischen “Warschauer Pakt” gerichtet war, den es heute nicht mehr gibt. Statt die durch den islamistischen Terror ebenso wie die gemäßigt islamistische Politik Erdogans gefährdeten Sicherheitsinteressen der EU zu wahren, hat die NATO gerade mal das dreist und wiederholt von der Türkei geäußerte Begehren abgelehnt, die kriegerischen Machenschaften Erdogans auch noch durch die Annahme eines Spannungs- oder Bedrohungsfalles zu unterstützen. Auch dies ist ein guter Grund, die Berechtigung der NATO für die Zukunft in Frage zu stellen, weil sie lediglich eskalieren, nicht aber entspannungspolitisch wirken kann.

EU-Verhandlungen als Druckmittel?

Entspannungspolitik wäre jedoch die Politik, die die Region und die Türkei selbst unbedingt braucht – innenpolitisch wie außenpolitisch. Hier beschränken sich die EU-Politiker bisher auf Appelle, die erfahrungsgemäß an Erdogan abperlen, wie Wasser an der Teflonpfanne. Die EU könnte eine Menge unternehmen, um Erdogans zwielichtigem Tun entgegenzuwirken. Ob ein Aussetzen der EU-Beitrittsverhandlungen noch ein Druckmittel ist, könnte überlegt werden. Politische Kontakte und Besuche hochrangiger Politiker bei der demokratischen kurdischen Partei würden es Erdogan jedenfalls erschweren, diese in die extremistische Ecke zu stellen. Aber vielleicht könnten auch unkonventionelle Schritte, wie ein Besuch von hochrangigen EU-Diplomaten im Gefängnis bei Öcalan, um eine Deeskalation zu erreichen und so Erdogan zur Mäßigung zwingen. Die bedingte Aufhebung des PKK-Verbots in der EU, das ohnehin angesichts des begonnenen Friedensprozesses eher fraglich erschien, könnte man erwägen. All dies würde Erdogan zeigen, dass er sich bei seinen pan-islamistischen Plänen nicht der EU als willigem Partner sicher sein kann. Und dass sich die EU nicht wie die NATO von seiner infamen Gleichsetzung von IS-Mörderbanden und prosozialistischer PKK verwirren lässt.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net