Adenauer, Brandt, Kohl – diese Bundeskanzler haben Spuren in der Geschichte dieser Republik hinterlassen. Jetzt gelingt das auch Angela Merkel. Bei den drei Vorgenannten ging es danach allerdings bergab. Das wäre Merkel (jetzt noch) nicht zu wünschen.
Es gibt asylpolitische und -rechtliche Gründe an Merkels flüchtlingspolitischer Läuterung zu zweifeln. Ihre eigenen Leute tun es anscheinend aber nicht. Was sind die Gründe für diese Widersprüchlichkeit?
Ja, es stimmt: Flucht aus Afghanistan und Syrien, Flucht aus und über Libyen ist wesentlich durch westliche, und damit mal mehr, mal weniger deutsche Beteiligung, “verursacht”. Dass tausende Menschen im Mittelmeer jämmerlich ersaufen, hat die Europäische Union, seit der Griechenland-Krise mehr denn je unter unausgesprochener aber faktischer deutscher Führung, zu verantworten. “Unsere” Waffenlieferungen in die Krisengebiete, die immerhin sind schon außergewöhnlich bekannt, zumindest für die wenigen, die davon wissen wollen. Besonders teuflisch, dass nun die Staaten, die aufgrund des von Deutschland mitinitiierten Endes von Jugoslawien entstanden, und heute überwiegend hochkorrupte, mafiöse und teilweise aus ehemaligen Terroristen zusammengesetzte Regierungen haben, als “sichere Herkunftsstaaten” zurechtdefiniert werden. Menschen, die dort pogromartig diskriminiert werden, sollen nicht mehr von dort nach hier flüchten können, meinen die Innenminister anscheinend aller EU-Länder. Den deutschen Innenminister empört es außerdem, stellvertretend für die Bürokratien in Bundesländern und Kommunen, dass die Flüchtlinge sich anheischig machen, sich sogar “selbst zu verteilen”, statt sich wochen- und monatelang behandeln und einweisen zu lassen. Sie haben den Glockenschlag noch nicht verstanden.
Die Menschen warten nicht mehr auf die Politik und die Bürokratie. Das Leben ist dafür zu kurz. Internet und Mediennetzwerke sowie ihre kostengünstige Nutzung sind kein Privileg mehr oder weniger bewusstloser KonsumentInnen in den reichen Ländern. Sie sind noch viel wichtiger für die Organisation des Überlebens unter diktatorischen Regimen und in Kriegssituationen. Und sie haben den Vorteil, dass man ihre Nutzung schneller lernen kann, als Regime und Bürokratien dazu in der Lage sind. Das verschafft einen logistischen Mobilitätsvorsprung, wie er sich nicht nur in der Arabellion, sondern auch an ungarischen Stacheldrahtzäunen gezeigt hat. Und ja: die Bundeskanzlerin kennt sich mit Medientechnik aus, ihr ist das nicht entgangen.
Das schockt nicht nur ihre überalterten Parteifunktionäre, sondern auch die ihr einstmals gewogenen Leitmedien, die nun zu Recht fürchten müssen, dass die Bundeskanzlerin sich über sie hinweg quasi direkt mit der flüchtlingspolitisch engagierten Bevölkerung verbünden will. Diese Leitmedien fürchten die Unausweichlichkeit ihrer eigenen Titanic-Katastrophe, den Verlust ihres zuverlässigen Lobbyschutzes von “ganz oben” – Panik!
Anne Will, die privat mit der Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel zusammenlebt, wird das Geschenk, das Merkels Besuch in ihrer Show darstellte, hinreichend am Frühstückstisch analysiert haben. Und umgekehrt hat Merkel Will sehr zielsicher ausgewählt. Ihre Medienberaterin Eva Christiansen ist, anders als eine Dame gleichen Nachnamens, so wenig bekannt, wie sie umgekehrt kompetent ist.
Merkel spricht in der Flüchtlingspolitik nun seit einigen Wochen schlichte Wahrheiten aus, wie es bisher nur die Grünen gewagt haben. Ihre faktische Flüchtlingspolitik hat sich dadurch noch nicht geändert. Was hier passiert, ändert noch keine politischen Fakten, aber Strategien. Darum auch die große Aufregung. Die Kanzlerin nutzt ihre Macht, um den kompletten Diskurs zu verschieben. Ihr strategisches Interesse ist es, Deutschland fit für die globale Großmachtkonkurrenz der Zukunft zu machen. Die “Musik” spielt zur Zeit in Ostasien. Das ist gefährlich für das einst weltbeherrschende, jetzt von Deutschland angeführte, Europa. Das darf sich, wenn es mithalten will, nicht abschotten, sondern muss sich im Gegenteil öffnen, und zwar radikal und schnell. Die jungen Afrikaner und Araber sind dafür eine Chance, keine Bedrohung. Und lieber “Städte- und Gemeindebund”: sie sind es eher mit ihren Frauen und Kindern, als ohne sie!
Von diesen Erkenntnissen war die deutsche Öffentlichkeit bis vor einigen Wochen meilenweit entfernt, Helmut Kohl und Otto Schily sei Dank! Und nun wird sie mehr oder weniger brutal von der Physikerin durchgeschüttelt. Wer diese Grundtatsachen intellektuell nicht anerkennen will, wird möglicherweise sehr schlimme Unfälle fabrizieren. Das muss verhindert werden. Denn es geht um viele Menschenleben.
Und haben Sie’s gemerkt? Die SPD kommt hier gar nicht vor.
Es ist nicht auszuschliessen, dass Merkel dank ihres analytischen Realismus sich in der Sache durchsetzen, aber gleichzeitig von den Diadochen ihrer Partei geopfert wird. Das könnte eine Parallele zu Willy Brandt werden (und auch Kohl ist ja durch sie selbst, die Parteifreundin, gestürzt worden). Denn wer sind die Fußtruppen und Seilschaften, die für sie kämpfen? Altmaier in der Burg, die Saarländerin draußen im Land, ein selbst instabiler Laschet in NRW. Dank ihrer Wirtschaftspolitik hat sie in Europa auch keine zu Hilfe bereite Freunde mehr. Es könnte also Zenit im Übergang zur Dämmerung sein. Wie so oft.
Bleibt die Frage, ob sich nun auch das deutsche parteipolitische System, bis vor kurzem steinhart in gleichbleibenden Umfragen betoniert, verflüssigen wird. Die Angehörigen dieses Systems sollten sich noch mal gut überlegen, ob sie Merkel in dieser Situation wirklich opfern wollen. Sie könnten ähnlich weitersinken, wie die oben erwähnten Leitmedien. Das wäre kein schöner Tod.
Und was machen wir dann?
Wie immer das Informativste zu Merkels Vorgehen bei Günter Bannas.
Und eine exzellente Analyse, die die Subjektrolle der Flüchtlinge angemessen würdigt, hat Gabriela Simon hier bei Telepolis veröffentlicht.
Ein paar Tage später hat es Rüdiger Suchsland, mir vorwiegend als Filmkritiker bekannt, durchaus ähnlich gesehen.
Letzte Kommentare