Der dreiste Mord in aller Öffentlichkeit an der britischen Labour- Politikerin Jo Cox ist der Vorläufige Höhepunkt einer Serie von öffentlich zelebrierter Brutalität, von ungezügelter Wut und immer mehr verrohenden Gesellschaften weltweit, aber vor allem in den bisher von weitgehender Sicherheit und Offenheit geprägten Demokratien. Der Mörder von Cox wird, nach allen, was wir wissen, ein Rechtsextremist und Nationalist sein. 49 Menschen ermordete ein Massenmörder im US-amerikanischen Orlando – er bekannte sich zum “Islamischen Staat” soll aber selbst in dem Schwulen- Lesben- und Transsexuellenclub gewesen sein, in dem er irgendwann das Massaker anrichtete.

In Paris hat vor kurzem ein anderer Täter, der sich auf den “Islamischen Staat” berief, einen Polizisten und seine Frau vor den Augen deren 3-Jährigen Kindes abgeschlachtet. Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker wurde Opfer eines rechtsextremen Attentäters, der sie um ein Haar getötet hätte. Die Bundestagsabgeordneten, die einen türkischen Migrationshintergrund haben, mussten sich in den vergangenen Wochen nicht nur völkisch-rassistische Angriffe des türkischen Präsidenten Erdogan über sich ergehen lassen, sie wurden auch mit Morddrohungen überzogen. Politische Gewalt, die wir Europäer bei den Morden an John F. und Robert Kennedy und Martin Luther King noch fassungslos der amerikanischen Gewaltkultur zuordneten, die mit der RAF in den 70er Jahren zwar auch hier erschien, aber Ursache dafür war, dass sich die Grünen und mit ihnen eine ganze Generation der Gewaltlosigkeit verschrieb, scheint sich immer stärker in unsere Gesellschaft zu schleichen.

Scheinbar grundloser Mord

Aber nicht nur aus im weitesten Sinne politischen Motiven wird gemordet. Der scheinbar grundlose Mord an einem 17-jährigen in Bonn Bad-Godesberg am Rande eines Konzerts hat vor einigen Wochen die regionale Öffentlichkeit verstört. Soweit bisher bekannt geworden ist, hat ein ausgerasteter, einschlägig polizeibekannter 20-jähriger Gewalttäter mit nur einem Schlag und einem Tritt gegen den Kopf gemordet. Wahrscheinlich aus Langeweile oder Spaß an der Gewalt. Rund um die Fußball-Europameisterschaft sind nicht nur befürchtete Terroranschläge, sondern vor allem prügelnde Hooligans das Problem. Diese Woche sind russischen Hooligans sogar in Köln ausgerastet. Weil ihm der Pizzarand zu käsehaltig war, erstach 2014 ein Kunde im Kölner Hauptbahnhof den Pizzaverkäufer. Unvergessen die 22-jährige, Tunce A. die zwei junge Mädchen gegen männliche Übergriffe auf der Damentoilette von McDonalds verteidigte und ihre Zivilcourage mit dem Leben bezahlte. Bei Kreisligaspielen mehren sich die Massenschlägereien und tätlichem Angriffe gegen Schiedsrichter. Eine 2015 vom WDR veröffentlichte Umfrage unter Jurastudenten kommt zu dem Ergebnis, dass ein Drittel der Befragten die Wiedereinführung der Todesstrafe befürworte.

Dabei sei dem Folgenden eines vorausgeschickt: Ein quantitativer Anstieg der Gewaltdelikte findet in der Kriminalstatistik im Bereich rechter, rechtsterroristischer und islamistischer Gewalttaten statt, insgesamt sind die Kriminalitätszahlen seit Jahren weiter rückläufig. Aber die politisch motivierten Delikte steigen besonders qualitativ zweifellos an, ebenso wie die Zahl der Überfälle auf Flüchtlingsheime, die sich von 2014 zu 2015 verfünffacht hat.

Woher kommt der Hass, der Menschen zu Unmenschen macht?

Natürlich tragen islamistische Hetzer und Faschisten zur Verrohung des Klimas bei – aber nicht allein. Der IS hat zu Beginn des Fastenmonats Ramadan am 6. Juni dazu aufgerufen, “die Ungläubigen” anzugreifen und die “Kreuzritter” zu vernichten – damit ist der Westen gemeint, wird deutlich, in welcher Gedankenwelt vergangener Jahrhunderte sich diese Selbst- und Menschenhasser wähnen. Mehrere hundert junge deutsche Salafisten und eine unbekannte Zahl junger Frauen kämpfen derzeit für den “Islamischen Staat” im nahen Osten, ballern, stechen, morden, vergewaltigen, entführen, foltern, hassen oder helfen dabei – kurz, sie tun es ihren nationalsozialistischen Landsleuten von vor 75 Jahren gleich, die als Wehrmacht, Gestapo, SA und SS in Polen, Russland und vielen anderen Ländern unter anderem ideologischen Etikett, aber mit derselben perversen Unmenschlichkeit und aufgrund einer Ideologie der vermeintlichen “Herrenmenschen” gewütet haben. Die “Banalität des Bösen” nannte die große Psychologin Hannah Arendt diese Auswüchse der Brutalität bei ganz normal erscheinenden Bürgern.

Gewalt und religiöser Hass

Der Empfänger des EU- Sacharow- Preises für den Frieden 2015 behandelt in seinen Kliniken Opfer von menschlichen Bestien der Boko Haram und anderer Sekten in Afrika, denen Vergewaltigung nicht genug ist, die ihre Opfer durch Schüsse oder Messerattacken gegen die Genitalien oder noch Schlimmeres, peinigen und verstümmeln. Der Terrorangriff 2015 auf eine Synagoge in Israel, die Zerstörung von Gotteshäusern durch Islamisten und die gezielte Erschießung von nicht des Korans kundigen Menschen in Nigeria zeigen eine seit dem Mittelalter verschwunden geglaubte Dimension des religiösen Hasses und ideologischen Vernichtungswillens. Das, was am Beispiel des IS, Boko Haram oder Al Nusra Front und anderen deutlich wird, ist eine moderne Form des terroristischen Faschismus. Die Art des Denkens findet jedoch in etwas abgewandelter Form und ohne die terroristische Konsequenz, aber tendenziell ebenfalls in Gestalt von Abwertung, Erniedrigung und Verachtung anderer Menschen in den Reden und Handlungen populistischer Politiker und ihrer Hetze auf Minderheiten seine Entsprechung. So ist es eine Verharmlosung, wenn die Mörder von Orlando, von Jo Cox und der Angreifer von Henriette Reker als “Einzeltäter” dargestellt werden, obwohl in jedem der Fälle islamistische oder rechtsextremistische Zusammenhänge erkennbar sind.

Ausdruck politischer Kultur?

Dies wird deutich, wenn man die Frage umdreht: Sind diese Taten etwa ohne den aktuellen politischen Diskurs, das gesellschaftliche Klima, in dem sie stattfinden denkbar? Fehlt möglicherweise inzwischen die zivilisatorische Schwelle, die Verwirrte davon abhält, solche Taten zu begehen? Wie ist die heutige politische Kultur der zunehmenden Gewaltbereitschaft entstanden, wie entwickelt sie sich immer noch weiter?

Wieviel Gewalt kommt aus der Mitte der Gesellschaft?

Vergangene Woche hat der vermutlich in dieser Rolle nicht mehr zu stoppende republikanische US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump in entsetzlicher Weise die Morde von Orlando für seine Hetze gegen Migranten und Moslems missbraucht. Wider besseres Wissen behauptete er, dass man diese Tat hätte verhindern können, indem man die Grenze für alle Muslimischen Einwanderer schließe, obwohl der Täter in den USA geboren ist. Trump lügt und hetzt und stachelt während seiner Veranstaltungen zum Rassenhass, aber auch zu ganz konkreter Gewalt auf, indem er fordert, Kritiker im Publikum, die etwa Tomaten auf ihn werfen wollten, zusammenzuschlagen – er werde schon die Anwaltskosten übernehmen. Das ist eine typische Strategie der modernen Rechtsextremisten und Populisten: Keine direkt justiziablen, aber indirekte Aufrufe zur Gewalt, juristisch kaum fassbar, aber höchst effektiv und vor allem Hass schürend und die Grenzen der menschlichen Wertschätzung missachtend.

Von Trump zu Nazischlägern

Hooligans und Nazischläger spielten sich 2015 in Köln gewaltsam als Verteidiger des Abendlands gegen Islamisten auf und lieferten sich eine Straßenschlacht mit der Polizei. Die rechte Szene rund um die Bonner Neofaschistin Dittmer versuchte nach dem Mord an einem 17-jährigen Jugendlichen, die Tatsache, dass der Täter italienischer Herkunft ist, sofort für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Gerade jenes Pack, das ebenso schnell bereit ist, mit Gewalt gegen Migranten, Flüchtlinge und alles, was ihnen multikulturell erscheint, vorzugehen, spielt sich als Retter abendländischer Werte auf. Das ist nicht nur abscheulich und abstoßend, es zeigt auch, wie sehr inzwischen Gewalt und Gewaltbereitschaft bis in der kleinbürgerlichen Mitte unserer Gesellschaft auf dem Vormarsch sind.

Gewalt britischer Brexit-Hooligans

Ganz ähnlich wie bei rechten Populisten in Deutschland die Strategie der EU-Gegner im vereinigten Königreich, die Hass auf die EU, ihre Institutionen und ihre Politiker geschürt haben. Dies ging einher mit der Hetze gegen Flüchtlinge, Einwanderer und Moslems im Wahlkampf gegen die EU-Mitgliedschaft. Die EU-Bürokraten wurden als Monster, als Kraken und entmenschlichte Feinde dargestellt. An die Stelle sachlicher und begründbarer Auseinandersetzung mit Argumenten traten ideologische Feindbilder, Vorurteile, Lügen und Hetzparolen.

AfD will auf Flüchtlinge schießen

In der selben Reihe stehen die Anmutungen der AfD- Politikerinnen Petry und Storch, die davon reden, auf Flüchtlinge müsse an der Grenze unter Umständen geschossen werden und der rassistische Ausfall des AfD- Gauland gegen Gerome Boateng. Mit Tabubrüchen, die dann verbal wieder zurückgenommen werden, wird rassistisches und gewaltbereites Denken in den Alltagsdiskurs eingeführt, Menschenverachtung enttabuisiert. Die Weigerung von AfD-Abgeordneten, der Baden-Württembergischen Landtagspräsidentin wegen ihrer Abstammung die Hand zu geben, ist eine Form des tätlichen Rassismus, nicht strafbar, aber eine tätliche Beleidigung, auf die diese Rechtsextremisten auch noch stolz sind.

EU-Staaten gegen Flüchtlinge

Die selben Methoden finden parallel in Ländern des ehemaligen Ostblocks Anhänger. Nicht nur die Xenophobie in Ungarn, Tschechien, Polen, Kroatien, von offizieller Seite geschürt, müssen verwundern, denn diese Länder genießen durch ihre EU-Mitgliedschaft und die seit der Blocköffnung gewonnenen Reisefreiheiten einen früher nicht gekannten Kontakt mit der Welt. Um so rüder gehen die Ungarn und andere mit ihren Roma-Minderheiten um, verhalten sich gegenüber Flüchtlingen, als ob diese per se kriminell wären. Unvergessen die demonstrativen Vereidigungen von ungarischen Polizisten, um vorgeblich das “christliche Abendland” zu verteidigen, in Wirklichkeit, um -völlig unchristlich- Flüchtlinge wie Menschen zweiter Klasse zu behandeln und abzuschieben.

In Russland wächst das rechtsextreme Potenzial

Gleichzeitig sprießen in Russland unter der Herrschaft Wladimir Putins und seines Mitstreiters Medwedjew die gewalttätigen Kräfte von rechts und rechts-außen. Homophobie, Kriminalisierung von Schwulen und Lesben, Verfolgung von Minderheiten sind in der russischen Gesellschaft an der Tagesordnung. Ja, Putin spielt mit ihnen, wie die Prozesse gegen Pussy Riot oder die Frauen von Femen sowie die neuen Gesetze gegen Homosexualität zeigen. Putin spielt mit diesen niedrigen Gefühlen und einem sowjetisch anmutenden Nationalismus möglicherweise nur aus taktischen Gründen, um die Wähler hinter sich zu bekommen. Aber er handelt letztlich unverantwortlich, weil er das politische Klima immer weiter nach rechts und in Richtung Nationalismus und russischer Faschisten driften lässt. Nach Putin käme, ist zu befürchten, für Europa nur noch schlimmeres. Ausgrenzung, Hass gegen Minderheiten und andersdenkende bestimmen auch in Russland das gesellschaftliche Klima und die politische Kultur.

 Am Umgang mit ihren Minderheiten bemisst sich die Liberalität einer Gesellschaft

“Ihre Meinung ist genau das Gegenteil der Meinigen – aber ich werde mein Leben daran setzen, dass Sie sie äußern dürfen”. Dieses Zitat von Voltaire, Journalist, liberaler und Revolutionär, markiert eine hohe Stufe der politischen Kultur und Toleranz, von der wir heute wieder Lichtjahre entfernt sind. Wir befinden uns eher auf einer fatalen politisch-kulturellen Rutschbahn vom zivilisierten, verbal ausgetragenen Diskurs strikt abwärts über die bewusst eingesetzte politische Lüge bis hinunter zur gewaltbestimmten Hetze und Propaganda.

Neonazis durchbrachen die zivilisatorische Schranke

Während sich in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg alle Politiker in Europa bemühten, einen besonnenen Diskurs zu führen. Hatte diese Generation doch noch deutlich vor Augen, welche Gewalt von Hetztiraden der Nazis, der italienischen und spanischen Faschisten ausgegangen war und in Menschen hervorgerufen hatte. Selbst ehemalige Nazis wie Hans Filbinger, Carl Carstens, oder Hans Globke bemühten sich um einen demokratischen Stil, wirkten an der Zivilisierung der politischen Kultur mit. Die Erfahrungen dieser Politiker-Generation scheinen heute vergessen zu sein. Es waren Jörg Haider in Österreich und Silvio Berlusconi in Italien, sowie Vater Le Pen in Frankreich, die in den 90er Jahren als erste einen bis dahin ungeschriebenen Konsens der Demokraten zu Wahrhaftigkeit und einer Mindestform von Wertschätzung unter Demokraten unterschiedlicher Richtung durchbrachen. Für sie wurden Lüge und Diffamierung des politischen Gegners und vor allem von Minderheiten zur Selbstverständlichkeit.

Diskurs demokratisiert

Nachdem die Protagonisten der “kritischen Theorie”, Adorno, Horkheimer und Habermas nach1968 den “gewaltfreien Diskurs” in der Öffentlichkeit als Voraussetzung für Demokratie eingefordert hatten, veränderten jedoch in Europa wie in USA Gewaltlosigkeit und der immer stärker von Frauen geprägte Diskursstil die öffentliche Auseinandersetzung und politische Kultur positiv, machten sie wertschätzender und gewaltloser. Von vielen Ewiggestrigen wurde dagegen eine Sprache, die weibliche Sprachform des großen “I”, das Vermeiden von Rassismen und Diffamierungen als Bremse ihrer Ambitionen verstanden und als “Political Correctness” diffamiert.

Das Wachsen der Populisten

Die niederländischen Populisten und Rassisten unter Geert Wilders, der rechte belgische “Flamse Block” und viele rechte Protagonisten der “Jungen Freiheit” definieren und tarnen ihre ideologischen Aktivitäten unter dem Label “politisch unkorrekt”. Aus dieser Ecke entwickelte sich auch in Großbritannien eine Generation von Populisten heran, deren Perversion die rechtspopulistische UKIP- Partei darstellt. In Großbritannien galt bis zur Regierung Margret Thatchers ein ungeschriebenes Gesetz des “Fairplay”. Heute scheint es dies nicht mehr zu geben, wenn man wahrnimmt, mit welchen Lügen und Verleumdungen unter der Gürtellinie sich Protagonisten des “Brexit” äußern. Dabei überschreiten die Darstellungen der EU als krakenhafter und terroristischer Bürokratie jede Schwelle von Fairness, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit. Der Zweck heiligt jedes Mittel. Die AfD in Deutschland und Marine Le Pen in Frankreich tun es ihnen gleich.

Freiheit und Demokratie

Das “wir wollen mehr Demokratie wagen” Willy Brandts war 1969 die Basis einer neuen demokratischen Öffentlichkeit, bevor Helmut Kohl mit seiner “geistig moralischen Erneuerung” den Versuch einer konservativen Wendung der westdeutschen Gesellschaft unternahm – und scheiterte. Kohl gelang es nie, eine Verschiebung des Diskursklimas zum konservativen durchzusetzen, weil die Generation der Grünen, Friedensbewegten, Frauenbewegten, Ökologen und Bürgerrechtler erfolgreich war, mehr Weiblichkeit, mehr Multikulturalismus und mehr Fairness im Diskurs durchzusetzen.

Hass und Gewalt

Dagegen richtet sich heute der ganze Hass der Pegida- und AfD- Ideologen. Minderheiten zu schützen, welcher Art sie auch sind, ist eine liberale Selbstverständlichkeit und ein existenzieller Bestandteil unserer Demokratie. Politiker die als Populisten gegen Minderheiten hetzen oder in Kauf nehmen, dass ihre Reden ganz gezielt missverstanden werden, ist diese Sprache und politische Kultur ein Dorn im Auge. Deshalb ihr Kampfbegriff “Lügenpresse”. Sprache, politische Kultur und ihr Verhältnis zu Gewalt und zum Umgang mit Andersdenkenden und Minderheiten sind der Schlüssel zur Erklärung, was Populisten wirklich wollen und dass sie im Kern Feinde der Demokratie sind. Es geht ihnen nicht darum, wie sie behaupten, “nur ihre Meinung sagen zu dürfen” es geht ihnen um die Zerstörung von Toleranz und Minderheitenschutz, sie handeln frei von Achtung vor anderen Religionen und Kulturen, wollen wie Trump die Dominanz den weißen Mainstream statt bunter Vielfalt.

Was ändert sich gerade im Verhältnis zur Gewalt in Europa?

Wie werden diese Erscheinungsformen von Gewalt analysiert und welche Gegenstrategien werden entwickelt? Bisher keine! Als die Rote Armee Fraktion (RAF) die Gesellschaft der 70er Jahre in Angst und Schrecken versetzte, gab Innenminister Gerhart R. Baum Forschungsprojekte in Auftrag, die die Ursachen für Terror und Gewalt erforschten. Fünf dicke Bände erläuterten die Ergebnisse der Forschungen – in Biografien, Hintergründen, Sozialisation, Gruppen der APO und ihrer Geschichte, Aggressionspotenzial in der Jugend, über soziale Ursachen, die die Motivationen der Jugendrevolte und des Umfelds der RAF antrieben, wie Bodenspekulation und Hausbesetzungen und vieles andere mehr. Diese Analysen eröffneten einen Diskurs auf hohem Niveau, dem wiederum ein soziales Maßnahmenbündel folgte und letztlich Initiativen ermöglichte, die in den neunziger Jahren von Antje Vollmer und anderen Grünen ausgingen und vom BND-Chef Kinkel unterstützt wurden. Heute hält man nach dergleichen vergeblich Ausschau. Vielmehr wird zumeist der politisch kulturelle Hintergrund von Straftaten heruntergespielt. Vom “verwirrten Einzeltäter” ist die Rede, auch wenn wie in Orlando, beim Angriff auf Reker oder bei der EU-Befürworterin Cox ganz klar islamistische und rechtsextremistische Hintergründe bestehen.

Übergriffe

Politische Kulturforschung scheint völlig “out” zu sein. Der Bundesregierung, aber auch Teilen der Opposition scheint es bis hinein in die Grünen keine besseren Ideen als Videoüberwachung, Gesetzesverschärfungen, immer neue Überwachungsdateien und Repression zu geben. Ursachenforschung findet nicht mehr statt, scheinbare Bekämpfung der Symptome durch immer mehr Repression ist das einzig erkennbare politische Signal. Aber auch in Wissenschaft und Medien herrscht Ratlosigkeit und Aktionismus gegenüber den Angriffen der Populisten und rechten Ideologen auf eine offene, multikulturelle und demokratische Gesellschaft vor.

Problemlösungen durch Gewalt

Selbst offensichtlichen Erklärungsansätzen wie der Frage, ob vielleicht doch die immer weiter gewachsene Gewalt in Filmen und Computerspielen, die aus dem angloamerikanischen wie dem Kulturraum der ehemaligen Sowjetunion vorgelebte und bevorzugte Problemlösung durch Gewalt oder Krieg ursächlich für die wachsende Intensität und Brutalisierung bestimmter Delikte sein könnten, wird nicht nachgegangen. “Hau drauf”, und allseitige Überwachung und möglichst hohe Strafen und allem voran der “Kurze Prozess” sind die intellektuellen Highlights der Gewaltbekämpfung im 21. Jahrhundert. Mit immer mehr Gewalt gegen Gewalt – das Konzept kann nicht aufgehen. Die Kriminalpolitik scheint sich auf dem Niveau der amerikanischen Crime- Serien des Privatfernsehens eingependelt zu haben. Kein Wunder, wenn dann die gewaltbereiten Angreifer der politischen Kultur so erfolgreich sind.

 Brutalisierung der Gesellschaften durch “politisch Unkorrekte”

 Einen wichtigen Erfolg haben die rechten Ideologen von AfD, Wilders, Le Pen und auch die UKIP damit erzielt, dass sie sich immer wieder versuchten, zum einen die von ihnen bekämpfte “politische Korrektheit” zu diffamieren “man wird doch wohl noch sagen dürfen dass…” ist eine der Standardformeln, mit denen rassistische und gewaltbereite Vorurteile eingeleitet werden. Hinzu kommt die probate Strategie, sich in eine scheinbare Opferrolle zu begeben. Sie behaupten einfach, die Presse sei einseitig, würde über ihre Positionen nicht hinreichend berichten und sie erzeugen den Anscheinen, sie seien die wirklichen Repräsentanten dessen, was “das Volk” denke. In England spielt die populistische “SUN” eine besonders üble Rolle, sie nimmt heute die Rolle ein, wie während der Studentenunruhen und dem Tod Benno Ohnesorgs die “Bild” Zeitung in der Bundesrepublik.

Medien in der Populistenfalle

Leider gehen zunehmend auch Teile der seriösen und öffentlich-rechtlichen Medien und vor allem gute Journalisten den Propagandatricks der Populisten auf den Leim. Um dem Vorwurf der “Unterdrückung von Ansichten” entgegenzuwirken, haben sich etwa Frank Plasberg, Anne Will und Sandra Maischberger wiederholt thematisch instrumentalisieren lassen, um den Populisten der AfD, Anfang 2015 sogar der “Pressesprecherin” der “PEGIDA”, eine öffentliche Bühne zu bieten. Dabei war deutlich zu beobachten, dass wie ein Boxer, der im Ring keine Fußtritte des Gegners erwartet, die an bestimmte ungeschriebene Regeln gewöhnten Journalisten zunächst überhaupt nicht damit rechneten, dass die Eingeladenen an einer rationalen und argumentativen Diskussion gar nicht interessiert waren, sondern nur ihre Zerrbilder von der angeblichen Zensur transportieren wollten. Sie verkennen bis heute – besonders Frank Plasbergs “Hart, aber Fair” funktioniert nach diesem Muster – dass je krawalliger und kürzer in der Argumentation die Sendung, desto erfolgreicher scheinbar einfache Antworten auf komplizierte Fragen gegeben werden, die Populisten punkten – und lassen sich dabei von Einschaltquoten blenden.

Es ist Verantwortung der Medien, an der Gewaltspirale mitzudrehen oder nicht!

Eine Extremformat des Krawall-TV im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurde jüngst zum Entsetzen von Kritikern von der renommierten Bettina Böttinger im WDR vorgestellt: “Ihre Meinung – Ist das Leben in NRW noch sicher?” und weitere “Ihre Meinung” – Themen. Dabei wurden hundert zufällig ausgewählte Gäste zu einer Sendung eingeladen, die zum Thema Sicherheit einem völlig überforderten Innenminister Jäger und einem Vertreter des “Bund deutscher Kriminalbeamten” jegliche Vorurteile, Xenophobien und schrillen Ängste entgegenwarfen, ohne dass auf diese in seriöser Form eingegangen oder bewussten Vorurteilen und Verzerrungen widersprochen werden wurde. Weder wurden Bürgerrechtler, noch etwa Kriminologen oder erfahrene Wissenschaftler gehört, um auf diese Bedrohungsängste einzugehen – Populismus pur war das Ergebnis. “AfD- TV” nannte dies ein Journalistenkollege. Selbst der routinierten und seriösen Bettina Böttinger musste dieses Sendeformat aus der Hand gleiten.

Gewalt in Hass-Medien

Fernsehdirektor Schönborn jedoch war am Rande der darauf folgenden WDR-Rundfunkratssitzung der Meinung, es handle sich nicht um “Krawall-TV”, sondern eine gelungene Sendung. Offensichtlich halten die Macher dieses Sendeformat für mutig und eine Öffnung des Senders für Basisdemokratie. Darunter verstehen sie vielleicht das, was Grüne Klippschüler Anfang der 80er Jahre darunter verstanden haben und was dazu führte, dass etwa die Nürnberger Indianer-Kommune auf Parteitagen als selbsternannte “Basis” ihr Unwesen treiben konnte. Sie vollziehen in Wirklichkeit nur unkritisch nach, was Facebook und andere ungefilterte neue Medien anrichten: Kaum nachprüfbare Fakten ohne journalistischen Sachverstand, seriöse Quellen ungefiltert gesammelt und ohne Zuordnung und Einschätzung zur Verstärkung der eigenen vorgefassten Meinung in eine diffuse Community zurück gespiegelt. So funktionieren Hass-Medien. Es ist, als hätten erfahrene Medienexperten Nachhilfe in Medienpolitik nötig. Demokratische Öffentlichkeit ist nicht wertfrei – sie soll aufklären, nicht verwirren. Wer als Medienmacher und Journalist lediglich auf die Quote schielt und nicht erkennt, welche Wirkung Medien auf die politische Kultur der Gesellschaft ausüben, hat sein Handwerk nicht im Griff und seinen Verfassungsauftrag als vierte Gewalt der Demokratie nicht verstanden.

Warum gerät die Verfassungskultur nicht nur bei uns ins Rutschen?  

Im “Kalten Krieg” bis 1990 nutzte der Westen den Vorteil, dass er sich rechtsstaatlich gegen die Diktaturen im Osten abgrenzen konnte. Einen ganz wichtigen Grundstein für Rechtsbewusstsein haben die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gelegt. Die schlimmsten Nazi-Schergen wurden eben nicht standrechtlich erschossen, sondern konnten sich vor einem rechtsstaatlichen Gericht verteidigen. Ihre Verurteilungen waren rechtsstaatliche Lehrstücke, nicht zu beanstanden. Spätestens die Kriegführung des Westens im Irak, aber ganz besonders Guantanamo haben die Glaubwürdigkeit der USA und des Westens tiefgreifend erschüttert. Dass Osama bin Laden vor laufenden Kameras ohne Urteil erschossen wurde, bedeutet das krasse Gegenteil der Rechtsstaatlichkeit der Nürnberger Prozesse. Wie ungleich überzeugender als Kugeln im Dunkel einer Kommandoaktion hätte ein rechtsstaatlicher Prozess gegen Bin Laden mit fairer Verteidigung das lädierte Ansehen und die Glaubwürdigkeit der demokratischen Werte gerade nach Guantanamo wieder herstellen können? Mit dem kurzfristig medienwirksamen Showdown hat der Jurist Obama der Gerichtsbarkeit seines Landes und damit der Glaubwürdigkeit der Werte des Westens einen Bärendienst erwiesen.

Kein Asyl für Edward Snowden

Dass der Whistleblower Edward Snowden Asyl in Russland suchen musste, weil er in den USA kein faires Verfahren bekommen wird, ist ebenso peinlich wie zerstörerisch für die innere Verfasstheit und das weltweite Ansehen der Demokratien. Die Feigheit der Bundesregierung, Snowden sicheres Asyl zu gewähren, ja ihn nicht einmal vor den Untersuchungsausschüssen des Bundestages anhören zu wollen, steht damit in einer Reihe. Dabei schadeten die Verantwortlichen nicht nur Snowden, sondern dem Vertrauen in die Gültigkeit der Grundrechte in Deutschland. Viele unterschätzen völlig, welchen Stellenwert Rechtsstaatlichkeit und Legitimität der Verfassungsstaaten für die Glaubwürdigkeit ihrer Politiker haben. Das führt nicht nur dazu, dass es der EU inzwischen schwer fällt, antidemokratische Regierungen wie die des ungarischen Nationalisten Viktor Orban zur Einhaltung der demokratischen Freiheitsrechte anzuhalten, sondern untergräbt auch Ansehen und Respekt vor der Politik allgemein.

Grundrechte müssen auch in der Krise gelten, Probleme kommuniziert werden

Die Flüchtlingskrise 2015 hat offenbart, dass in der Europäischen Union Parteien auf dem Weg zur oder bereits an der Macht sind, die die herkömmlichen Regeln der Menschlichkeit und Zivilisation, die Genfer Flüchtlingskonvention, die sie mit ihrem EU-Beitritt unterschrieben haben, offen und ungeniert brechen, Gesetze nicht befolgen. Die Bundeskanzlerin hat sich dem lange mit ihrem “Wir schaffen das” mutig entgegen gestellt. Sie hatte auch gar keine Alternative, denn ein “Wir schaffen das nicht” wäre einer Kapitulation gleich gekommen. Allerdings hat das Verhalten der CSU nicht nur die Kanzlerin systematisch diskreditiert, sondern den Thesen der Pegida- Anhänger recht gegeben und ihnen damit in die Hände gespielt. Die Kanzlerin hat es ihrerseits aber versäumt, ihre Position wirklich zu erklären. Es wäre wichtig gewesen zu vermitteln, dass unsere für jeden Einzelnen gültigen Grundrechte nur dann funktionieren können, wenn sie vom Staat eingehalten und durchgesetzt werden. Sie hätte viel klarer deutlich machen müssen, dass unsere Verfassung und internationale Menschenrechtsabkommen uns verpflichten, eine humanitäre Aufnahme zu gestalten, auch wenn andere Staaten vertragswidrig handeln.

Flüchtlingsaufnahme unzureichend

Dass die Technik der Flüchtlingsaufnahme insbesondere beim BaMF unzureichend ist und auch eine Änderung durch Frank Weise seine Zeit braucht, dass die IT von Bundespolizei, Landespolizeien und Ausländerämtern bzw. – Zentralregister nicht kompatibel und deshalb dem Ansturm gar nicht gewachsen sein können – all dies hätte kommuniziert werden müssen und viel mehr Verständnis erzeugt, warum mache Prozesse so laufen, wie sie laufen. Stattdessen haben noch im Frühjahr 2016 die Innenminister den BA- und BaMF Chef zum Buhmann erklärt. Noch schlimmer: CSU und Innenminister de Maizière haben sich in unverantwortlicher Weise öffentlich mit populistischen Forderungen übertroffen, die niemand erfüllen konnte. Das hat die AfD und ihre Fremdenfeindlichkeit erst stark gemacht und zum Glaubwürdigkeitsverlust von SPD und CDU beigetragen. Auch Horst Seehofer hat sich dabei der Methoden von Populisten bedient: Wieder besseres Wissen hat er monatelang von der Kanzlerin verlangt, “sie möge die Einwanderung stoppen” – sogar Gefälligkeitsgutachten und abstruse Verfassungsinterpretationen aufgeboten, um seine politische Lüge zu begründen: Die Lüge, dass die Kanzlerin ein Mittel hätte, um den Zustrom der Geflohenen einfach zu stoppen.

Gewalt als Folge von Deklassierungsängsten

 Mediale Sensationsgier, Vereinfachungen und Verkürzungen neigen dazu, Gründe und Ursachen von Gewaltphänomenen auszublenden. Die sozialen Abstiegsängste des Kleinbürgertums, so hat der Historiker Ian Kershaw nachgewiesen, waren für den Sieg der Nazi-Ideologie und der NSDAP in Deutschland in der Weimarer Republik entscheidend. Genau diese spielen heute bei der Anziehungskraft von Erscheinungsformen wie Pegida und AfD für Teile der bürgerlichen Mitte eine wichtige Schlüsselrolle. Es sind Ängste vor sozialem Abstieg, die die Pegidisten mobilisieren, ebenso wie die Wähler von Populisten wie dem Niederländer Wilders sowie Donald Trump in den USA.

Probleme, die der Kapitalismus verantwortet

Innenpolitisch wachsen die Probleme des Kapitalismus drastisch an, weil die Umverteilung von unten nach oben ungebrochen anhält und zudem viele Leistungsträger, Facharbeiter, Selbständige, Kleingewerbetreibende, und leitende Angestellte die Besteuerungspraxis als ungerecht empfinden. Schlechte Unternehmenslenker wie Middelhoff und Bergengruen sowie die Vorstände der Deutschen Bank und von VW machen durch ihr Handeln am Rande der Kriminalität deutlich, dass sie Wahrhaftigkeit, Wertschätzung der Menschen und die Gesetze verachten. Da sind die einen, die sich nicht scheuen, zu täuschen oder wirtschaftlich angeschlagene Unternehmen, in die sie als Investoren gerufen werden, mit miesen Tricks vom Verkauf von Namensrechten bis zum Versilbern der Immobilien noch weiter auszubeuten und keinen Cent eigenen Kapitals aufzuwenden, um sich gleichzeitig als Retter feiern zu lassen. Und die anderen, die dem Profitinteresse alles unterordnen, täuschen, schummeln und pfuschen. Es handelt sich hier um Personen, die – groß geworden in kapitalistischen Oligarchien – ihr Handeln für korrekt halten, weil sie keine Solidarität, keine Demokratie, keinen Umgang mit sozialen und kulturellen Minderheiten kennen, sondern das Leben in abgeschirmten Vorstandsetagen, Reichen-Ghettos, Privatschulen und die Gesetze des Finanzkapitalismus über alles stellen.

Fast niemand formuliert Idee eines besseren Europa, eines faireren Kapitalismus

Die Auseinandersetzung um TTIP und CETA sind ein gutes Beispiel für die Sprach- und Ideenlosigkeit europäischer Politik. Das Gefühl, dass diese Abkommen im Geheimen und gegen die Interessen der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger zwischen der EU und USA bzw. Kanada ausgehandelt werden, entsteht zum einen durch die völlig überflüssige Geheimhaltung, zum anderen mangels klarer Interessenformulierung durch die europäischen Regierungen. Geheimverhandlungen passen nicht mehr in unsere Medienkultur, sind in Zeiten von Open Data, Compliance, Informationsfreiheit und sozialen Netzwerken sytemwidrig. Wer ein Abkommen so vorbereitet, macht sich per se verdächtig. Vor allem, wenn dann publik wird, dass Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten wie die Öffentlichkeit von Gerichten oder der Eingriff in Tariffreiheit und Umweltstandards Gegenstand der Abkommen sein könnten.

Verhandlungen nicht auf Augenhöhe

Viel gravierender noch ist die Haltung Europas und der verantwortlichen Politik bei den Verhandlungen. Statt souverän als Wirtschaftsraum von 500 Mio. Konsumenten den USA die Stirn zu bieten, auf Augenhöhe nicht Verhandelbares wie die Hinterzimmer-Gerichte abzulehnen, Mindeststandards fairer Tariflöhne und Arbeitsbedingungen sowie Umweltstandards als Europäische Errungenschaften der Sozialpartnerschaft voranzustellen und damit Europa eine Gesicht und einen Sinn zu geben, vermitteln die EU und die meisten Regierungschefs, dass wir TTIP und CETA brauchen, damit nicht die großen Geschäfte mit China ohne uns gemacht werden, Europa abgehängt wird und quasi als Bittsteller alle neoliberalen Zumutungen schlucken muss, um dabei sein zu dürfen. Sowohl die sozialdemokratischen Parteien, als auch die Sozialausschüsse der CDU und deren Unternehmerflügel, die für eine soziale Marktwirtschaft eintreten, haben hier strategisch versäumt, sich zu positionieren. Das rächt sich jetzt, denn für ein Europa ohne Gesicht und ohne eigenes ökonomisches Profil und Zukunftsbild lohnt es sich nicht, zu streiten, kann man keine Bürger mobilisieren. Vielleicht bräuchte Europa einen neuen Ludwig Erhardt. Jean-Claude Juncker könnte dies verkörpern, hätte er da nicht mitgewirkt, Luxemburg zur Steueroase zu machen.

Sozial- und Christdemokraten haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht

Die Europakritik, der Populismus und Nationalismus, der mit hässlichen Methoden und niedrigen Beweggründen derzeit in Europa voranschreitet, profitiert letztlich davon, dass SPD und CDU in Deutschland, aber auch Sozialdemokraten und Christdemokraten in Europa es versäumt haben, eine eigenständige Position gegenüber dem US-amerikanischen, zum Teil britischen Neoliberalismus und dem chinesischen Staatskapitalismus sowie den Oligarchien Osteuropas und Russlands zu formulieren. Diesen Formen des Wirtschaftens widersprechen und von ihnen distanzieren sich die Europa befürwortenden Parteien nicht hinreichend und nicht klar genug. Und dies, obwohl Unternehmer und Gewerkschaften zumindest bisher doch eine völlig andere Form der Marktwirtschaft praktizieren, als sie die USA und deren neoliberale Ideologiefabriken vorleben und fördern. So würden die amerikanischen Unternehmensverbände vieles, das BDA/BDI und die Gewerkschaften in Deutschland praktizieren, als “Kommunismus” bezeichnen. Unternehmer mit sozialer Verantwortung wie Trigema- Chef Grupp, würden dort nur hämisch belächelt. Um so bedauerlicher ist, dass das einst als “Modell Deutschland” gepriesene Modell immer weniger Protagonisten findet. Die Idee der sozialen Marktwirtschaft, einst DAS europäische Erfolgsmodell, so scheint es, hat derzeit zwischen den neoliberalen Ideologen einerseits und billigen Populisten andererseits zu wenig Chancen. Das muss sich ändern. Es klingt verrückt: SPD, CDU und die Sozialpartner praktizieren ein erfolgreiches Modell, aber sie reden nicht darüber, sie erkennen selbst nicht die Notwendigkeit, für eine soziale Reform des Kapitalismus zu kämpfen und ihrem Handeln einen Namen zu geben. Sie werfen eine wichtige Errungenschaft der Demokratie weg, die sie zugunsten Europas einsetzen könnten – eine soziale, ökologische Marktwirtschaft ökonomisch und einen sozialen Liberalismus gesellschaftlich und kulturell.

Gewalt und Populismus sind Reaktionen auf eine scheinbar “alternativlose” Politik

In der Krise vor der Volksabstimmung in Großbritannien haben sich die meisten Europapolitiker lieber weggeduckt. Statt offen und offensiv für ein soziales und einiges Europa zu werben, statt zu erklären, dass die britische Forschungslandschaft von 120 Universitäten ohne EU-Mittel nicht lebensfähig ist, welch umfangreiche Zuwendungen auch die britische Landwirtschaft von Europa bekommt, dass die Finanzindustrie Londons nach dem Brexit wie eine Luftblase platzen wird und sich der National Health Service nahezu auflösen würde, wenn Großbritannien die EU verlässt, traute sich in Brüssel niemand zu sagen. Auch Jean-Claude Junker und Martin Schulz, noch in der Griechenland-Krise wichtige Köpfe Europas, blieben weitgehend stumm. Vielleicht könnte dies aber auch damit zusammen hängen, dass Europa seine Rolle in Wirklichkeit bisher als viel zu neoliberal verstanden hat? Wenn das zutrifft, dann muss sich das schnell ändern, sonst ist der Zerfall nicht mehr aufzuhalten.

Mittelschicht schrumpft

In Europa schrumpft wie in den USA die Mittelschicht stetig und trägt damit zur Destabilisierung des gesellschaftlichen Gleichgewichts bei. In Frankreich, Belgien, aber auch in den Metropolen anderer EU-Länder ist das Proletariat bereits zu großen Teilen abgehängt und hat sich, was den Teil mit Migrationshintergrund angelangt, in parallelen Wertewelten organisiert, in denen die strukturelle Gewalt, die die Verlierer in ihre Außenseiterrolle drängt, in direkte Gewalt umschlägt. Sei es familiäre, religiös legitimierte oder in den Herkunftsländern erlernte Gewalt. Die Herkunftsländer können der Mahgreb, die Türkei, aber ebenso Russland und andere Länder des ehemaligen Ostblocks sein. Sprachbarrieren durch misslungene Integration, die heute durch das allgegenwärtige Satellitenfernsehen noch verstärkt werden. So werden Konflikte, wie sie die Politik des autokratischen Präsidenten Erdogan in der Türkei gegen die Opposition und die kurdische Minderheit schürt, auch in die Länder der EU exportiert, zuletzt durch die Bedrohung von Bundestagsabgeordneten. Aber anders, als Populisten behaupten, sind nicht die Vielschichtigkeit und Multikulturalität das Problem, sondern Armut und soziale Perspektivlosigkeit.

Sozialer Aufstieg ist immer eine Alternative

In der alten Bundesrepublik ging es um die Chancen der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet, im Saarland oder Ostbayern, heute besprechen wir die Chancen des sogenannten Prekariat, unterprivilegierte Schichten, Hartz-IV Empfängern in 2. und 3. Generation. Aus diesen Schichten kommen Menschen, die sich Pegida zuwenden, aber auch Jugendliche, die sich religiösen Extremisten zuwenden. Sie blieben besonnen, solange sie darauf hoffen konnten, dass es ihren Kindern einmal besser gehen könnte. Heinz Kühn und Johannes Rau haben in den siebziger Jahren durch Hochschulbau und Strukturwandel in NRW soziale Geschichte geschrieben, einer ganzen Generation Zukunftschancen eröffnet, zum sozialen Frieden und gesellschaftlichen Ja zur sozialen Marktwirtschaft beigetragen. Dieser Konsens, diese Perspektive und diese Hoffnung werden derzeit nicht vermittelt. Ganz sicher sind die – manchmal nur subjektiv empfundene – bedrückende Ausweglosigkeit, die permanente Krise, stagnierende Löhne und Sozialabbau gepaart mit der “Alternativlosigkeit” der EU-Reformen, die Griechenland und andere Länder verkraften müssen, der Stoff, aus dem die täglichen Unsicherheiten gemacht sind, aus denen sich Wut entwickeln kann und unter Anleitung von Populisten oder gar Islamisten ihre Auswege und unschuldigen Opfer oder Sündenböcke sucht.

soziale und demokratische Integration

Zur notwendigen sozialen Integration muss auch die demokratische Integration erfolgen. Zuwanderung auch aus anderen Kulturkreisen und mit anderen Religionen ist nicht das Problem: Der Konsens über die Werte des Grundgesetzes in Deutschland, zur französischen Verfassung, der EU-Verfassung und einer säkularen Staats- und Verfassungsordnung und über Toleranz und Vielfalt müssen universell gelten und aktiv vermittelt und gelebt werden. Von Frankreich bis Ungarn bedarf es solcher Anstrengungen und kommt diese Frage mit Sicherheit immer wieder auf die Tagesordnung. Das Abhängen bestimmter Stadtviertel wie den Banlieues in Paris, Marseille oder Brüssel oder von Neonazis beherrschter “befreiten Zonen” im Osten Deutschlands darf nicht zugelassen werden. Das beginnt bei sozialen Hilfsprogrammen, Aussteigerprogrammen für Islamisten und für Neonazis und geht bis zur Wiederbelebung der kriminalpräventiven Räte. Intensivierung des Jugendaustauschs in Europa und die Reaktivierung von Städtepartnerschaften in der neuen, der größeren EU können sich fremd sein und fühlen beseitigen – und warum eigentlich nicht die Wiedererweckung von “Spiel ohne Grenzen”, das Millionen Fernsehzuschauer, als die EU noch EWG hieß lehrte, dass große Mengen von Schmierseife erheblich mehr zur Völkerverständigung beitragen können, als populistische Vorurteile.

Alternativlosigkeit befördert Hilflosigkeit und Gewalt

Die Ursache der alltäglichen Gewalt in den täglich erlebten Ohnmachtserfahrung vieler Menschen zu erkennen, die sich als Mitglieder bildungsferner und einkommensschwacher oder von Abstiegsängsten geprägter Schichten von der etablierten Politik verraten fühlen, ist eigentlich nicht so schwer, wenn man in Betracht zieht, dass strukturelle Gewalt geeignet ist, direkte oder personale Gewalt zu evozieren. Vereinfacht ist politische Alternativlosigkeit, die nicht erklärt, was die Alternativen sind, nur eine politische Form struktureller Gewalt. Sie ist Ursache von Unzufriedenheit und erzeugt möglicherweise Gegengewalt. Alternativlosigkeit ist nicht demokratisch, denn die Demokratie lebt von Alternativen. Wer eine möglichst gewaltfreie Gesellschaft will, muss aufhören, Alternativlosigkeit zu predigen. Politik muss wieder Alternativen aufzeigen und Wahlmöglichkeiten schaffen. Sonst schaffen sie die Populisten. In der Demokratie gibt es aber immer eine Alternative.

 

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net