Und EU-Politiker in alten Verstrickungen

Die Brexit-Initiatoren haben Rassismus befördert, sozial Schwache betrogen und stehlen sich nun aus der Verantwortung. Tories und Labour arbeiten derzeit innerparteiliche Intrigen ab, statt die Zukunft Großbritanniens zu gestalten. Johnson und Farage kneifen, die Labour-Rechte hat gegen den populären Vorsitzenden Corbyn zu revoltiert. Die junge Generation demonstriert gegen die unverantwortlichen Alten, während Juncker und Co. ebenfalls nicht verstanden haben, dass TTIP und Ceta und mangelhafte Demokratie den Tod der EU verursachen. Die Parteien Europas dürfen nicht so weiter machen, sondern müssen zehn wichtigen Fragen stellen und beantworten, bevor es die Populisten tun.

Der Brexit hat, das ist schon wenige Tage nach der Volksabstimmung deutlich geworden, nicht nur eine für Europa und die Briten selbst eher schlechte Entscheidung gebracht. Er hat möglicherweise Großbritannien tief gespalten und Kräfte freigesetzt, mit denen niemand so gerechnet hatte. Zeitungen und das Internet berichten jetzt von rassistischen Übergriffen und Attacken auf farbige englische Bürger, denen von Nachbarn Postkarten in den Briefkasten gesteckt werden, sie mögen nun endlich das Land verlassen oder denen gar verbale Beleidigungen ins Gesicht geworfen werden. Es herrscht in Teilen des Landes eine Art Pogromstimmung. Das ist zweifellos das Ergebnis einer rechtsextremistischen Hetze, die die Schlussphase des Wahlkampfes gezeichnet hat und zum Tode der Labour-Abgeordneten Jo Cox führte. Wir erleben, auch wenn das die Öffentlichkeit noch immer nicht wahrhaben will, die Folgen einer teilweise faschistoiden und rassistischen Kampagne, die in manchen Facetten an die Verhältnisse in Deutschland vor der Machtergreifung der Nazis erinnert. Wohlgemerkt – nicht der Austritt aus der EU soll hier als per se als Akt diskreditiert werden, sondern die rassistische und völlig aus dem Ruder gelaufene Begleitkampagne um Fremde und Einwanderung.

Nur wenige Tage nach dem britischen Beschluss werden damit die krisenhaften Ursachen der Misere Europas deutlich. Wer die Debatte über den Brexit im Europaparlament verfolgte, konnte sehen, mit welcher niveaulosen Chrakterlosigkeit Nigel Farage, einer der geistigen Brandstifter des Brexit, auf die Frage des EU-Präsidenten Juncker reagierte, was er denn noch hier im Europaparlament mache. Sicher eine überspitzte Rhetorik, aber anstatt politisch zu antworten, konnte Farage nur dumm feixen und das gesamte Parlament als Menschen beschimpfen, die noch nie im Leben etwas gearbeitet hätten. Darin kommt die ganze rechtsextrmistische Verachtung demokratischer Institutionen zum Ausdruck, die wohl zu UKIP gehört, wie zu anderen Rechtsextremisten. Dass die Polemisierer gegen die EU keinerlei Verantwortung zu übernehmen bereit sind, hat sich bereits am Tage nach dem Brexit gezeigt, als Farage seine ersten politischen Versprechen, das Gesundheitssystem zu stärken, abgeräumt hat. Wie er zugeben musste, waren die wöchentlichen 350 Mio. Pfund, die angeblich an die EU gezahlt würden, schlichweg gelogen. Aber das ist für Farage bereits Vergangenheit, er hat sich aus der politischen Verantwortung davongestohlen, will aber sein mit 14.000 Euro monatlich dotiertes Mandat im Europaparlament behalten. Auch sein Brexit-Kumpan Boris Johnson, einst Bürgermeister von London, hat sich bereits “vom Acker gemacht”. Es scheint ein Markenzeichen der Populisten zu sein, dass sie ihre Anhänger belügen und betrügen, um sie zu bestimmten Voten zu verführen und sich dann aus der Verantwortung verabschieden.

Dass es überhaupt so weit kam, ist die Verantwortung des neoliberalen Flügels der Tories und die von David Cameron. Er hat durch seine ständigen Angriffe auf Europa, seine Haltung, die zwar verbal erklärte, in Europa bleiben zu wollen, gleichzeitig aber die unsinnigsten Privilegien der Finanzkonzene und der z.T. amerikanischen Großindustrie zu fordern, in den letzten Jahren permanent das Signal ausgesendet, dass Europa schlecht, an allen binnenverschuldeten Miseren des UK schuld sei, und damit im Prinzip die UKIP und Torie-Gegner Europas in ihrer Haltung durch Körpersprache bestärkt. Ideologiekritisch gesehen hat er als Regierungschef das britische Proletariat oder Prekariat verhöhnt, indem er zur Verbesserung ihrer sozialen Lage keinen Finger gerührt und alle Verantwortung dafür nach Europa abgeschoben hat. Das – dies ist ein aufklärerischer Teil des Brexit – wird in Zukunft so nicht mehr funktionieren. Ursächlich jedoch war, dass seit Margaret Thatcher, die das Land entindustrialisiert hat, die britische Arbeiterklasse verarscht, marginalisiert und verhöhnt worden ist. Das (oder die) hat sich nun gerächt. Allerdings wird weiterer sozialer Abriss folgen, ist zu befürchten.

Cameron hat ohne Not dieses Referendum durchgeführt, um innerparteiliche Gegner, wie er hoffte, zum Schweigen zu bringen. Ein Kampf politischer und sozialer Eliten auf dem Rücken der Armen.

Er ist für die Spaltung des Landes an führender Stelle verantwortlich. Diese Spaltung geht tiefer, als durch die Landesteile des Vereinigten Königreiches, die sich vielleicht über diese Entscheidung trennen werden. Der Riss geht durch die Regionen, zwischen Nordengland und London, quer durch alle Schichten, verläuft zwischen jung und alt, zwischen Volk und Parlamentsmehrheit, quer durch Tories und Labour und ist eine Gefahr, jede Form von Solidarität und Gemeinsamkeit, jenen berühmten britischen “Common Sense” im Kern zu zerstören. Das Land wird sich neu erfinden müssen. Aber es ist mehr als zweifelhaft, ob dies unter einer Regierung der Tories möglich ist. Deren Finanzminister hat eine Woche nach dem Brexit bereits gezeigt, wohin die Reise geht: Er will die Körperschaftssteuer für internationale Konzerne von 25% auf 15% senken, um diese im UK zu halten und dafür rigide Einsparungen im Schul- und Sozialsystem vornehmen – so meldeten die “Tagesthemen” am 4.7.2016 . Noch mehr Neoliberalismus und soziale Ungerechtigkeit als Konsequenz aus dem Brexit. Ob das die Arbeitslosen und Rentner in Nordengland angestrebt haben, als sie mehrheitlich für den Brexit stimmten?

Aber wenige Stunden nach dem “Brexit” zeigt auch Jean-Claude Juncker, der sich derzeit als strenger EU-Präsident verkauft, indem er die Briten zum schnellen Austritt mahnt, dass er nichts aus dem Brexit und seinen Ursachen gelernt hat. Er erklärte das EU-Kanadische “Frei”-handelsabkommen CETA kurzerhand für eine reine EU-Angelegenheit, über die zwar das Europäische Parmanent, aber weder die nationalen Regierungen, noch die Regionen – in Deutschland sind das die Landtage – verabschiedet werden könne. Er zeigte damit, dass er prinzipiell bereit ist, den Kurs rücksichtslosen neoliberalen Wirtschaftens und finanzpolitischer Austerlitätspolitik weiter zu führen. Er verkennt dabei, dass es gerade jene Geheimnistuerei um real auf Grundrechtsabbau und Demokratiezersetzung gerichteten internationalen Handelsabkommen wie TTIP ind CETA sind, die die EU weiter in die Krise treiben, nicht einmal so sehr, weil sie gegen europäische Interessen zugunsten der multinatinalen Konzerne verstoßen, sondern weil sie im Wege eines zutiefst undemokratischen und durch Geheimniskrämerei geprägten Verhandlungsprozesses zustande kommen sollen. Das ist mit einer freiheitlichen Informationsgesellschaft, mit Informationsfreiheitsgesetzen und “Open Data” einfach unvereinbar. Um diesen Prozess der “alten Europa des Kapitals” umzudrehen, bedarf es anderer Mittel als eines von verantwortungslosen Populisten durchgeführten “Brexit”.

Wie die rechten Chaoten der Tories im britischen Parlament nun weitermachen wollen, ist noch nicht absehbar – im Moment spielen sie auf Zeit. Fünf KandidatInnen für die Nachfolge von Cameron werden zunächst auf zwei eingedampft werden. Dann wählt die Partei aus Kandidaten, die möglicherweise selbst den Brexit nicht wollten. Man bekommt den Eindruck, dass es innerhalb der Tories um alles mögliche ging, aber nicht um den Brexit. Innerhalb von Labour ist es noch schlimmer. Deren Parteivorsitzender Jeremy Corbyn wurde im September 2015 mit über 66% zum Parteivorsitzenden gewählt. Er ist volksnah, verkörpert die alten sozialdemokratischen Werte der Labour Party und hat beste Kontakte zu den Gewerkschaften. Er hat sich in der Brexit-Kampagne weitgehend herausgehalten, weil er einserseits eine erhebliche Kritik an der EU, was das Soziale angeht, teilt, aber andererseits die platten und rassistischen Kampagnen der UKIP und Boris Johnson’s und anderer nicht teilen konnte. Diese Haltung nutzt nun die mehrheitlich der “New Labour” Tony Blairs anhängende Fraktion im Unterhaus, um den durchaus populären Corbyn durch innerparteiliche Intrigen zu stürzen. Das geht laut Insdern so weit, dass die Parlamentsfraktion überlegt, ob sie der Partei die Marke “Labour Party” entziehen und in die Gründung einer neuen, sozialdemokratisch-neoliberalen Partei überführen kann.

Inzwischen demonstrieren in London und anderen Städten Großbritanniens zehntausende vor allem junge Menschen gegen den Brexit und die Folgen. Sie fordern eine Wiederholung des Referendums und vor allem Neuwahlen. Eine Wiederholung des Referendums wäre möglich, ist aber wohl demokratisch zweifelhaft. Aber die Proteste der jungen Generation können und dürfen nicht übersehen werden. Unzweifelhaft sind die Argumente für Neuwahlen, die darauf setzen, dass nach dem Brexit-Votum und den Begleitumständen in den Parteien niemand im Parlament und der Regierung eigentlich eindeutig legitimiert ist, die weiteren Verhandlungen zu führen. Wenn sich nun die Parteien gegen Neuwahlen wehren, machen sie deutlich, dass es ihnen nicht ernsthaft um einen politischen Neuanfang geht und dass sie keine Perspektive anbieten können. Das gilt für England und Wales – die anderen Landesteile des Vereinigten Königreischs scheinen wesentlich mehr Führung und Geschlossenheit im Bezug auf den Brexit aufzubringen.

Die schottische Erste Ministerin hat in Brüssel deutlich gemacht, dass Schottland in der EU verbleiben möchte und sie kündigte an, alle dafür möglichen Mittel einzusetzen. Das wird am Parlament nicht spurlos vorbei gehen. Großbritannien hat keine geschriebene Verfassung – Schottland hat zwar kein Vetorecht, könnte aber eine Volksabstimmung in zweiter Auflage durchführen lassen, mit der sich der Norden des UK zur EU bekennen würde. Diese Wendung des Nationalismus ist es, die in Großbritannien zerreißen kann. Die EU-Dissidenten hätten dann die Marginalisierung von England und Wales gegenüber dem Rest der EU erreicht.

Aber wie aussichtsreich sind die Hoffnungen, die Europäische Union wirklich zu demokratisieren, anstatt sie den Lobbyisten, den neoliberalen Kapitalinteressen, der Finanz- und Anwaltsindustrie zu überlassen oder besser: ihnen aus den Händen zu nehmen? Jene haben in der EU das Sagen, die internationale Vermögen durch die Spekulation und Wetten über heiße Luft verschieben und neuerdings mittels der internationalen Anwaltsindustrie Staaten mit Hilfe von TTIP und CETA verklagen möchten, wenn diese mit Mindestlöhnen, sozialen Sicherungssystemen, gerechte Arbeitszeiten und Schutzregelungen sowie Umweltstandards dazu betragen, dass internationale Konzerne keine freie Fahrt haben. Noch vor wenigen Jahrzehnten wären Politiker, die solche Abkommen aushandeln, wegen Hochverrrats von ihren Heimatländern vor Gericht gestellt worden. Heute sitzen die Funktionäre des Neoliberalismus in der EU-Kommission und fühlen sich prima. Und deren Handlungen und Pläne sind es immer wieder, die nicht nur punktuell von Grünen – wenns mal um Gentechnik oder Pflanzengift geht – sondern grundlegend auch von den Linken und Sozialdemokraten und eigentlich auch von sozialliberalen Kräften, die es ja im Europa außerhalb von Deutschland noch gibt, deutlich hinterfragt und in Frage gestellt werden müssten. Aber bisher passiert hier nichts.

Klar ist, dass es nach dem Brexit so nicht weiter gehen kann mit der EU, weil sie ihre demokratischen Hausaufgaben nicht gemacht hat. Wann, wenn nicht jetzt, besteht die Chance auf eine europapolitische Debatte? Die folgenden Fragen stehen dabei auf der Tagesordnung:

Erstens: Wieviel Europa brauchen wir, welches haben wir und welches wollen wir in Zukunft?

Zweitens: Welches sind die gültigen Grundwerte Europas und gibt es eine gemeinsame Basis von 27, 28 oder viel weniger Ländern – ist es eine Verfassung und wie kann die aussehen?

Drittens: Auch innenpolitisch müssen wir deutschen uns fragen, ob Deutschland nicht durch die Rolle der Kanzlerin im Griechenland-Konflikt, aber auch beim Brexit die Zurückhaltung aufgegeben hat, die uns besser zu Gesicht stünde?

Viertens: Gehen wir zurück auf den Vorschlag von Otto Graf Lambsdorff eines “Europa der zwei Geschwindigkeiten”? Geben wir den südlichen Staaten mehr Luft von der Austerlitätspolitik der Finanzminister?

Fünftens: Gibt es eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, die mehr ist, als Buchstaben auf geduldigem Papier?

Sechstens: Wie können wir die Grund- und Freiheitsrechte in der ganzen EU zur Geltung bringen?

Siebentens: Was bedeutet Europa mehr, als Euro, Reisefreiheit und Binnenmarkt, wie kann der zivile Dialog der Austausch der Menschen aus den Mitgliedsländern verbessert im Alltag erfahrbar und praktisch intensiviert werden?

Achtens: Können wir gegen Denkverbote daran denken, dass allein Europa, nicht aber die Einzelstaaten z. B. der Spekulations- und Finanzindustrie Ketten anlegen könnte und würde dies die Menschen für Europa zurück gewinnen?

Neuntens: Kann eine europäische, wirklich soziale Marktwirtschaft als Modell Gestalt annehmen und einen neuen Gesellschaftvertrag begründen?

Zehntens und wichtigstens: Welche eigenständige Rolle kann Europa im Wettbewerb der Systeme als Gegenmodell zum US-Neoliberalismus, zur Oligarchenwirtschaft Russlands, dem totlitären Staatskapitalismus Chinas und der Tiger-Staaten sowie zu den Ausbeutungssystemen der dritten Welt entwickeln? Kann Europa den potenziell unfreien und ungerechten Systemen als ein funktionierendes und glaubwüdiges demokratisches Modell dienen?

Diese Fragen stehen jetzt auf der Tagesordnung. Sie könnten auch den kommenden Bundestagswahlkampf beherrschen. Stellen sie nicht die demokratischen Parteien, werden sie die Populisten beantworten. Mit einfachen, eingängigen Verführungsformeln die Gesellschaften spalten und sich anschließend aus der Verantwortung stehlen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net