von Peter Clausing
Zwei Dinge kommen in den Sinn, wenn in diesen Tagen Glyphosat erwähnt wird. Erstens sind es die Tragödien, die sich in den Sojawüsten Südamerikas abspielen. Zweitens ist es die öffentliche Auseinandersetzung um die weitere Genehmigung dieses Pflanzengifts in der Europäischen Union.
Der Stoff gilt als „wahrscheinlich krebserregend beim Menschen“, doch während in Europa maximal zwei Kilogramm pro Hektar ausgebracht werden dürfen und mit Bodengeräten gearbeitet wird, werden in Argentinien, Brasilien und Paraguay 10-12 Kilogramm pro Hektar mit dem Flugzeug versprüht. Im Jahr 1996 wurde in Südamerika erstmals gentechnisch veränderte, glyphosat-resistente Soja angebaut. Parallel zum Entstehen der „Sojarepubliken“ kam es zu einem Anstieg der Zahl von Fehlgeburten bzw. Gesundheitsschäden bei Neugeborenen sowie von Krebserkrankungen, besonders in jenen Ortschaften, die in unmittelbarer Nähe zu den Feldern liegen. Dessen ungeachtet wurde Glyphosat bislang weder in Europa noch in Lateinamerika verboten. In der EU ist man diesem Ziel inzwischen ziemlich nahe gekommen. Dort endete die Genehmigung am 30. Juni 2016 und die zuständige EU-Kommission sprach nicht die von der Industrie erhoffte 15-jährige neue Genehmigung aus, sondern verlängerte unter dem Druck der Ereignisse die derzeit gültige Genehmigung provisorisch bis zum 31. Dezember 2017.
In der EU ist die Genehmigung von Pestizidwirkstoffen in der Verordnung 1107/2009 geregelt, der zufolge alle zehn bis 15 Jahre eine erneutes Genehmigungsverfahren ansteht, wobei alle in diesem Zeitraum neu hinzu gekommenen Erkenntnisse berücksichtigt werden sollen. Die Genehmigung der Wirkstoffe mit bestimmten Stoffeigenschaften (krebserregend, erbgutschädigend, reproduktionstoxisch) ist grundsätzlich verboten, wenngleich bestimmte „Exitklauseln“ ein paar Hintertüren offen lassen. Bei Anerkennung der Stoffeigenschaft „wahrscheinlich krebserregend beim Menschen“, wie sie von der IARC, der Krebsagentur der Weltgesundheitsorganisation, vorgenommen wurde, ist die weitere Genehmigung von Glyphosat in der EU grundsätzlich verboten.
Im Gegensatz zur EU gibt es in Argentinien, Brasilien und Paraguay keine eigenen Verfahren zur Risikobewertung von Pestiziden. Die dortigen Behörden orientieren sich an den Festlegungen anderer Weltregionen und das trotz starker Unterschiede in den Anwendungsbedingungen und bei unzureichender Überwachung des Einsatzes. Gerade deshalb wäre ein Glyphosatverbot in der EU ein wichtiges Signal für diese Länder. Wenn nachstehend die Schwierigkeiten bei der Erreichung eines solchen Verbots in Europa beschrieben werden, dann auch in der Absicht, die in Südamerika erreichten (Teil)erfolge zu würdigen, die unter deutlich schwierigeren Rahmenbedingungen zustande kamen. Denn selbst in der EU mit – auf dem Papier – stringenter Gesetzgebung, mitgliedsstarken Umweltschutzorganisationen und zahlreichen Fakten, die eindeutig für ein Glyphosatverbot sprechen, haben sich die Behörden unter dem Druck der Industrielobby einem Verbot bisher widersetzt.
Der Verweigerungshaltung der deutschen und europäischen Behörden standen seit März vorigen Jahres die Einschätzung der IARC (Krebsagentur der Weltgesundheitsorganisation) und ein immer stärker werdender zivilgesellschaftlicher Protest gegenüber. Doch für sich allein genommen hätten weder die Bewertung durch die IARC noch der Protest der Zivilgesellschaft die weitere Genehmigung von Glyphosat ernsthaft behindert. Erst die Kombination aus dem Gutachten einer renommierten internationalen Institution und der zivilgesellschaftlichen Mobilisierung, an der zuletzt 39 europäische NGOs und Hunderttausende Bürger beteiligt waren, führte zu dem oben beschriebenen Teilerfolg. Bei den Abstimmungen der zuständigen EU-Expertengruppe kam aufgrund von Gegenstimmen und Enthaltungen einer Reihe von Mitgliedsländern trotz vier Abstimmungsrunden keine Mehrheit zustande, so dass die Entscheidung schließlich dem zuständigen EU-Kommissar zugeschoben wurde. Dieser wiederum setzte die Entscheidung bis zum 31. Dezember 2017 aus. Einerseits, um die Bewertung durch eine zweite EU-Behörde, der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA), abzuwarten, vermutlich aber auch in der Hoffnung, dass bis dahin die Protestfront bröckelt. Das Urteil der ECHA, ob Glyphosat mit dem Etikett „wahrscheinlich krebserregend“ zu kennzeichnen ist, wird also im Laufe des Jahres 2017 fallen.
Sowohl der Bewertungsbericht für die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), der Gegenstand der Auseinandersetzung in den vergangenen Monaten war, als auch der Bericht für die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) wurde vom deutschen Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) erstellt. In beiden Fällen lautet die Einschätzung, dass von Glyphosat keine Krebsgefahr ausgehe. Dabei war die Ignoranz des BfR gegenüber den wissenschaftlichen Fakten so groß, dass in diesem Frühjahr mehrere NGOs Strafanzeige gegen das BfR und die antragstellenden Chemieunternehmen wegen „wissenschaftlichen Betrugs und Fälschung“ erstatteten. Dies geschah zwar mehr mit Blick auf die Medien als in der Erwartung, dass Ermittlungen aufgenommen werden (man erinnere sich an die Verschleppungstaktik der Staatsanwaltschaft bei den illegalen Waffenexporten von Heckler & Koch). Doch die Tatsache, dass sich das BfR daraufhin still verhielt und keine Verleumdungsklage einreichte, spricht Bände.
Im Kern geht es bei der Anzeige darum, dass es laut geltenden Richtlinien genügt, wenn bei einem chemischen Stoff in zwei unabhängigen Tierversuchen eine erhöhte Krebsrate festgestellt wird, um diesen als „wahrscheinlich krebserregend“ einzustufen und – im Fall von Pestiziden – zu verbieten. So würden die Behörden ihrer gesetzlich verankerten Vorsorgepflicht nachkommen. Da Glyphosat seit vielen Jahren nicht mehr dem Patentschutz unterliegt, wurden inzwischen von einer ganzen Reihe von Unternehmen die gesetzlich vorgeschriebenen Langzeitversuche durchgeführt, um eine Zulassung ihrer Produkte zu erreichen. Insgesamt standen dadurch neun Krebsstudien an Ratten und fünf an Mäusen zur Auswertung zur Verfügung. Dabei wurden in zwei der Rattenstudien und in allen fünf Mäusestudien signifikant erhöhte Krebsraten festgestellt. Um sich der Anerkennung dieser Befunde zu entziehen, wurden vom BfR „Gegenbeweise“ ins Feld geführt. Keiner dieser vermeintlichen Beweise, mit denen das BfR versuchte die Relevanz der Krebsbefunde in Frage zu stellen, ist vom Inhalt stichhaltig. Die Strafanzeige wurde also erstattet, weil das BfR nicht nur die Krebsbefunde an sich ignorierte, sondern mit verzerrten Argumenten und gefälschten Tatsachen aktiv versuchte an der Missachtung der vorliegenden Beweise festzuhalten. Das betrifft einerseits die Art der mathematisch-statistischen Datenauswertung: So gibt es etwa Methoden, um Krebseffekte als nicht signifikant erscheinen zu lassen, ein laut geltenden Richtlinien unzulässiges Vorgehen. Zum anderen behauptete das BfR, die Befunde seien „zufällig“, weil in den verschiedenen Versuchen angeblich nicht immer wieder der gleiche Krebstyp beobachtet wurde. Tatsache ist jedoch, dass Lymphdrüsenkrebs in drei qualitativ hochwertigen Mäusestudien nachweisbar war, während die zwei Studien ohne Effekt, die das BfR als Beleg für eine fehlende Reproduzierbarkeit ins Feld führte, eine vom BfR herunter gespielte mindere Qualität aufwiesen. Schließlich wurde vom BfR über eine angebliche Virusinfektion bei einer der Mäusestudien spekuliert, ohne Belege dafür zu haben. Außerdem wurde behauptet, dass die Krebseffekte von Glyphosat ausschließlich in extrem hohen Dosierungen auftreten würden. Abgesehen davon, dass dies nicht zutraf, würde dieser Tatbestand laut geltender Richtlinie kein Ausschlusskriterium darstellen.
Im öffentlichen Diskurs vermischen BfR und EFSA gern die Begriffe „Risiko“ und „Gefahr“, um zu suggerieren, es wäre korrekt gearbeitet worden. So ist auf der BfR-Website einer Mitteilung vom 19. Mai 2016 zu entnehmen, die IARC habe „nur einen ersten Schritt der gesundheitlichen Risikobewertung durchgeführt“, der sowohl vom BfR als auch von den europäischen Bewertungsbehörden „vervollständigt wurde“. Hier wird der Eindruck erweckt, BfR und EFSA hätten eine gründlichere Bewertung vorgenommen als die IARC. Richtig, der „erste Schritt“, den die IARC vornahm, war die Bewertung der Gefahr, die von Glyphosat ausgeht. Ein Schritt, den das BfR verweigert. Unter Leugnung der Krebsgefahr wird vom BfR dann eine Risikobewertung vorgenommen. Dabei ist der Unterschied zwischen Gefahr und Risiko nicht schwer zu verstehen. Ein Risiko ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gefahr tatsächlich eintritt. Im öffentlichen Diskurs verschweigt das BfR das grundsätzliche Genehmigungsverbot für Pestizide mit einer Einstufung als „wahrscheinlich krebserregend“. BfR und EFSA haben die Bewertung der IARC also nicht „vervollständigt“, wie das BfR behauptet, sondern diese verworfen, was den Weg zu einer völlig anderen, verharmlosenden Schlussfolgerung frei machte.
Der Umgang mit Glyphosat ist ein Lehrstück über das Verhalten von Behörden unter dem Druck der Industrie. In der erwähnten Mitteilung vom 19. Mai heißt es, alle beim BfR Beschäftigten seien verpflichtet, Regelungen zur „Unbefangenheit, Effektivität, Sachkunde und Korruptionsprävention“ einzuhalten, „wie sie von den deutschen Gesetzen“ vorgegeben seien. Natürlich ist es naiv sich vorzustellen, dass die Vertreter der Industrie beim BfR einmarschieren und dessen Beschäftigten sagen, was sie zu schreiben hätten. Aus der Amtszeit von Gerhard Schröder ist bekannt, dass Topmanager von Europas größten Konzernen Direktzugang zum Bundeskanzler hatten. Sollte sich unter Angela Merkel daran etwas geändert haben? Man kann davon ausgehen, dass sich „Bedenken“, die von Spitzenvertretern der Wirtschaft im Kanzleramt geäußert werden, im BfR entsprechende Wirkung zeigen. Merkels Ankündigung auf dem CDU-Agrarforum am 18. August, dass sie sich „auf wissensbasierter Grundlage“ für eine Weitergenehmigung von Glyphosat einsetzen werde, geht jedoch in eine andere Richtung. Es ist eine Kampfansage an Umweltministerin Hendricks (SPD), die sich gegen eine solche Genehmigung wehrt – ein wesentlicher Faktor im Abstimmungs-Patt auf EU-Ebene.
Indirekt wird 2017 also auch für Südamerika ein wichtiges Jahr. Es bleibt zu hoffen, dass die europäische Zivilgesellschaft genügend Kraft entfaltet, um den wissenschaftlichen Fakten gegen den Widerstand von SpitzenpolitikerInnen Geltung zu verschaffen.
Peter Clausing ist Toxikologe und arbeitet im Vorstand des Pestizid Aktions-Netzwerks e.V.
Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift “ila 398 Sept.2016” und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung ihrer Redaktion.
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